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Lebensalltag, Natur und Universum Gedichte über den Lebensalltag, Universum, Pflanzen, Tiere und Jahreszeiten.

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Alt 01.11.2011, 21:47   #1
Thing
R.I.P.
 
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Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998

Standard Herbst (nach Tchernobyl)

Die fast erloschne Fackel
voll von Dämmer, halbem Brand,
von letztem Blut den süßen Mund so scharf umrissen;
mit Kohlen, Dunst und Brodem -
mit dieser Fackel und mit warmem Laub gefüllt die Hand,
in seinen Augen alles Wissen,
alles Sein des Werdens, Gehens,
Scheidenmüssens
zieht wieder Herbst durchs Land.

In seinen braungefellten Lenden,
in seinem sommervollen Bauch,
an seinen weingetränkten Seiten
dehnt sich das Gras,
wird herb und schwer, wird Ruch und Hauch,
und schüttet seine Samen
hinaus in's düstre, freie Feucht,
in all die offnen Landesbreiten.
Sie sind bereit, draus die Welt zu spreiten.
Sommer fleucht,
er hat die Knospen hingereicht,
willig, warm, so voller Raps und Bergzyklamen.
Herbst steht bereit!
Rundum das Land,
Gauchheils voll,
wird unbemannt, wird fremd, wird weit,
bleibt unbesamt und schreit
vergeblich jetzt nach Fruchtbarkeit.

O Herbst!
Wie willst Du walten?
In Deinen prächtig vollen, alten
Wäldern haust's sich schwer.
Dich tragen Deine vollen Hüften nicht mehr weit,
denn, was Dich mästete, Dich breit
und fruchtbar machte,
ist dahin, ist leer.
Deines Felles, Pelzes, Haares Falten,
Deines wilden Blutes Speer
beugt sich Gewalten,
die Dir nicht mehr
Zweige, Blatt und Früchte halten,
Dich daran aufzuschwingen
in das Heer der Elementgestalten.
Deine Klagen?:
"Ja, so sehr
liebt ich Butten, Astern, Schlehenbeer -
und kann sie nicht verwalten
bei dieser bösen Gegenwehr!"

D u bist dahin, mein Herbst,
bist nicht mehr der von einst,
bist schwach geworden,
nackt ,zerfressen, kahl und bleich.
D u bist jetzt der, der bang beweint
die alten Zeiten.
Was Du jetzt voller Tollheit färbst,
was Du mit brauner Trän begreinst,
sind Satans losgelassne Horden:
so sanft, so blass, so gleich, so gleich,
so tastend, glänzend, silbern, weich -

und Dir und mir ist's Grab gezeigt,
in das wir sinnlos, leblos gleiten,
weil weder Dir noch mir,
mit unsrem unheilsvollen Schwangerschaftsgeschwür,
das Leben, das Du gabst,
die Hand gereicht.





(c)
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.11.2011, 19:07   #2
männlich AndereDimension
 
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Dabei seit: 06/2009
Beiträge: 3.325

Hallo Thing

fast wäre es untergangen, dieses fein gemachte Werk.

Kompliment!

Gruß, A.D.
AndereDimension ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.11.2011, 22:12   #3
Thing
R.I.P.
 
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Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998

Hab Dank, anDi!


Damals stolperte ich angstgepeinigt über die Äcker.
(Verlor dabei einen Schuh und dachte: So! Jetzt bist Du Cäsium-, Jod- Uranverseucht!!)
und war gelinde hysterisch.
Was mich zum schrillen Lachen brachte, war die Ermahnung:
Bitte sammeln Sie in den nächsten 4000 (viertausend) Jahren keine Pilze, sie sind cäsiumaffinitiv.

Das mir. Pilzesammler.

Das Gedicht ist Ausdruck meiner damaligen existentiellen Angst um Wald, Feld, Flur und meinen (ideell) geliebten Herbst.


Aber ich empfinde heute immer noch so.
Fukushima hat die Angst aufs Neue geschürt.


Lieben Gruß!
Thing
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 07.09.2012, 00:15   #4
Thing
R.I.P.
 
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Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998

Dann nochmals Dank an den Scheidenden!

Wer weiß -
Vielleicht gibt es hier noch Leser, die sich an dieses schreckliche Ereignis erinnern?
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
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Lesezeichen für Herbst (nach Tchernobyl)



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