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Alt 15.07.2016, 19:27   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Kleine Igel

Spock wurde unruhig. Als er sein Glas mit Branntwein nachfüllte und sah, dass die Flasche nahezu geleert war, wusste er, dass der Rest nicht bis Mitternacht reichen würde. Gegen sein besseres Wissen ging er in die Küche, um nachzusehen, ob noch Bier da war, und schob mit einem Grunzen der Enttäuschung die Kühlschranktür zu. Auch die Weinflaschen im Regal waren alle leer. Er sah auf die Uhr: halbneun - noch eine halbe Stunde Zeit, zum Supermarkt zu fahren und sich zu versorgen. Er schlurfte zum Fernsehgerät und schaltete es ab. Den „Tatort“ musste er sausen lassen, aber die Serie wurde ohnehin dauernd wiederholt.

Er zog sich die Lederjacke über, prüfte, ob die Brieftasche am rechten Fleck saß, griff nach den Autoschlüsseln und zog die Wohnungstür hinter sich zu. In der Tiefgarage war es dunkel, die Neonbeleuchtung füllte nicht alle Parknischen aus. Nach dem fünften Versuch, die Autotür aufzuschließen, gab er auf. Wenn er schon nicht in der Lage war, den Schlitz des Schlosses zu finden, wie sollte er da noch zum Fahren fähig sein? Also öffnete er den Kofferraum, kramte einen Stoffbeutel hervor, ließ das Rollgitter per Fernbedienung hochziehen und machte sich zu Fuß auf den Weg.

Es begann zu dunkeln. Spock überlegte, die Straße entlang zu gehen, aber da hätte er den Tunnel unter der S-Bahn-Trasse durchqueren müssen, und um die Station herum war es um diese Zeit einsam. Ein paarmal waren dort Passanten überfallen und ausgeraubt worden. Also ging er den Pfad am Bach entlang, der zwischen einem breiten Wiesenstreifen parallel zur Straße verlief und auf dem noch einige Hundehalter mit ihren Vierbeinern unterwegs waren.

Bis zum Supermarkt brauchte er zwölf Minuten. An der Kasse saß Siggi, den er seit seiner Schulzeit kannte.

„Na, Alter. Spät dran heute. Sitzt wohl wieder auf dem Trockenen, wie ich sehe. Na, wenigstens treibt dich das mal an die frische Luft.“

„Mach nur deine Witze!“

Siggi zog die erste der beiden Flaschen, die Spock auf das Laufband gelegt hatte, über den Scanner und prüfte das Etikett.

„Kannst du nicht mal etwas Vernünftiges trinken als diesen Fusel? Leute, die sich an so etwas gewöhnt haben, saufen auch Sachen, die zum Einreiben gedacht sind.“

„Mann, schenk dir die Predigt! Hier, das sind meine letzten hundert Euro, der Rest muss noch zehn Tage reichen. Sag mir Bescheid, wenn ihr die feinen Sachen im Sonderangebot habt.“

„Schon gut, Alter. Kassenzettel?“

„Klar, ehe ich mich am Ausgang verhaften lasse …“

Als Spock aus dem Laden trat, war es Nacht geworden. Der Wiesenpfad lag in völliger Dunkelheit. Deshalb trat Spock den Rückweg entlang der beleuchteten Straße an.

In seiner Kindheit gab es hier nur einen breiten Sandstreifen, der durch Schrebergärten hindurchführte. Als die Industrie der Stadt florierte und die Grundstücke an der Peripherie im Wert stiegen, verkauften die Gartenbesitzer ihr Land, und es entstanden links und rechts des Sandwegs Ein- und Zweifamilienhäuser auf derart großen Grundstücken, wie sie schon zehn Jahre später selbst für den gehobenen Mittelstand nicht mehr erschwinglich waren. Der Sandweg wurde asphaltiert und mit Gehwegen, Laternen und Bushaltestellen ausgestattet, und als alles fertig war und die Familien sich eingewöhnt hatten, kamen ein Kindergarten, eine Schule, eine Sparkassenfiliale und ein Supermarkt hinzu.

Spock kannte jedes einzelne Haus und die Namen der Menschen, die darin wohnten. Er ging an den Seydels vorbei, die grundsätzlich ihr Garagentor nicht schlossen, damit die Nachbarn sehen konnten, dass sie das neueste Mercedes-Modell besaßen. Dann bei den Kaufmanns, deren Hauptbeschäftigung darin bestand, in Schutzkleidung, die an Raumfahrer erinnerte, ihre Rosenhecken mit Schädlingsgiften zu spritzen. Und dann bei den Konrads, bei denen spätestens alle zwei Jahre ein Kind zur Welt kam und deren Vorgarten mit dem Sandkasten und den Spielgeräten aussah wie ein Kindererholungsheim.

Bis nach Hause waren es noch fünf Minuten. Das war zu lang, Spock brauchte dringend einen Schluck. Er kramte in seinem Stoffbeutel, zog die Flasche Branntwein hervor, öffnete den Drehverschluss, nahm einen tiefen Zug, ließ ihn warm die Kehle hinunterlaufen und seufzte mit Behagen. Während er die Flasche verschloss, traf sein Blick den Vorgarten der Nummer 45.

Hier wohnten die Wittigs, die nicht so recht in die Mercedes-, Rosen- und Kinderlandschaft passten. Ihre Leidenschaft waren Gartenzwerge. Der ganze Vorgarten rund um einen Goldfischteich war bestückt mit diesem traditionellen deutschen Wahrzeichen: Zwerg mit Spaten, Zwerg mit Rechen, Zwerg mit Laterne, Zwerg mit Dackel, Zwerg mit Pfeife …

Spock drehte den Verschluss wieder auf, nahm noch einen kräftigen Schluck, verschloss die Flasche und dachte, während er die Zwerge besah: „Na, wenigstens haben die Goldfische etwas zum Lachen.“ Dann stutzte er.

