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Gefühlte Momente und Emotionen Gedichte über Stimmungen und was euch innerlich bewegt. |
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30.10.2012, 13:58 | #1 |
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Todmüde
Todmüde |
30.10.2012, 14:17 | #2 |
Hi, Poetibus,
ganz starke Bilder, gelungene Zeileinumbrüche, Gratulation! Am besten gefällt mir "des Denkens Mühlen, die das Selbst zermahlen" ... und "der Wille, der auf Gleisen fährt ohne Weichen" Das Gedicht ist mir ein Sternchen wert! lg simba |
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30.10.2012, 14:43 | #3 |
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Hallo, simbaladung,
vielen, herzlichen Dank für deine Anerkennung und dein "Sternchen". Weißt du, es fiel mir alles andere als leicht, dieses Gedicht zu schreiben, es fiel mir ausgesprochen schwer. Nur lese ich von Zeit zu Zeit immer wieder Gedichte, die von Depressionen erzählen. Leider (und ja, zu ihrem Glück!) wissen "Nicht-Betroffene" wirklich nicht, was eine klinische, schwere Depression ist. Vor allem wird gerne die (vorübergehende und schwächere) "depressive Verstimmung" mit der echten Depression "gleichgesetzt" bzw. verwechselt. Da liegen Welten dazwischen. Wenn die Bilder hier für dich "stark" sind, dann deshalb - weil ich es weiß. Und beständig froh und dankbar bin, dass es der Vergangenheit angehört - und inständig hoffe, dass es dabei bleibt. Daher habe ich heute beschlossen, darüber zu schreiben. Ich fand es wichtig, dass in Sachen "Betroffenheitslyrik" die "Betroffenheit" schreibt. Sei es auch nur, um mit Vorurteilen aufzuräumen. Depressive sind keine "Heulsusen", sie können es gar nicht sein; und sie sind tatsächlich selbst nicht fähig, in irgendeiner Weise zu "kämpfen"; eine Depression führt zum totalen Willensverlust, so dass sogar der reine Selbsterhaltungstrieb erlischt, wie eine Kerze, die vollständig heruntergebrannt ist. Danke für deinen Kommentar. Freundlichen Gruß, Poetibus |
30.10.2012, 15:12 | #4 |
Auf dem Hund
Das Leben konnt ich mir erhalten, in hartem Kampf hab ich’s gewonnen, jedoch das Schalten und das Walten ist zwischen Fingern mir zerronnen. Mir fehlt die Kraft zu jedem Tun, ich brauche Zeit, um zu genesen, will schlafen, liegen, denken, ruhn, der alte Mensch- er ist gewesen. Mit Macht hat er sich aufgebäumt, mit größrer noch ist er zerbrochen, sind auch die Trümmer aufgeräumt, hab doch ich Grabesluft gerochen. Da all mein Treiben und Bestreben war nichts als nur Getriebenwerden, ich rang verzweifelt um mein Leben als längst versenkt ich in der Erden. Im Totenreich bin ich gewandert, das Licht entschwand mir Stück für Stück, im Irrsinn war ich gut bewandert und suchte in der Hölle Glück. Nun bin ich bei mir angekommen und find mich sterbenskrank und wund, die Lebenskraft ist mir genommen, ich bin erschöpft und auf dem Hund. Ich bewundere Deinen Mut, Poetibus. Zwar gibt es für den Zustand im Schub der Depression keine Worte, nur hilfloses Gestammel im Nachhinein, das Deine aber kommt drastisch kraftvoll und hört sich auf jeden Fall authentisch an. Hochachtungsvollen Gruß Desperado |
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30.10.2012, 15:29 | #5 | |
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Hallo, Desperado,
Zitat:
Wie auch sagen, was dabei in einem vorgeht, wie vermitteln, dass nur das Aufstehen aus dem Bett zum geistigen Kraftakt wird? Dass auch die kleinste "Aktivität" einen erschöpft, als ob man Marathon gelaufen wäre? Wie es ist, unter totaler Schlaflosigkeit zu leiden und dann wieder viel zu viel, fast rund um die Uhr zu schlafen, so unendlich müde? Nein, es geht einfach nicht wirklich, aber dieses Mal konnte ich die Gedichte (Beschreibungen), die ich las, nicht so "stehen lassen", die Inhalte waren einfach - falsch. Ich danke dir sehr für dein Gedicht, und für dein "Hochachtungsvoll" von ganzem Herzen. Freundlichen Gruß, Poetibus |
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30.10.2012, 16:13 | #6 |
Sehr stark, Poetibus, da merkt man einfach, dass einer weiß, wovon er redet.
