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Wieder so ein November, in dem die Lufttemperatur seit Tagen dreiundzwanzig Grad im Schatten anzeigt. Wer der Sonne nicht entkommt, zieht den Mantel aus und krempelt die Ärmel des Pullovers auf. Nicht ungewöhnlich für Pariser Klimaverhältnisse, denn hier ist der November das, was weiter östlich der französischen Grenze der April ist: ein unberechenbarer Weggefährte, der jeglicher Planung und Erwartung einen Strich durch die Rechnung machen kann.
Goulwen hatte schon beim Aufstehen gespürt, dass der Tag heute ungewöhnlich warm werden würde, und ein Shirt mit kurzen Ärmeln angezogen. Sich aber, seiner Entscheidung nicht trauend, den Trenchcoat über den Arm gehängt. Als er das Bistro verließ, in dem er zu Mittag ein mit Käse und Schinken belegtes Baguette gegessen und einen Kaffee getrunken hatte, schlenderte er die Straße entlang. Er hatte noch zehn Minuten Zeit, an seinen Schreibtisch zurückzukehren, mit einem kurzen Umweg durch den nahegelegen Park, um an diesem herrlichen Novembertag noch ein Weilchen die Sonne zu genießen, die ihn mit ihrer letzten Kraft blendete. Er hatte den Park am Ausgang zum Boulevard verlassen und rieb sich im Schatten der Häuser die Augen, um wieder klar sehen zu können, da ging sie an ihm vorbei, gerade gewachsen, schlank, erhobenen Kopfes und mit einem Wiegen in den Hüften, als gehöre jeder ihrer Schritte zu einem Tanz – einem anmutigen Tanz, vor dessen Sinnlichkeit er zu fliehen wünschte, der ihn aber wie magisch fesselte. In jeder ihrer Bewegungen lag die Geschmeidigkeit einer Katze, die den Reiz auslöste, ihren Körper zu streicheln, die Zartheit ihres Fells zu fühlen und sie mit Liebkosungen zum Schnurren zu bringen. Er ging ihr nach. "Wenn sie so aussieht wie sie sich bewegt und ich sie mir vorstelle … dann …" Er wagte nicht, den Gedanken zu vollenden. Aber er ließ ihn auch nicht los, und so beschleunigte er seinen Schritt, zog an ihr vorbei und stieß die Worte hervor: "Entschuldigen Sie, Mademoiselle … ich wollte … ich würde gerne … also … ich …". Verflucht, weshalb stotterte er herum und führte sich wie ein Trottel auf? Das passierte ihm doch sonst nicht, der gewohnt war, dass jedes weibliche Wesen, egal welchen Alters, seine Annährungsversuche mit einem wohlwollenden Lächeln quittierte. Er wusste, dass er gut aussah und mit seinem ausgewogen proportionierten Gesicht, den betonten Wangenknochen und dem kräftigen Kinn die gängigen Merkmale starker Männlichkeit vorwies. Nie war er brüsk zurückgewiesen worden, wenn er eine Frau, die ihm gefiel, zu einem Kaffee oder auf ein Glas Rotwein in ein Bistro eingeladen hatte. Also was war in diesem Augenblick anders als sonst, dass es ihn dermaßen verunsicherte? Sie war stehengeblieben und wandte sich ihm zu: "Oui, Monsieur?" Der Anblick ihres Gesichts traf ihn wie ein Blitz. Ihr Mund war breit und die Nase extrem lang, die Stirn flach mit einem tiefen Haaransatz, das Kinn klein und leicht fliehend. Zudem hatte sie einen Überbiss. Und sie war ersichtlich älter, als er sie geschätzt hatte. Ihm mussten das Entsetzen und die Enttäuschung über ihr Aussehen in den Augen gestanden haben, denn im nächsten Moment lachte sie auf. "Da haben Sie es! So reagieren alle Männer, die mich erst von hinten und dann von vorn sehen: geschockt. Ich bin hässlicher als eine Hexe in Perraults Märchenwäldern. Hauen Sie lieber ab, bevor mir einfällt, Sie in einen Frosch zu verwandeln." "Tut mir leid, Madame." Goulwen trottete davon wie ein geprügelter Hund. Wie hatte er sich nur so vergessen und bloßstellen können, einer Frau die Gelegenheit zu geben, ihn dermaßen zu verhöhnen? Wie konnte