Die Goldene Regel
Durch die größten Zeiträume hindurch geschah es auch einmal, dass der zufallsartige Verlauf der Geschichte irgendwo auf der Erde eine kleine Gesellschaft hervorbrachte, die auf das Vollkommenste den Idealen der Gleichheit und Liebe entsprach. Jedermann empfand das Wohlergehen des Nächsten nicht nur als völlig gleichwertig dem eigenen, sondern sogar eigentlich gar nicht unterschieden dazu. Und weil jeder in seinem Nächsten genau die Bedürfnisse vorhanden wusste, die er selbst kannte und stillen wollte, war des Mangels und des Leidens nicht; zumal die Natur, von der Gier befreit, genau in dem Maße zu geben willig war, wie es für die unveränderliche Gemeinschaft hinreichte, um weder allzu harter, mühsamer Arbeit, noch der Langeweile der Untätigkeit anheimgestellt zu sein. Neid und Habsucht aber wollte niemand aufkommen lassen, denn dieses Übel wäre dem Täter ebenso vorgekommen, als wäre es ihm selbst geschehen. Was soll man sagen – die Menschen dieses besonderen Landes stimmten in den Ansichten über Tun und Ergehen so trefflich überein und lebten so selig und friedlich in den unveränderlichen Grenzen der Natur dahin, wie es sich irgendein friedliebender Mensch nur vorstellen kann.
Eines Tages begab es sich, dass ein verirrter Reisender aus einem ganz anderen Lande über die Grenze trat. Kein Bewohner wusste, ihn wieder auf den rechten Weg zu schicken – denn sie kannten gar keine Länder hinter dem Horizont, weil es sie nichts anging –, und so wuchs der Gemeinschaft ein neues Glied an, das überall mit der Freundlichkeit aufgenommen wurde, von welcher man allgemein meinte, dass sie sich für einen selbst in der Rolle des lang umhergeirrten Fremdlings besonders gezieme.
Der Neuankömmling betrachtete das Treiben und Leben des kleinen Volkes mit einigem Interesse und Befremden, und bald trat er zu einem der Bewohner, um mit ihm eine Unterredung zu beginnen.
„Höre, mein Freund! Es scheint mir, dass euer Leben und Weben in diesem Land einer alles überragenden Regel folgt: Ihr geht mit solcher Selbstverständlichkeit und Friedfertigkeit miteinander um, wie ich sie unter meinesgleichen nie für möglich gehalten habe: Sagt mir, was diese Regel ist, und woraus es entspringt, dass ihr euch dieser folgsam zeigt.“
Der Bewohner entgegnete: „Aber das ist doch deutlichste Sache der Welt: Wir tun unserem Nächsten nur das, was wir selbst auch von ihm wünschen, uns zu tun; und in der Umkehr unterlassen wir, das, was uns missfällt, jemand anderem zu tun. Denn jeder weiß, dass in uns allen dieselben Wünsche und Ängste liegen, und dass jeder liebt und fürchtet wie ich, was unabänderlich ist.“
Der Neuankömmling fragte weiter: „Wie viele Menschen sind es, die in diesem Land leben?“, und bekam zur Antwort: „So viele, wie es die Natur möglich macht. Unsere Zahl bleibt daher gleich.“ – „Was ist das Ziel eures Daseins?“ – „Leicht gesagt: Das Glück des Daseins der größtmöglichen Zahl zuteilwerden zu lassen! Denn ich weiß, was mich glücklich macht; und das möchte jeder so oft wie möglich erleben. Ich fasse zusammen: Jeden liebe ich so sehr, wie er mich und ich mich selbst.“
Nun wusste der Neuankömmling, genug gehört und verstanden zu haben, und in einem Übermaß an Unmut griff er dem Bewohner in seiner Rede mit einem Male ins Maul und riss ihm im die Zunge heraus. Dann schrie er dem sich im Staub krümmenden zornesrot zu: „Jetzt weiß ich, dass ich dich und dein Volk verachten muss, wie ich noch nie ein Volk verachtet habe. Euer Dasein ist eine hohle Verschwendung, ein Wiederkäuen desselben Grases; ihr rühmt euch, keinen Eigennutz zu kennen, und doch schätzt ihr den Eigennutz so hoch ein wie niemand anders. Wenn Milliarden eurer Art lebten, wär's so gut, als lebte einer von euch; es würde für alle gelten. Ihr wollt alle nur eines: So glücklich sein, wie jeder andere. Aber ihr seid ja alle gleich, so ist auch euer Glück nur dasselbe. Trotzdem wollt ihr es bis ins Unendliche gesteigert. Und das kommt daher, dass ihr eben doch nicht meint, dass ihr gleich seid; vielmehr meint jeder, dass es einen Gewinn darstellt, wenn sein eigenes nichtiges gleiches Glück noch auf den großen Haufen geworfen wird. Das ist die Täuschung, der ihr erlegen seid; das ist die wahre Triebfeder eurer Regel.“