Auf der Oberfläche des Teiches bewegte sich etwas und wurde immer heftiger. Spock, den Beutel in der einen und die Flasche in der anderen Hand, trat an den Zaun, um besser zu sehen, was vor sich ging.
Im Wasser strampelte ein kleiner Igel um sein junges Leben! Spock war alarmiert. Er rannte zum Eingang und drückte den Klingelknopf. Ein Fenster ging auf.

„Spock? Was willst du denn um diese Zeit … mach, dass du nach Hause kommst!“

„Aber in Ihrem Garten, da ist … „

„Komm nicht wieder damit. Ich weiß, dass dich meine Zwerge anpissen, also belästige mich nicht weiter …“

„Aber … aber in Ihrem Garten, da … also …“

„Hau ab! Du mitsamt deiner Flasche!“

Wittig knallte das Fenster zu.

Spock stand einen Moment lang sprachlos da. Dann stellte er die Flasche ab, legte den Stoffbeutel mit der anderen Flasche daneben und setzte im Scherensprung über den Zaun. „Geht ja noch!“ dachte er beglückt.

Als er den Igel aus dem Wasser fischte, spürte er, wie weich dessen Stacheln noch waren.

„Wo ist denn deine Mama?“ fragte er das erschöpfte Tier.

Doch der Igel gab keinen Laut von sich und blieb völlig regungslos.

Spock behielt ihn auf der Hand, während er jedem Gartenzwerg einen heftigen Tritt verpasste, bis alle mit der Nase im Gras lagen. Dann sprang er über den Zaun zurück, nahm seine Habseligkeiten auf und ging nach Hause.

Am nächsten Tag gab er den Igel in die Pflege kundiger Hände und spendete dafür zehn Euro seines knappen Geldes.

Eine Woche später erhielt er eine Anzeige: Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und Beschädigung ideeller Werte (einige der Gartenzwerge waren Erbstücke des Urgroßvaters).

Zunächst lief alles zugunsten des Klägers, denn jeder im Revier kannte Spock, wusste, dass er ein Säufer war, und wusste auch, dass er Gartenzwerge hasste. Zwar hatte niemand etwas gesehen, aber die nächtlichen Pöbeleien waren weithin hörbar gewesen, und da Spock ein Säufer war, konnte nur er der Aggressor gewesen sein.

Aber dann trat die Igelpflegerin als Zeugin auf. Der kleine unschuldige Igel stand alsbald im Mittelpunkt des Prozesses und stahl dem Kläger die Schau. Von da an dauerte es keinen Blitzschlag lang, bis die Sympathien zum Retter umschlugen, denn wenn es um Tiere geht, wird jedes Herz im Handumdrehen weich.

Der Richter sah sich vor einem Dilemma. Der Hausfriedensbruch und die Sachbeschädigung waren Tatsache, und Spock als Täter war so sicher wie das Amen in der Kirche. Auf der anderen Seite stand das Leben eines Tieres, das unter Einsatz geringster Mittel zu retten gewesen war.

Der Richter fällte folgendes Urteil:

„Der Klage auf Sachbeschädigung wird stattgegeben.

Der Beklagte hat die Kosten für die Wiederherstellung des Zustands vor der von ihm verursachten Sachbeschädigung zu tragen. Über den Wert einer Sachbeschädigung ideeller Werte wird ein Sachverständiger zu Rate gezogen. Darüber ist gesondert zu verhandeln.

Die Klage auf Hausfriedensbruch wird abgewiesen.

Der Beklagte wollte Hilfe leisten, um ein Leben zu retten. Die Kooperation wurde ihm versagt. Er handelte aus einem moralischen Anspruch heraus, der mit Hausfriedensbruch nicht in Einklang stand.“

Wittig tobte. „Wie komme ich zu meinem Geld? So bleib ich doch auf meinem Schaden sitzen, der Spock hat doch nix!“

Der Anwalt klopfte Wittig auf die Schulter. „Doch, der hat etwas. Viel mehr als Sie. Der Spock hat Herz. Der ist ein versoffenes Schwein im Gegensatz zu einem nüchternen, berechnenden und selbstgefälligen Drecksack wie Sie. Der hat ein Leben gerettet, dem Sie das Fenster zugeschlagen haben. War ja nur ein kleiner Igel. Aber einer wie Sie schlägt den ganzen Tag das Fenster zu. Alles in Ihrem Leben sind nur kleine Igel …“
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Alt 15.07.2016, 21:32   #2
männlich Sonnenwind
 
Benutzerbild von Sonnenwind
 
Dabei seit: 06/2012
Alter: 62
Beiträge: 1.514


ilka, das ist eine elegant geschriebene, unterhaltsame, anrührende, nachdenklich machende kurzgeschichte. gefällt mir sehr.

nur eine kleine ungereimtheit: da herr wittig spok bei seiner abweisung nicht hat zu wort kommen lassen, hat er nicht gewußt, dass es ihm, dem säufer, um einen ertrinkenden igel ging... das spricht nicht gegen spok... aber es spricht ein wenig gegen das, was der anwalt am ende der geschichte zu spok sagt.

aber es stimmt: auch im wahren leben ist vieles verwickelter und anders, als es den anschein hat. man sollte mit einem urteil vorsichtig sein. schade nur, dass solche hintergründe oft verborgen bleiben und vor gericht dann keine berücksichtigung finden (können).

lg
Sonnenwind
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