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Gefühlte Momente und Emotionen Gedichte über Stimmungen und was euch innerlich bewegt. |
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01.03.2015, 23:13 | #1 |
Freispruch
Unser Kind ist heute groß.
Nur sein Kopf blieb etwas klein. Denn du schlugst auf deinen Schoß, weil ich fremdging, wütend ein. Dennoch denkt sein Kopf so groß, dass wir fühlen, wir sind klein. Ist auch unsre Schuld sein Los, lässt sein Weg uns dankbar sein. |
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06.04.2015, 12:54 | #2 |
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06.04.2015, 13:41 | #3 |
Lieber gummibaum,
selten schafft es ein Gedicht, mich so zu bewegen. Das Thema "Misshandlung" ist vielschichtig und dir gelingt hier in zwei Strophen ein unheimlich (in doppelter Hinsicht) dichter Blick aus der Warte des reuigen - ja was eigentlich? "Täter" trifft es ja nicht ganz. Das LI sieht sich aber selbst nicht als unschuldig an. Vielleicht trifft es "mittelbarer Mittäter" in etwa. Darauf könnte man jetzt ausführlich eingehen - ich lass es lieber. Formal muss nicht viel gesagt werden: Du verwendest zum dichten Weben einen passenden Kreuzreim. Der Trochäus lässt, gemeinsam mit der "stumpfen" (welch wortwörtlich unpassender Terminus technicus) Kadenz (Hebung), jeden Vers als harten Fakt erklingen und lässt gleichsam Pausen zur Verarbeitung des Geschriebenen im Kopf des Lesers. Thematisch spricht das LI in S1 eine Lebensepisode an, die schon lange vergangen ist. Der Lebenspartner schlug aus Wut über das Fehlverhalten des LI auf das gemeinsame Kind ein. Ein Erwachsener schlug ein Kind, oder anders ausgedrückt: Ein Großer schlug einen Kleinen. Offenbar blieb hierbei ein Schaden am Kopf des Kindes zurück, ich vermute eine geistige Behinderung war die Folge. S2 spannt aus der Gegenwart in jedem einzelnen Vers den Bogen zurück zur Vergangenheit und zur S1: V5: "groß" -> V1 V6: "klein" -> V2 V7: "Los" -> V3 V7: "Schuld" -> V4 V8: "Weg" -> allgemeiner Rückbezug zu damals Die Begriffe "groß" und "klein" werden aufgegriffen, jedoch die Rollen hierbei vertauscht. Die damaligen Täter (V7: "unsre Schuld") sind (gefühlt, V6) klein und das Opfer ist groß. Anders als in S1V1 ist dabei aber nicht mehr die körperliche Größe gemeint, denn die steht ja außer Frage. Das Kind ist groß im Denken. Warum? Wie passt das zur geistigen Behinderung? Der gut gewählte Titel gibt dazu den entscheidenden Hinweis: "Freispruch" Trotz der Bürde (V7: "sein Los"), die ihm durch seine Eltern aufgeladen wurden, hat er die Größe, ihnen zu vergeben. Sein (Lebens-)Weg erfüllt sie mit Stolz. Fazit: Was für ein großartiges Zeugnis von schwerer Schuld, Reue, Verzeihen, Liebe und Elternstolz. Du hast alles in 8 Versen untergebracht und damit in meinen Augen ein herausragendes Gedicht erschaffen. Herzliche Grüße, Stachel |
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06.04.2015, 13:53 | #4 |
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Lieber Gummibaum,
das ist aber ein sehr bewegendes Gedicht. Gefällt mir wirklich sehr! Liebe Grüße Lara |
06.04.2015, 14:24 | #5 |
R.I.P.
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Den Kommentaren, lieber gummibaum, ist nichts hinzuzufügen.
Aufwühlend. LG Thing |
06.04.2015, 17:58 | #6 |
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Lieber Gummibaum,
Dein Gedicht geht sehr zu Herzen. Ich kann meine Gefühle kaum in Worte fassen. Ich frage mal vorsichtig nach. Eltern, die sich schuldig fühlen, weil ihr Kind krank geboren wurde? Liebe Grüße Dabschi |
06.04.2015, 20:29 | #7 |
Hallo, ihr Lieben,
vielen Dank, besonders an Stachel für die Mühe. Ich versuche ja meist, mich kurz zu fassen. Hier hat die Schwangere in Schmerz und Wut auf ihren Bauch eingeschlagen, und die Folgen blieben nicht aus. Der Freispruch kommt von Seiten des Kindes, das sein Leben trotzdem in die Hand nimmt und -moralisch groß- den Eltern nichts vorwirft. LG gummibaum |
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06.04.2015, 21:33 | #8 |
Freispruch
Hallo gummibaum,
mir ist aufgefallen, dass du bestimmte Themen, dieses hier und auch „Progressive Muskeldystrophie“, in der Ich-Form schreibst. Mit dieser bewussten Identifikation des eigenen Leides oder des Unglücks anderer schaffst du eine ganz dichte eindringliche Atmosphäre, die ganz tief bewegt. Hier muss man auch keine Fragen stellen; die bedrückende Faszination ist einzigartig. Herzliche Grüße Lewin. |
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