Ich habe zu dem Thema vor einiger Zeit auch schon mal gestammelt. Ein Haiku mit dem Titel "Hölle". Mich würde Deine Meinung dazuinteressieren. LG Persephone |
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30.10.2012, 16:18 | #7 |
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Hallo, Persephone,
ich danke dir für deine Anerkennung. Was dein Haiku betrifft, ich gehe auf die Suche. Nur muss ich jetzt noch weg, aber heute Nachmittag/Abend ganz sicher. Bis dann! Freundlichen Gruß, Poetibus |
30.10.2012, 16:26 | #8 |
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Bedrückend, Poetibus. Heute früh habe ich einen Roman von Jeffrey Eugenides zu Ende gelesen, darin ist eine der Hauptfiguren unheilbar depressiv. Dein Gedicht kam mir als Ergänzung gerade zur rechten Zeit.
Lieben Gruß Ilka |
30.10.2012, 21:11 | #9 |
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Hallo, Ilka-Maria,
ich danke dir sehr für deine Anerkennung. Das Buch kenne ich leider nicht, aber ich gestehe auch, dass ich es lieber nicht lesen möchte (so interessant es sicher ist). Es ist eine Gratwanderung. Die Rückfallquote ist im ersten halben Jahr am größten, aber auch wenn sie mit der Zeit mehr und mehr sinkt - das chemische Gleichgewicht im Gehirn bleibt fragiler als bei gesunden Menschen. Depressive Verstimmungen und die Veranlagung zu Depressionen bleiben, damit muss man lernen, zu leben. Das Schwierige ist, nicht zu verdrängen und trotzdem nicht zu sehr zurückzublicken. Das "rechte Maß" ist schwierig und individuell verschieden. Ich lernte natürlich andere an Depressionen erkrankte Menschen kennen, und bei einem Betroffenen führte die Furcht vor einem möglichen, schweren Rückfall fast zu einer Art Paranoia, zur ständigen "Selbstbeobachtung" auf der Suche nach "Anzeichen". Das ist ja das Heimtückische an einer Depression, sie "schleicht" herein, das geht über Wochen, Monate, manchmal (wenn auch seltener) sogar über Jahre. Das Problem vieler: Man wurde dazu erzogen, sich "zusammenzureißen", die Zähne zusammenzubeißen, etc. pp. Also wird zu der Zeit, als man noch die Kraft hätte, nach Hilfe zu suchen, krampfhaft versucht, sich selbst zu helfen. Geht nicht. Wenn die Depression einen dann wirklich fest in den Klauen hält - ist man zu der nötigen Aktivität nicht mehr fähig. Ich wünschte mir, dass Familien und soziales Umfeld mehr darauf achten würden, was mit den Menschen los sein kann, die abnehmen (an Körpergewicht), die sich mehr und mehr zurückziehen, Freundschaften "einschlafen" lassen, die kaum noch aus dem Haus gehen, sich vernachlässigen ... Herzlichen Dank für deinen Kommentar. Freundlichen Gruß, Poetibus |
31.10.2012, 15:51 | #10 | |||||
Hallo Poetibus,
Inhalt, Ehrlichkeit und Technik Deines Gedichts beeindrucken mich. Coole Zeilenumbrüche, „depressive Widersprüche“ wie: Zitat:
Zitat:
Was ich u.a. noch interessant finde, ist, Du trennst hier das Selbst und das Ich voneinander. Auch cooool, für mich. Zitat:
Vielmehr kann ich einer Depression u.a. durchaus auch etwas positives abgewinnen. Wenn ich denn durchhalte. Sie „entwickelt“ mich weiter. Ich bin gezwungen, mein bisheriges Sein zu überdenken und eine Antwort, für mich persönlich, gibst Du, ich denke wenn auch ungewollt, selbst schon auf die Ursache für eine Depression. Zitat:
