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Lebensalltag, Natur und Universum Gedichte über den Lebensalltag, Universum, Pflanzen, Tiere und Jahreszeiten. |
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04.06.2017, 13:33 | #1 |
Die Wand
Er hatte sie vor vielen Jahren
zuerst bestiegen, und sie rief nach ihm, so schien es, wenn er schlief, um es noch einmal zu erfahren. Und war er nun auch alt geworden und fügte sich des Lebens Lauf, so brach er eines Nachts doch auf, und sollte sie ihn auch ermorden. Stand ihr zu Füßen, sah die Schatten der Wolken, die mit schwarzer Hand sie streichelten, und trank gebannt das Mondlicht von den Felsenplatten. Dann griff er zu. - Die Fingerkuppen in Knöchelgrübchen eingehängt, zog er sich, eng an sie gedrängt, empor und fühlte Kalksteinschuppen. Sein Fuß betrat die zarten Kehlen am zweiten Pfeiler, und er kroch, schwer atmend schon, zum Stollenloch, um sich im Riss hinauf zu quälen. Dort harrte er, begann zu zittern. Die Altersschwäche fiel ihn an. Die Wand jedoch schien ihren Mann, ihr Glück, an seinem Schweiß zu wittern. Gleich schmiegten sich die grauen Steine an seine glühend heiße Stirn, und kühlend fiel vom Gipfelfirn in Schleiern eines Rinnsals Leine. Der Mond, der stille Wegbereiter, erleuchtete die rote Fluh, und des Belebten Kletterschuh stieg nun schon durch das Eisfeld weiter. Vom Götterquergang in die Spinne, ihr weißes Netz hing in der Wand, kristallen glitzernd jedes Band umschlang es zärtlich seine Sinne. Unendlich groß war dann die Wonne als er, soeben wich der Mond, den letzten Schritt tat und belohnt ins Weite sah, in erste Sonne. Zur Wand hin, die ihm das bereitet, verneigte er sich, nun am Ziel - und hob den Kopf nicht mehr und fiel ins Tal, so freundlich hingebreitet… |
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04.06.2017, 22:49 | #2 |
Lieber Gummibaum,
was für ein famoses Stück! Du hast mir mit dieser Kletter-Ballade einen neuen Favoriten beschert. Spannend bis zum Ende ... und was für ein Ende! Ich nehme an, der Kletterer ist eine Fiktion? Ich habe zumindest dort keinen überlieferten Suizid recherchieren können. Freundliche Grüße von Stachel |
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04.06.2017, 23:36 | #3 |
abgemeldet
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Lieber Gummibaum,
was für ein grandioses Werk, ich werde es ebenfalls zu meinen Favoriten reihen. Ich habe es mehrfach gelesen und jedes Mal hatte ich ein anderes Bild, einen Bergsteiger sah aber nicht... Ganz wunderbar geschrieben! Lieben Gruß Letreo |
04.06.2017, 23:39 | #4 |
Danke, lieber Stachel. Ja, eine Fiktion.
Danke, liebe Letreo. Ja, es kann auch was anderes sein. LG gummibaum |
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05.06.2017, 00:01 | #5 |
Hallo Gummibaum
Ich mag deine Gedichte sehr. Du benutzt das einfache unverschörkelte Wort und drückst damit alles aus. Mich berühren deine Werke, auch dieses wieder. Der Bergsteiger hatte doch einen wunderbaren Tod, er ist am Ziel seiner Träume gestorben.
Liebe Grüße Schnulle |
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05.06.2017, 11:19 | #6 |
Danke, lieber Schnulle. Ich wünsche dir einen schönen Sonntag.
LG gummibaum |
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05.06.2017, 14:23 | #7 |
Dabei seit: 12/2009
Ort: In den Auen des Niederrheins
Beiträge: 2.662
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Lieber gummibaum,
mir ist, als ob ich eine Perle gefunden hätte. Dein Gedicht, nein dein Werk, ist atemberaubend. Ich habe mit dem LI gebangt und gefiebert und den Fels und die kleinen Unebenheiten gespürt. In "Die Wand" wird deutlich, wieso so viele Bergsteiger von ihr und anderen angezogen werden und sie ihr Schicksal ist. Entweder hast du sehr ausführlich recherchiert oder hast selbst solche Wände bezwungen. Eigenartig, dass mir der für einen Flachländer und Nichtschweitzer ungewöhnliche Begriff "Fluh" heute zum zweiten Mal vor die Augen kommt. Das Ende ist für einen Bergsteiger nur folgerichtig. Liebe bewundernde und anerkennende Grüße Nöck |
05.06.2017, 14:29 | #8 |
Forumsleitung
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Ein klasse, außergewöhnliches Gedicht, voller Sinnlichkeit und Atmosphäre.
Ich meine aber, dass es heißen müsste "in erste Sonne". Soll ich das korrigeren? LG Ilka |
05.06.2017, 16:45 | #9 |
Danke, lieber Nöck.
Nein, selbst bin ich nicht geklettert. Vor der Eiger-Nordwand habe ich aber schon gestanden und kann mir das Gefühl, von ihr wie von einer Frau in den Träumen verfolgt zu werden, gut vorstellen. Danke, liebe Ilka. Ich freue mich. "erste" ist besser, dann muss aber wohl ein Komma davor. Kannst du gern ändern. LG gummibaum |
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05.06.2017, 20:24 | #10 |
Hi gummibaum,
schon beim Titel und nach der ersten Strophe musste ich an den Watzmann und seine Ostwand denken. Der gesamte Inhalt erinnert mich an das Album “Der Watzmann ruft“. Ein wirklich starkes Gedicht, dass mitnimmt! Gruß, Tiger |
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06.06.2017, 06:37 | #11 |
Danke, lieber Tiger.
LG gummibaum |
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