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Alt 24.09.2022, 20:54   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Es war einmal ...

"Fuck you!" Die Nummer auf dem Display meines Mobilphones kannte ich nur zu gut, und ihr bloßer Anblick ließ meinen Adrenalinspiegel in die Höhe schießen. Die letzte Auseinandersetzung zwischen Andreas und mir wäre auch ohne Telefon weithin hörbar gewesen. Sie endete mit dem irreversiblen Bruch unserer Beziehung, die zehn Jahre bestanden und mir viel bedeutet hatte. Ihr abruptes Aus hatte lange an mir genagt, und nachdem ich diesen Schmerz überwunden hatte, war ich nicht geneigt, ins kalte Wasser zurückzuspringen.

Andreas … launisch, unberechenbar und unnahbar. Auf seine Mitmenschen ging er zu, wirkte locker und unkompliziert, aber auch ehrlich, manchmal bis zur Taktlosigkeit. Sie brauchten eine Weile, bis sie merkten, dass er sie in Wahrheit auf Abstand hielt, indem er nichts von sich preisgab, sondern sich mit belanglosem Geschwätz und Witzen, die er endlos herunterrattern konnte, aus der Affäre zog, sobald ein Gespräch ernst oder persönlich zu werden drohte. "Deine Frau wird von Tag zu Tag hübscher." Mit derartigen Komplimenten machte er sich beliebt. Gerne lud er Freunde und Bekannte, die sich dafür hielten, zum Essen ein, ließ sie aber kalten Herzens fallen, sobald er ihrer überdrüssig geworden war.

"Ich muss mit dir reden", pflegte Andreas zu mir zu sagen, wenn er mit sich und der Welt nicht im reinen war. Das bedeutete, dass ich schuld war an seinem Unbehagen und mir ein Abendessen in einem Restaurant bevorstand, in dem man der anderen Gäste wegen nicht laut werden konnte. Doch ich hatte mir angewöhnt, schon im Auto zu fragen: "Was passt dir jetzt wieder nicht an mir?" Dann nahm er die Hand vom Steuer, tätschelte meinen Oberschenkel und antwortete: "Vergiss es. Mit dir ist alles in Ordnung."

Zehn Jahre lang war ich diesem Wechselbad ausgesetzt gewesen, ehe mir die Hutschnur riss. Zwei Jahre hatte ich gebraucht, um über unsere Trennung wegzukommen und, während ich mich zum x-ten Mal bei meiner Freundin Esther ausheulte, zu der Erkenntnis zu gelangen, dass ich mehr auf mich selbst wütend war als auf Andreas, weil ich dessen Spiel so lange mitgemacht hatte.

Ich hatte Ruhe und Frieden gefunden und keinen Bock darauf, mir mein mühsam gewonnenes inneres Gleichgewicht ruinieren zu lassen.

Doch Andreas gab nicht auf. Im Dreißig-Minuten-Takt erschien seine Nummer auf meinem Display. Als er nachts um elf zum zehnten Mal versucht hatte, mich zu erreichen, meldete ich mich, gewappnet, mich in nichts hineinziehen zu lassen, sondern ihn so schnell wie möglich abzuservieren. "Was willst du?"
"Ich brauche einen Schlafplatz." Ich glaubte, mich verhört zu haben. Die Unverblümtheit, mit der Andreas sein Anliegen raugeschossen hatte, ärgerte mich. "Vergiss es", bellte ich zurück. Unbeirrt fuhr Andreas fort: "Du hast ein Haus. Und Platz genug für …"

"Schön, dass du dich daran erinnerst. Aber nachdem du es vorgezogen hattest, deinen Schlafplatz öfter zu wechseln, bleibt der Schlagbaum vor meinem Haus für dich unten."

"Hör doch erstmal zu!" Die Verzweiflung in seiner Stimme beeindruckte mich nicht. "Das habe ich hinter mir, Andreas. Diesen ganzen Scheiß von zuhören, verständnisvoll sein und Geduld üben. Das ist vorbei, und jetzt lass mich in Ruhe!"

"Warte doch! Es geht nicht um mich."

"Sondern?"

"Um Marina und Kolja, ihren Sohn."

"Wer zum Teufel ist Marina?"

"Ist doch egal. Ich habe fünf Familien unterzubringen. Flüchtlinge. Und da dachte ich …"

"… an mich. So ist das also. Hast du sie noch alle? Jahrelang hattest du mich wie einen Fußabtreter behandelt, woran ich deiner Analyse nach selber schuld war. Kein Wort des Bedauerns hattest du für mich, sondern dich als Opfer aufgespielt. Und jetzt kommst du angeschissen, weil du mich brauchst? Nee, mein Lieber, so läuft die Chose nicht."

