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#1 |
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„Jeden Tag sitzt er da am Hafen und trauert vor sich hin“, sprach der Hafenmeister mit schwerer Last.
„Was veranlasst ihn zu solch einem Verhalten?“, fragte der Leutnant. „Nun, ich weiß einiges über diesen Jungen, doch jenes ist mir nicht ersichtlich. Er hat seine Mutter vor neun Jahren verloren, jetzt ist er elf. Alle Kinder spielen im Sand, doch für ihn ist das alles unnützes Zeug. Er ist ein wenig eigen, müssen Sie wissen.“ „Eigen also – ist das schon alles?“, der Leutnant im ernsten Tone, als würde er jeden Moment „Achtung! Stillgestanden!“ rufen. Der Hafenmeister nahm die Mütze ab und strich mit seiner rauen Hand durch seine grauen Haare. „Ob das schon alles ist“, wiederholte er. Der Hafenmeister holte tiefer aus: „Nein, nein, gewiss nicht. Vermutlich ist er nicht mal eigen. Den meisten Leuten genügt solch einfache Erklärung – sie wollen sich nur ein kurzes Bild von ihm verschaffen. Denn wenn wir ehrlich sind: Niemand, der sich hier an der Promenade flanieren lässt, würde auch nur im Ansatz überhaupt begreifen wollen, wie es dem Jungen geht.“ Der Leutnant lüftete seinen Hut. Zwar war es wenig, dennoch bewies er Mut. Er blickte den Hafenmeister mit bedächtiger, trauriger Miene an und begann, seine alten Stimmbänder nochmals in Schwingung zu versetzen, um kurz mit genierter, rauer Stimme noch ein paar Vokale herauszubringen: „Ich verstehe, so ist das also“, und ließ die Augen sinken. „Ich werde jetzt gehen.“ Der Hafenmeister – plötzlich verwundert – im stillen Tone wieder der Leutnant: „Warum?“ „Damit Sie, Herr Leutnant, den Jungen kennenlernen“, sprach er und ging. Der Leutnant wartete, bis der Hafenmeister nicht mehr auf der Promenade zu sehen war. Es wäre ihm unangenehm, würde er sehen, wie er mit dem Jungen reden würde. Er setzte nun seine Schritte an – einer schwerer als der andere. Mit jedem Schritt verlor er ein Jahr Lebenszeit und kam brüchig bei dem Jungen an. Er setzte sich zu ihm nieder. Seine Jacke war ihm schon lange zu groß. Und der Junge – er ließ die Beine im Wind tanzen. Ein paar Möwen zogen kreischend ihre Kreise. „Warum sitzt du hier?“, fragte der Leutnant mit brüchiger Stimme. „Ich warte auf meine Mama.“ „Vergiss sie, sie wird nie wieder kommen.“ „Und trotzdem ist sie jeden Tag bei mir.“ „Wie soll das gehen?“ Der Junge deutete auf seine linke Brust und sagte: „Sie ist in mir.“ Der Leutnant ließ den Blick senken. Sanft schlugen die Wellen gegen die Felsen. Sie sagten nichts in der Dämmerung – bis die Sonne untergegangen war. Dann begann der Junge zu reden: „Irgendwann kommt sie wieder.“ „Ganz bestimmt, ja“, sprach der Leutnant, als wenn ihm ein Stein vom Herzen fiele. „Hast du keine Bleibe?“, fragte der Leutnant. Der Junge schüttelte sanft den Kopf und sprach: „Meine Bleibe sind die Wellen.“ „Die Wellen?“, wiederholte der Leutnant. „Ja, die Wellen. Sie tragen alles mit sich herum: das Glück, die Freude, die Angst, die Trauer, das Lieben – einfach alles, was mir wichtig ist. Und all diese einfachen Dinge fließen durch wuchtige, ewige Fluten, werden zur Gischt und schäumen um den Bug. Doch eine Lücke im Herzen bleibt – und die tut weh.“ |
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