er die Maske fallen lassen und die Ritterlichkeit vergessen, mit der er für gewöhnlich jede Frau wie eine Königin umschwirrte? Er hätte sich zusammenreißen und diese Märchenhexe mit einer charmanten Geste in ein Straßencafé zu einem Plauderstündchen einladen, sich danach für ihre Gesellschaft bedanken und ihr einen schönen Tag wünschen können, und seine Welt wäre in Ordnung gewesen. Er hätte den Versuch, einer Frau den Hof zu machen, die ihm letztendlich nicht gefiel, mit einem Minuspunkt in seiner Erfahrungsliste abhaken können – kein Problem in einer Stadt wie Paris, in der das Flirten zum Alltag gehörte. Aber etwas am Gesicht dieser Frau hatte ihn fasziniert. Alles andere an ihr stand außer Frage: Ihre Figur war perfekt, ihr dickes, tief über den Rücken fallendes Haar einer Rapunzel würdig, und ihre Art sich zu bewegen hätte Gene Kelly begeistert. Aber ihr Gesicht – dieses keinem Schönheitsideal entsprechende Gesicht ... Was an ihm war so faszinierend, dass er seit ihrer Begegnung jede Sekunde an diese Frau denken musste? Dass sich jedes Detail ihres Gesichts in sein Gedächtnis eingebrannt hatte, von den dichten Brauen, die in der Mitte ihrer Stirn fast aneinanderstießen, bis zu den tintenblauen Augen, von der Denkerfalte über der Nasenwurzel bis zu den Linien um den Mund, die zu fein waren, um ihr wahres Alter zu verraten? Die Erinnerung daran ließ Goulwen nicht los. Er suchte nach der Frau mit dem tänzelnden Schritt, ging wochenlang die Pariser Boulevards nach ihr ab, ohne sie zu entdecken. Und da er sie nicht finden konnte, begann er sie zu malen. Und holte dabei Strich um Strich ihre Schönheit hervor: die Sinnlichkeit ihrer vollen Lippen, die geschwungenen Nasenflügel, die dichten Brauen über den tintenblauen Augen, das eine Ohr, das ein bisschen höher als das andere stand, und den schlanken, etwas zu langen Hals … Er betonte alles, was an ihr ungewöhnlich war und sie zu einer Besonderheit machte, und als er damit fertig war, gab er dem Gemälde den Titel: "La Girafe". Nicht "Le Girafe", sondern "La Girafe".Er bat eine Pariser Zeitung, das Bild zu veröffentlichen, schrieb selber einen kurzen Artikel dazu und fügte bei: "Girafe, bitte melden!" Wochen und Monate vergingen ohne Resonanz. Goulwen bat die Pariser Zeitung, das Bild und seine Geschichte nochmal zu veröffentlichen. Und er fügte einen neuen Kommentar hinzu: "Girafe, bitte! Ich kann keine Nacht mehr ruhig schlafen. Melde dich!" Wieder vergingen Wochen. Dann rief die Redakteurin bei Goulwen an. "Uns hat wieder jemand geschrieben, die Frau auf deinem Bild zu sein." "Wieder mal … Gut so. Geht in Ordnung." "Das kann endlos so weitergehen, Goulwen. Bisher waren alle diese Weiber Fehlanzeigen mit eigenen Absichten. Du reibst dich auf." "Ich weiß. Aber der Prinz mit dem gläsernen Schuh war auch lange Zeit im ganzen Königreich unterwegs gewesen, ehe er Aschenputtel fand." "Du lebst nicht in einem Märchen, Goulwen, und du weißt es. Hör endlich damit auf!" "Die Frau, die ich suche, entstammt einem Märchen", erwiderte er trocken. "Sie ist nämlich eine Hexe und jederzeit bereit, mich in einen Frosch zu verzaubern." "Und darauf bist du scharf?", frotzelte die Redakteurin. "Absolut, meine Liebe. Aus Fröschen werden nämlich Prinzen." Sie kicherte. "Du bist und bleibst ein Traumtänzer. Diese Frau wirst du nie finden. Sie ist keine Simsalabim-Hexe, sondern lässt sich gerade beim Friseur die Locken legen, um ihrem Mann zu gefallen, wenn er am Abend ausgeleiert nach Hause kommt, sein Bier trinkt, vor der Glotze sitzt, in sein Bett sinkt und von Mutters Eintopf träumt. Dann legt sie sich neben ihn und besorgt es sich selbst, damit sie