Wir sind alle Anerkennungsjunkies, yes! Unser ICH und unser SELBST „leben“ Seite an Seite in uns. Zu erkennen, daß das ICH in uns nicht ich bin, ist die Herausforderung. Dabei hilft uns unser Selbst. Höre nicht auf das ICH, auch wenn es noch so laut schreit. Es ist wie mit der Wut und all den anderen menschlichen Affekten der Trauer: Sie kommen und gehen, doch greifbar sind sie nicht. Sie machen uns nicht aus, erst das ICH verleiht ihnen ihre Macht. Somit ist es an uns, ob wir diese Wellen surfen oder darin ersaufen. In einem Punkt möchte ich Dir nun doch noch widersprechen: Zitat:
Wie gesagt, ein für mich sehr eindrucksvolles Gedicht. Du bist ein vorbildlicher Typ mit dem Herzen am rechten Fleck und ich wünsche Dir auch weiterhin die Kraft, welche Dich bis heute getragen und zu dem gemacht hat, wer Du nun bist. Und für mich gilt immer noch: Keine Zeit für Depressionen! Staubige Grüße Dead Man |
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31.10.2012, 23:09 | #11 | |||||||||||
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Hallo, DEAD MAN,
für deinen Kommentar nahm ich mir Zeit, ich wollte ihn gründlich lesen und darüber nachdenken, was ich antworte. Ein ausführlicher Kommentar wie dieser ist selten - danke sehr. Zitat:
Zitat:
Zitat:
Zitat:
Zitat:
Zitat:
Ja, wie ich bereits schrieb: Das "Ich" ist nur ein Steuermechanismus, ein Transmitter, dient zur Verarbeitung externer und interner Reize, dient zur Kommunikation mit anderen. Das ICH macht uns nicht zu Menschen, es ist nicht das "Selbst". Da ist eben, wie gesagt, das ganze Auto "dahinter, dazwischen, daneben, dabei, damit verbunden". Das wäre so, als ob jemand behaupten würde, die Benutzeroberfläche am Bildschirm wäre der "ganze" Computer. Es ist Tatsache, dass ich mit meinen Empfindungen seither anders umgehe, sie gewissermaßen mit anderen Augen betrachte. Ich wäre früher auch nie auf den Gedanken gekommen, Gedichte zu schreiben, mich mit Lyrik oder Philosophie zu befassen - ich war zu überzeugt, dass ich "so etwas" ohnehin nicht könnte. Was mich betrifft, gehört auch ein ganz neues Selbstbewusstsein zu dem "Positiven". Zitat:
Zitat:
Zitat:
Freundlichen Gruß, Poetibus |
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31.10.2012, 23:38 | #12 |
Forumsleitung
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Lieber Poetibus,
ich bin zwar nicht betroffen, aber das Thema interessiert mich, weil so unfaßbar viele Menschen an Depression erkranken und weil diese Krankheit - da sie verschiedene Erscheinungsbilder hat - so schwierig zu definieren und zu fassen ist. Dein Vergleich mit den perfekt zusammengesetzten Autoteilen, die ohne Lenker keinem Ziel zugeführt werden können, während umgekehrt der Lenker alleine auch sinnlos wäre, ist schon mal ein guter Weg, verständlich zu machen, was da vor sich geht. Ich zitiere mal die folgende Passage, vielleicht kann sie etwas bei"steuern": "Soll ich dir sagen, was geschieht, wenn jemand klinisch depressiv ist? [...] Was geschieht, ist