Das Märchen von der Tanzmaus
Sie war die schönste Feldmaus im ganzen Land. Das Eichhörnchen vergaß, Haselnüsse zu sammeln, und blickte sie unverwandt an. Eine Horde Waschbären, die aus der Nachbarschaft zu Besuch kamen, bewunderten ihre weißen Füßchen und lobten ihre grazile Gestalt. Die Weinbergschnecken ließen ihre Augen auf Stielen wachsen und schauten ihr neugierig hinterher. Sogar die weiße Eule, die Beute suchte, verlangsamte ihren geräuschlosen Flug, nur um einen kurzen Blick auf das kleine Mäuschen zu werfen. Alle erfreuten sich an der Eleganz ihrer Erscheinung. Ja, sie war das Herz der Heide, die Sonne im Wald, der Glanz der Weide und ihr Anblick verzückte alle Tiere.
Sie staunte und freute sich am allgegenwärtigen Interesse und blieb doch scheu ob all des großen Lobes. Denn war da nicht ein kleines Zucken im Auge der Krähe, ein etwas zu lautes Grunzen des Hirsches, ein hastiges Wegdrehen der Wespe. Hatte nicht der alte Wolf sie mitleidig aus den Augenwinkeln betrachtet und darauf hin mit seiner Meute getuschelt. Schauten nicht viele der Tiere verlegen zur Seite, wenn sie ihren Blick erwiderte? War alles in Ordnung mit ihr? Gab es da nicht irgendeinen Fehler, gar ein Makel? War die freudige Stimmung der Tiere nicht nur vorgetäuschtes Mitleid? Gab es nicht etwas Entsetzliches, etwas Entstellendes an ihrer Erscheinung?
Sie sah auf ihr seidig glänzendes Fell, auf ihre zarten Nasenhärchen, auf ihren lieblichen Bauch. Nein, hier war alles schön und gut. Es konnte nur etwas auf dem Rücken sein. Ja, so musste es sein. Das Mal, das hässliche Ding war auf ihrem Rücken, und alle versuchten sie von dieser schrecklichen Erkenntnis abzulenken. Sie schaute, so gut sie es vermochte, über ihre Schulter nach hinten, aber konnte nichts zu entdecken. Vielleicht wenn sie sich noch weiter drehte, dorthin, wo sie nichts mehr sehen konnte, vielleicht konnte sie es dann endlich erfahren.
Und so drehte sie ihren Kopf, dann ihren Körper, drehte sich, immer schneller, um einen Blick auf ihren bösen Makel zu erhaschen; und die Füßchen wirbelten im Kreis, der Wirbelsäule bog sich, die Augen glänzten vor Anstrengung und Aufregung. Irgendwann sollte es doch gelingen, zu sehen, was es auf sich hatte mit ihr.
Und der Hase im Feld, die Katze auf dem Baum, selbst die schreckhafte Heuschrecken, ja, alle Tiere hielten inne, schauten und staunten. Sie waren angetan von ihrer Geschmeidigkeit, ihrer Anmut und Schönheit.
„Seht!“, sprachen sie und nickten sich zu, „ wie schön sie tanzen kann, unsere Tanzmaus!“
© Flocke
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