entspannt einschlafen kann, bevor er zu schnarchen beginnt." "Du bist krass. Also bitte die Kontaktdaten der Frau. Was hat sie dir dagelassen?" Die Redakteurin seufzte und gab Goulwen die Daten durch. Name, Adresse, Telefonnummer. "Viel Glück, Chéri!" Er telefonierte nicht, sondern ging zu dem Haus, das im Marais lag, und bat die Concierge, ihn anzumelden. "Erster Stock, zweite Tür." Es war ein Treffer. Sie stand in der halboffenen Tür und funkelte ihn mit Spott in ihren Augen an. "Ich hätte nicht gedacht, dich jemals wiederzusehen. Geschweige denn, dass ein so gut aussehender Kerl wie du nach mir suchen würde." "War ein hartes Stück Arbeit gewesen, dich zu finden", gab Goulwen zu, entschlossen, auf das Du einzugehen, das die Gesuchte angeschlagen hatte. "Ich wusste nichts über dich. Ich bin Goulwen Lefebvre. Wie heißt du?" "Ich heiße, Madeleine Roux. Und was erwartest du von mir?" Auf diese Frage war Goulwen nicht vorbereitet. Er überlegte, fand aber keine überzeugende Ausrede, also entschloss er sich zur Wahrheit. "Etwas an dir fasziniert mich, aber ich weiß nicht genau, was es ist. Und das will ich herausfinden. Ich hoffe, dass du mir dabei helfen wirst." Sie lächelte. "Meine Güte, du bist ein Spinner!" Sie öffnete die Tür zu ihrer ganzen Weite. "Komm rein und trink ein Glas Wein mit mir. Dabei kannst du dich in Ruhe bei mir umsehen und dir ein Bild davon machen, mit wem du es zu tun hast." Er kam in eine kleine, ordentlich aufgeräumte und funktional durchorganisierte Wohnung mit Möbeln aus antiken und modernen Epochen, die eine heimelige Gemütlichkeit ausstrahlten. Bis auf den schweren Schreibtisch mit den Löwenkopffüßen, auf dem ein Laptop stand, der von Säulen aus Büchern flankiert war. Rund um den Bürostuhl vor dem Schreibtisch türmten sich weitere Bücher und ungeordnete Stapel an bedrucktem Papier. "Was ist das?", fragte er amüsiert. "Meine Arbeit. Ich schreibe." "Ah!" Er zog die Augenbrauen hoch. "Veröffentlichungen?" "Keine. Soweit." "Keine? Und wovon lebst du?" "Vom Erbe meiner Eltern. Ich bin reich. Sozusagen Millionärin." Boulwen verschlug es einen Moment die Sprache. "Und da wohnst du im Marais statt in der Avenue Foch oder rechts der Seine?" "Eh bien? Victor Hugo hat hier gewohnt, und Touristen kommen, um sein Haus zu besichtigen. Was also ist falsch daran, im Marais zu leben?" "Woran schreibst du gerade?" Madeleine griff ein Manuskript von ihrem Schreibtisch. "Es sind erst fünfzig Seiten. Ein Roman. Es geht um einen Mann, dem die hübschesten Mädchen hinterherlaufen, aber er heiratet ein hässliches um ihres Geldes willen. Dann passiert, womit er nicht gerechnet hat: Er verliebt sich in die innere Schönheit seiner Frau." "Und dann?" "Er wird sie verlieren. An etwas, gegen das er sie mit allem Geld der Welt nicht retten kann. Er beginnt einen verzweifelten Kampf, sie zu behalten, von dem er jedoch weiß, dass er ihn nicht gewinnen kann." "Die Geschichte ist nicht neu, Madeleine." "Ich weiß, Goulwen. Aber ich werde sie so erzählen, wie sie noch nie jemand gelesen hat. Meine Leser werden weinen, Blut und Wasser schwitzen und leiden wie verlassene Seelen. Ich werde sie zu Emotionen rühren, von denen sie keine Ahnung haben, dass sie in ihnen schlummern." "Erkär es mir." "Nun", erwiderte sie, "ich kann es am Ende meines Romans so aussehen lassen, als habe der Mann verloren, weil er seine Frau nicht vor dem Tod retten konnte. Aber weil er seine Frau verloren hat, hat er noch nicht den Kampf gegen eine tödliche Krankheit verloren. Er steht am Anfang eines Wissens, das seiner Frau keine Zeit mehr ließ. Er spendet Geld in die Wissenschaft. Aber bei aller Wissenschaft geht es immer