folgendes: Das Gehirn sendet ein Signal aus, dass es stirbt. Das depressive Gehirn sendet also dieses Signal aus, und der Körper empfängt es, und nach einer Weile meint der Köprer, er stürbe ebenfalls. Und dann beginnt er herunterzufahren. Deshalb tut eine Depression weh [...] Deshalb schmerzt sie köperlich. Das Gehirn denkt, es stirbt, und folglich denkt der Körper, er stirbt, und dann registriert das Gehirn das, und sie melden sich in einer Rückkoppelungsschleife hin und her." Das scheint mir ziemlich genau den Zustand wiederzugeben, den Du in Deinen ersten beiden Versen Deines Gedichtes beschrieben hast ... und das zeigt, dass Du es gut gemacht, nämlich getroffen hast. Das Zitat stammt natürlich aus dem bereits erwähnten Roman. |
01.11.2012, 00:18 | #13 | ||
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Liebe Ilka-Maria,
Zitat:
Ich selbst gehöre zum unipolaren Teil der Betroffenen. Zitat:
Dieses "Sterbesignal" muss nicht unbedingt mit einer körperlichen Schmerzempfindung einhergehen, es kann sich auch ohne "rückkoppeln", in einer Art "Endlosschleife", daher auch der "Kreis", den ich erwähnte. Das biochemische Ungleichgewicht sorgt tatsächlich dafür. Die Beschreibung im Buch ist gut, ich hoffe nur, dass es nicht als "auf alle zutreffend" geschildert wird. Was mich betrifft, empfand ich keine körperlichen Schmerzen, selbst das Hungergefühl war "uninteressant", als es mir am schlechtesten ging. Und, da es noch nicht komplex genug ist: Es gibt Fälle, denen es mental/emotional "besser" ging, als sie körperlich erkrankten. Ein weites Feld ... Ich lernte eine depressive Frau kennen, die davon berichtete, dass sie ihren Körper gar nicht mehr wirklich als "zu ihr gehörig" empfunden hätte. Das ist schwierig zu erklären - mit dem "Verstand", dem Denken nahm sie ihn als eigenen Körper wahr, aber sie "fühlte" ihn nicht so, die "emotionale Beziehung" fehlte. Essen, Zähneputzen, simple Körperpflege - das "Motiv" dafür, das Interesse für das eigene Wohlergehen/den eigenen Körper, fehlt. Herzlichen Dank, dass du dich noch einmal gemeldet hast. (Die Passage aus dem Buch ist gut, nicht missverstehen. Es geht mir wirklich nur darum, dass es eben sehr viele "Varianten" einer Depression gibt.) Freundlichen Gruß, Poetibus |
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01.11.2012, 13:01 | #14 |
auch von mir noch mal ein herzliches Dankeschön für deine Offenheit und die hautnahe Aufklärung in deinen Erläuterungen ...
Es ist gut, dass du das Thema hier im Forum so angepackt hast, es ist gut, dass es in Büchern und Gesprächsrunden zur Sprache kommt, damit es immer mehr Menschen ins Bewusstsein rückt, woran unsere Gesellschaft krankt ... damit sich vielleicht etwas ändert ... lg simba |
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01.11.2012, 13:12 | #15 |
ein herausragendes gedicht mit ganz starken bildern, kompliment,
die |
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01.11.2012, 14:13 | #16 |
Lieber Poetibus,
es ist ein sehr beeindruckendes Gedicht, begleitet von ausführlichen Kommentaren. ich habe es mehrmals gelesen, denn Du beschreibst Dinge, die mir sehr bekannt sind.