In Andreas Stimme trat Schärfe. "Verdammt nochmal! Ich weiß, dass ich damals Scheiße gebaut habe, aber ich rufe nicht an, um in der Vergangenheit zu wühlen. Ich muss ein Problem lösen. Und zwar schnell."

Es verschlug mir Sprache. Andreas hatte Scheiße gebaut und war sich dessen bewusst geworden? Das sind die Tage, die man im Kalender ankreuzt. "Du hilfst nicht mir, sondern ihnen", schob Andreas hinterher. "Verlange, was du willst. Ich flehe dich um Verzeihung an, und wenn das nicht reicht, knie ich vor dir nieder und wasche dir eigenhändig die Füße. Mir sind Menschen anvertraut worden, die schweres Leid erfahren haben."

Das waren Töne, die ich von Andreas nicht kannte. Andreas, der früher sogar über das Leid von Menschen Witze reißen konnte? Ich war nicht nur baff, sondern wurde unsicher. "Eine Mutter mit Sohn? Mehr nicht?" Ich hörte, wie Andreas aufatmete. "Eineinhalb Personen. Kolja ist erst vier. Marinas Mann ist an der Front. Also was ist?"

"Okay", sagte ich und vergaß, dass ich Andreas in den letzten Monaten unserer Beziehung in Gedanken mindestens ein Dutzendmal erschossen hatte. "Wann bringst du sie her?"

Wir verabredeten die Mittagszeit des nächsten Tages. "Das gibt mir Zeit, ein Essen vorzubereiten. Am Tisch kann man sich leichter kennenlernen und miteinander warm werden."

"Du bist phantastisch, Birgit. Ich habe dich immer dafür bewundert, wie du mitdenken kannst."

"Ach?". Ich war versucht, etwas Sarkastisches über seine Sucht, bewundert zu werden, von mir zu geben, verbiss es mir aber in letzter Sekunde.

Als ich pünktlich mit dem Zwölf-Uhr-Schlag des nahegelegenen Kirchturms die Haustür öffnete, war ich vom Anblick der jungen Frau überwältigt. Sie mochte Ende zwanzig sein und war eine hochgewachsene, schlanke, blonde Schönheit. Ihr Dreikäsehoch Kolja bildete einen scharfen Kontrast mit seinem dunklen Wuschelkopf, hatte aber deutlich das ebenmäßige Gesicht der Mutter. Hinter den beiden stand Andreas, einen Kopf größer als Marina, und grinste mich an.

"Schön, dich wiederzusehen. Gut siehst du aus."

"Du nicht", erwiderte ich und meinte es ernst. "Kommt rein."

Ich zeigte Marina das Zimmer, das ich für sie und Kolja vorbereitet hatte. Während sie ihren Koffer auspackte, wandte ich mich Andreas zu. "Du bist blass und siehst müde aus." Einen Moment lang fühlte ich den Impuls, sein Gesicht zu streicheln, dort, wo sich Falten gebildet hatten, die ich jetzt zum ersten Mal sah.

"Harte Arbeit. Das nimmt einen mit. An Schlaf ist im Augenblick nicht zu denken."

"Bleibst du zum Essen?"

Er blieb. Ich hatte schlicht aufgetischt: Spaghetti mit Hackfleischsoße, dazu einen gemischten Salat, zum Nachtisch Schokopudding mit Schlagsahne. Mit Sorge beobachtete ich, wie Andreas sich die Spaghetti in den Mund schaufelte und mehr schluckte als kaute. "Sorry", sagte er nach seinem Schokopudding, den er mit der gleichen Hektik ausgelöffelt hatte. "Ich muss weiter."

Ich begleitete ihn zur Tür, und als ich sie öffnete, fiel er mir um den Hals und drückte mich an sich. "Danke". Ich winkte ihm nach, obwohl er sich nicht umsah. Etwas an ihm dünkte mir merkwürdig. Sein Gang war anders als früher. Nicht mehr von luftigem Stolz gelenkt, sondern von einer erdverbunden, fast demütigen Unsicherheit.

"Er hat sich verändert", dachte ich und verspürte Wehmut. "Zu spät für uns."

Kolja kam zu mir und klammerte sich an meinen Oberschenkel. Ich fuhr ihm mit der Hand ins Wuschelhaar. "Wollen wir etwas spielen?" Er lächelte mich an und nickte, obwohl er kein Wort Deutsch verstand. Das Kind, wie ich mir immer eins gewünscht hatte.
__________________

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