darum, die Zeit zu besiegen. Zeit ist ein grauenhafter Faktor, über Leben und Sterben zu bestimmen, aber das tut sie sie ständig. Mein Protagonist muss in seiner Trauer weiterleben, bis die Zeit ihm den letzten Eintrag schreibt. Wie die Sache wirklich enden wird, weiß ich noch nicht." Goulwen hatte nichts zu erwidern. Madeleine schenkte ihm Wein nach. "Hör auf zu denken und stoß mit mir an", sagte sie, und beide ließen die Gläser klirren. Sie waren ziemlich betrunken, als sie ihn an die Hand nahm und in ihr Schlafzimmer führte. "Zieh dich aus. Und wenn mir gefällt, was ich sehe, darfst du mich ausziehen." Ihr gefiel, was sie sah. Nach einer Nacht in Ekstase schien Madeleine wieder nüchtern zu sein, denn sie hantierte in der Küche und bereitete das Frühstück. "Na, bin ich noch genauso attraktiv wie gestern, als du stockbesoffen warst?" Goulwen stand abrupt vom Küchentisch auf. "Weißt du eigentlich, wie grausam du bist? Wir haben eine schöne Nacht verbracht, ich bin ich dich verliebt, und jetzt stellst du mir so eine absurde Frage? Was denkst du, was ich bin? Ein humanoider Zellklumpen, der nur auf primitive Reize reagiert? Oder der es auf dich abgesehen hat, weil du eine reiche Erbin bist?" Er stürmte aus der Küche, nahm seinen Trenchcoat und raste ins Treppenhaus. Madeleine lief ihm hinterher und lehnte sich über das Geländer. "Goulwen! Es tut mir leid! Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich bin krank!" Er hielt inne, dann ging er langsam wieder die Stufen hoch. "Krank?" "Ich … ich kann doch niemanden an mich binden, wenn ich weiß, dass ich nur noch kurz zu leben habe." "Kurz? Wie kurz?" "Zwei, vielleicht drei Monate. Jeder Tag zählt. Bald werde ich die Stunden zählen. Komm rein, und ich zeige dir die die Arztberichte. Die Diagnosen. Ich mache dir nichts vor." Nachdem Goulwen die Dokumente gelesen hatte, schloss er Madeleine in die Arme. "Dein Roman ... die Heldin darin bist du. Aber ich werde gewinnen. Ich verspreche dir, dass ich gewinnen werde." Sein Lächeln kam schief über seine Lippen. "Und dann wirst du deinen Roman umschreiben müssen." Madeleine lächelte schwach. "Was dir vorschwebt, will kein Mensch lesen." "Warum nicht?" "Weil nur das Leben und die Liebe Emotionen erzeugen. Der Tod friert die Herzen ein, er macht die Menschen starr." "Du musst deinen Roman zu Ende schreiben." "Schreib du ihn weiter, wenn mir die Zeit zu knapp wird." "Das kann ich nicht. Dafür bin ich nicht talentiert." "Jeder kann es. Lass deine Hand die Feder führen. Folge deinen Gedanken. Schreibe auf, was du denkst und fühlst." Sie lächelte. "Es ist leichter, als du denkst." Vier Monate später. Die ersten Krokusse verkündeten das Ende des Winterschlafs und leuchteten in sattem Blau und Gelb dem Frühling den Weg. Goulwen hatte ein Bukett aus roten Rosen gekauft, damit ging er den Friedhofsweg entlang zu Madeleines Grab und legte es feierlich ab: "Der schönsten Frau der Welt. Danke, Chérie, dass es dich gab." Er setzte sich an ihren Schreibtisch, las ihr Manuskript und tauchte in ihre Gedankenwelt ein. Dann begann er, ihren Roman zu Ende zu schreiben. |
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#2 |
Dabei seit: 02/2021
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Beiträge: 2.028
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... von wegen Wetter, ein herrliche Liebeskurzgeschichte, meist spricht mich so etwas nicht an.
Diese ja, ich weiß nur nicht warum. authentisch? nicht so abgelutscht/ vorhersehbar? obwohl alle Standarts enthalten scheinen? beaux rêves |
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LG Ilka |
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