Auch die Kommentare sind lesenswert, zeigen sie doch Interesse und Teilnahme. Ich wünsche Dir weiterhin Kraft und Stärke. Ganz liebe Grüße sendet Twiddy... |
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01.11.2012, 14:37 | #17 | |||
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Hallo, simbaladung,
Zitat:
Die "Leistungsgesellschaft", ja. Weißt du, ich konnte nicht selten der Meinung begegnen, dass "früher" die Menschen "keine Zeit hatten, um depressiv zu werden", dass es in Not- und Kriegszeiten keine Depressionen gab, etc. pp. Wofür ich das halte, das kann ich gar nicht sagen, da fehlen mir die Worte. Vor allem: Und danach? Aber genau das zeigt, wie über Depressionen gedacht wird: Eine "Modekrankheit", alles "Waschlappen". Leider gibt es dieses Bild noch viel zu oft: "Es geht uns heute einfach zu gut". Himmel, hilf ... Ich hoffe auch sehr, dass sich vielleicht etwas ändert - auch wenn ich wirklich nicht glaube, dass ich mit meinem Gedicht mehr als ein paar einzelne Menschen erreichen kann. Aber je mehr geschrieben, darüber gesprochen und "aufgeklärt" wird, desto mehr Aussicht besteht, auch das ist wahr. Freundlichen Gruß, Poetibus ------------------------------------------------------------------ Hallo, die, Zitat:
Freundlichen Gruß, Poetibus ------------------------------------------------------------------ Lieber Twiddy, Zitat:
Irgendetwas läuft grundlegend falsch. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass sich eben doch mit der Zeit etwas ändert, dass die gesellschaftliche Fixierung auf "Leistung und Konsum" als die Definition des Wertes eines Menschen, der ohne das "nichts gilt, nichts wert ist", zum Menschen als solchen zurückkehrt. Vielleicht, irgendwann ... Ich wünsche dir ebenfalls Kraft und Stärke und danke dir herzlichst. Freundlichen Gruß, Poetibus |
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01.11.2012, 15:24 | #18 | |
Zitat:
nur ein verschwindender Teil an Depressionen Erkrankter verlässt die Klinik „geheilt“. Der Großteil muss sich mit medikamentöser „Einstellung“ und bestenfalls äußerst fragiler Wiederherstellung begnügen. Die Möglichkeiten der Nachbetreuung sind begrenzt, eine Psychotherapie bringt mitunter längere Wartezeiten mit sich. Der „Rückfall“ ist nicht selten vorprogrammiert. Dabei liegt es weniger am Patienten, die während des Klinikaufenthaltes erkannten und aufgezeigten Verhaltensmuster erfolgreich zu ändern, als vielmehr an seiner Umgebung. Dieselbe erwartet die Rückkehr des Kranken in sein vorheriges Leben und übersieht gerne, dass eben dieses seine Depression zumindest ausgelöst wenn nicht sogar verursacht hat. Eine langfristige Besserung und schrittweise Genesung verlangt jedoch nicht allein eine Veränderung der Lebensumstände, sondern vielmehr eine solche der Persönlichkeit des Erkrankten, ein Umstand, der für gewöhnlich eine Überforderung für das soziale Umfeld des Betroffenen darstellt. Das größte Problem der Depressiven ist somit ihre Rückkehr in die sogenannte normale Welt, zumal es immer noch Zeitgenossen gibt, in deren beschränkter Wahrnehmung Depression eine Art Wehleidigkeit und Charakterschwäche bedeutet. Das ist in etwa so, als würde man einem Querschnittgelähmten Bewegungsfaulheit vorwerfen. Der Depressive hat grundsätzlich das Recht und den Anspruch auf Rücksichtnahme und Entgegenkommen seitens der Mitmenschen. Reagieren diese aber mit Unverständnis, demütigendem Mitleid oder gar mit Ablehnung und Aggression, ist Rückzug bisweilen die einzig mögliche Verteidigung. Die ohnehin verminderte Konfliktfähigkeit des Kranken verlangt ihm einen verantwortungsvollen Umgang mit seinem Kräftehaushalt und stete Selbstkontrolle in punkto Belastbarkeit ab. Eine rücksichtslose und uneinsichtige Umgebung kann und darf zum Wohl des Erkrankten nicht zu seinem eigenen Problem gemacht werden. Er ist gezwungen, sich von seiner Umwelt zu distanzieren und schützen. Dies wiederum birgt freilich die Gefahr der Isolation und Vereinsamung in sich, der besten Voraussetzung also für ein erneutes Abgleiten in die Depression. Der Kranke befindet sich in einer Art Teufelskreis oder Zwickmühle, der zu begegnen und widerstehen ihm ungeheure Kraft abverlangt. Ein erbarmungsloser Existenzkampf, der nur allzu oft ein Erschöpfungssyndrom und einen erneuten Zusammenbruch zur Folge hat, der von den Betroffenen schlimmer und entmutigender erlebt wird als der vorhergehende, da die damit einhergehenden Symptome bewusster wahrgenommen werden. In Wahrheit aber ist er meistens weniger lebensbedrohlich und sollte am besten als notwendiges Signal und weiterer Schritt zur mühsamen Genesung verstanden und akzeptiert werden. Einen "vernünftigen" Grund zu abwehrender Paranoia gibt es jedenfalls nicht, zumal diese unter Umständen das genaue Gegenteil bewirkt, indem sie die Verdrängungsmechanismen und Selbstheilungsversuche verschärft und den Zusammenbruch höchstens noch verschlimmert. Rechtzeitig und lieber zu früh Hilfe suchen und in Anspruch nehmen, wenn's nicht mehr geht, mehr gibt es dazu eigentlich nicht zu sagen. Krankheit ist nunmal Krankheit und keine Befindlichkeit. Herzlich Desperado |
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01.11.2012, 20:09 | #19 |
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Hallo, Desperado,
ich hoffe, dass ich nicht wieder etwas so geschrieben habe, dass es anders interpretiert wird, als ich es eigentlich gemeint habe - leider verfüge ich da über ein anscheinend nicht unbeträchtliches Talent, wie ich befürchte. Was meine Antwort auf deinen Kommentar betrifft, verfasste ich einen recht langen Beitrag, aber ich stand wieder vor der Sorge, dass es nicht so herüberkommt, wie es gemeint ist. Gerade bei diesem Thema ist es noch schwieriger als sonst. Und ich weiß, dass es an mir liegt, kann es nur nicht ändern (wäre eine PN-Sache, es genauer zu erklären). Daher antworte ich hier sehr vorsichtig, und kürzer als ich ursprünglich schrieb. Du hast absolut recht, Mitleid ist reinstes Gift. Denn Mitleid bedeutet, dass ein Betroffener für "bemitleidenswert" gehalten wird (und sich selbst so sieht) - das verstärkt das negative Denken, das negative Selbstbild nur noch mehr. Wichtig ist mir, dir zu sagen, dass ich auch immer noch in Behandlung bin - aber zuversichtlich bin, dass ich die Krankheit besiegen werde, nicht sie mich. Ich fand Hoffnung, einen neuen Weg, und, wie du ja bereits weißt, gab es in meinem Leben auch so etwas wie "besondere Umstände", die meine Perspektive grundlegend veränderten. Bei mir führte es zum "Ausbruch", sowohl aus dem alten Leben als auch zum "Durchbrechen" des Teufelskreises des negativen Denkens. Bitte nicht missverstehen, wenn ich sage: Ich will gesund werden. Und ich glaube, dass ich es kann und ich kann, weil ich es glaube. Ich will leben, und mein Leben nicht von dieser Krankheit bis ans Ende meiner Tage beherrschen lassen. Die ganze Energie des Willens, den ich "fand", mit Behandlung und Hilfe, setze ich daran, das Negative durch das Positive in meiner Wahrnehmung (äußerlich und innerlich) mehr und mehr zu ersetzen. Für mich ist das der Weg. Mühselig, langwierig - aber: Schlimmer als die Hölle (und die habe ich überlebt) kann es gar nicht sein. Und ist es auch nicht, es braucht eben nur alles seine Zeit. Die Crux ist ja, dass wir heutzutage auch auf das Erwarten eines "sofortigen" Erfolges von Bemühungen konditioniert sind. Geduld mit sich selbst haben, nicht enttäuscht sein, wenn etwas nicht sofort klappt, das sind Dinge, die ich "mitlerne" - Learning by Doing. Eine junge Psychologin im Krankenhaus, noch voll Enthusiasmus (vielleicht gerade deshalb), brachte mich auf den Weg. Sie sagte etwas zu mir, das sich in mein Gedächtnis eingeprägt hat, das ich nie vergessen werde und nie vergessen will: "Warum glauben Sie, sie wären schwach? Sie sind durch die Hölle gegangen, das sagten Sie selbst, und sind aus ihr zurückgekommen. Kann das jemand, der schwach ist? Sie sind sehr stark, stärker als viele andere Menschen. Sie haben überlebt." Natürlich hat das kein "Wunder bewirkt", ich brauchte lange, bis ich bereit war, endlich zu akzeptieren, zu glauben, dass ich nicht schwach bin, bis ich imstande war, die Tatsache zu begreifen: Ich bin stark. Mit Arroganz hat das nichts zu tun, ich gewann etwas, das ich zuvor nicht besaß: Selbstbewusstsein. Ich definierte mich selbst durch andere, durch das, was ich leistete, was ich "brachte". Als ich endlich zu mir selbst fand, erkannte, dass ich "Jemand bin", dass ich, um etwas "wert zu sein", nicht die "(Ein)Schätzung" anderer brauche, seither mache ich echte Fortschritte. Ich "traue" mir mehr und mehr zu, begann mit dem Schreiben von Gedichten - und nur ein paar Jahre zuvor hätte ich nie geglaubt, dass ich "so etwas" überhaupt könnte. Seit nunmehr zwei Jahren lebe ich ohne Medikamente. Es ist geistige Knochenarbeit, dieses Negativ-Denken, dieses negative Selbstbild, das ich hatte, seit ich denken kann, abzutrainieren. Und ich trainiere täglich, meinen geistigen Fokus auf das Positive (sogar im Negativen) zu lenken. Ich nehme nichts mehr passiv hin, akzeptiere nicht länger ein "mir zugeteiltes Schicksal". Statt dessen will ich, ja, sogar in Gedichten, das Gelungene sehen, nicht nur die Fehler. Das Negative ist weniger wert als das Positive. Als ich endlich "begriffen" hatte, dass nur ich selbst alles ändern kann, beschloss ich, mich "umzukonditionieren", die alten, tief eingegrabenen Flußbetten mit der Schaufel anzugehen und die Flüsse umzuleiten (auch die Begriffe von "Flussbetten" und "Schaufel" stammen von dieser Psychologin), egal, wie lange es dauert, jeden Tag aufs Neue. Meine "innere Kraft" vergeude ich nicht mehr in dem Bemühen, zu "gefallen", auf der ständigen Suche nach Anerkennung. Ich entschied, meine Stärke für mich selbst zu verwenden. Und ich erkannte, dass ich sie tatsächlich habe. Und das möchte ich gerne weitergeben: Alle, die eine schwere Depression überlebt haben, sind sehr starke Menschen. Und ich wünsche jedem, hoffe für jeden, dass er/sie das erkennt und aus dieser Kraft die notwendige Stärke schöpft. Ihr habt sie alle, ich bin kein Einzelfall. Ihr habt genauso überlebt wie ich. Freundlichen Gruß, Poetibus |
02.11.2012, 10:18 | #20 | |
Zitat:
Klar willst Du gesund werden, Poetibus, sollst Du ja auch. Und bist ganz offensichtlich auf dem richtigen Weg, einem guten, der zu Dir führt und von da aus in die Freiheit, ein beschwerlicher und weiter mag sein, aber einer, den's gibt und der zu packen ist. Ich hab ja nur ein paar Erfahrungen gebündelt, die mir anhand der Deinen so durch den Kopf geisterten, nämlich dass "Rückfälle" bei weitem nicht so dramatisch sind, wie bisweilen angenommen oder erlebt, jedenfalls nichts, vor dem man zwanghaft panisch davonlaufen müsste oder besser könnte- eher Wegmarken, um erneut und gründlicher in die rechte Spur zu finden. Depression wird, vielmehr ist sowieso schon Volkskrankheit Nummer eins, und von daher ist es vollkommen schlüssig und mitnichten fehl am Platze, wenn sie Eingang in die Poesie findet und darüber erörtert wird. Die erste Hemmschwelle, nämlich die, sich als Betroffener zu "outen", ist die höchste, danach geht's sehr viel selbstverständlicher und leichter, davon zu sprechen. Hat ja mit Versagen oder Schwäche überhaupt nichts zu tun, es handelt sich um eine Erkrankung der Psyche in vielfältiger Ausprägung auf Grund einer Verschiebung der Botenstoffe im Gehirn, deren Ursache noch nicht erforscht ist, eine Krankheit, die grundsätzlich jeden Menschen ereilen kann, ich wiederhole: Jeden. Höchste Zeit also, sie mal ungeschminkt zur Sprache zu bringen. Freundliche Grüße Desperado |
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03.11.2012, 00:08 | #21 |
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Hallo, Desperado,
spät heute, war ein "ausgefüllter" Tag, vorher hatte ich keine Zeit. Daher bin ich auch etwas müde, es wird wohl ein bisschen kürzer als "üblich". Volkskrankheit Nr. 1 - ja. Und ich frage mich ständig, warum bei dieser Tatsache nicht die gesellschaftlichen Alarmglocken klingeln. Eingang in die Poesie, das hast du schön gesagt. Ich bin Realist, daher weiß ich, dass die Poesie mit ihrem heutzutage leider nicht sehr großen "Stellenwert" in der Konsum- und Fernsehgesellschaft nicht die Wirkung ausübt, die sie könnte - fände sie nur mehr Beachtung. Aber das ist natürlich kein Grund, sie nicht trotzdem auch für Themen einzusetzen, die wichtig sind. Denn, was sich im Zuge der Zeit auch immer verändern mag, eines war, ist und bleibt wahr: Die Feder ist mächtiger als das Schwert. Ich stimme dir zu, ob bei Depressionen und anderen Erkrankungen (in einem anderen Forum las ich von Alkoholismus), es ist wichtig, dass sich Betroffene "outen". In erster Linie natürlich für sich selbst, aber auch, um Mut zu spenden. Wenn etwas überwunden, zur Vergangenheit werden soll, dann muss man "loslassen". Wie Goethe so treffend sagte: Gedichte schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen. Und das "Bild" von Depressionen, das immer noch in großen Teilen der Gesellschaft vorherrscht (es geht uns zu gut, Modekrankheit Depression, Depressionen gibt es gar nicht, Depressive sind Schwächlinge etc.), endlich zu ändern, damit klar wird, was du am Ende deines Kommentars schreibst: Es ist eine Krankheit, das Gehirn ist ein Organ, dessen Erforschung gerade erst begonnen hat. Mittlerweile las ich sogar von Theorien (noch nicht klar, ob etwas "dran" ist oder nicht), die unsere zunehmende Belastung mit Umweltgiften als einen Faktor mit ins "Spiel" bringen. Wie gesagt, es ist noch gar nichts "nachgewiesen", aber für mich hört sich das zumindest nicht unsinnig an, daher bleibe ich mal "offen" dafür, mal sehen, was künftig dabei herauskommt. Denn wenn ich mir erlaube, ein wenig zu spekulieren, dann sehe ich die zerbrechenden Familien- und Sozialstrukturen, eine auf Leistung und Konsum ausgerichtete Ellenbogengesellschaft - und Umweltgifte. Für mich klingt das jedenfalls nicht unlogisch, setze ich es in Beziehung mit der wachsenden Anzahl von depressiven Erkrankungen. Noch einmal vielen Dank für deinen Kommentar und für deine Ausführungen. Freundlichen Gruß, Poetibus |
03.11.2012, 12:58 | #22 |
Gedicht: Sehr schön, sehr lyrisch
Inhalt: Tragisch, weil Depressionen sehr grausam sein können. Alles Gute Dir wolfmozart |
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03.11.2012, 13:04 | #23 |
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Hallo, wolfmozart,
ich bin gerade im Forum "unterwegs" und lese, deshalb kommt meine Antwort so flink. Ich bedanke mich herzlich, sowohl für dein Lob, was das Gedicht im formalen und inhaltlichen Sinn betrifft, als auch für deine guten Wünsche. Ich tue mein Bestes. Freundlichen Gruß, Poetibus |