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Philosophisches und Nachdenkliches Philosophische Gedichte und solche, die zum Nachdenken anregen sollen.

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Alt 09.02.2023, 18:54   #1
männlich Erhard Gratz
 
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Standard Hadern mit Goetheverstehern

Hadern mit Goetheverstehern

“Was du ererbt von deinen Vätern hast,
erwirb es, um es zu besitzen.”

Was Faust mit diesem Satz wohl sagen wollte?
Und muß man es, weil’s Goethe sprach, auch stützen?

Soll ich’s mit Andacht deklamieren oder spöttisch?
Ist es nun Weisheit oder doch nur Plattitüde?
Gemeinhin gilt der Satz als sehr profunde
und auch als Mahnung. -Mich hingegen macht er müde.

Der Satz steht oft in harten Stein gemeißelt
und wird auf Sonntagsreden gern bemüht.
Das hohe Pathos weckt’ in mir den Zweifel
und so hab ich mir oft den Mund verbrüht.

Was ich ererbt von meinem Vater habe,
Das brauch’ ich nicht noch einmal zu erwerben,
Denn ich besitze es bereits kraft Recht und Sitte.
Das jedenfalls versteh’ ich unter Erben.

Wenn ich’s erwerben müsste nach dem Erben,
dann frage ich mich wohl: zu welchem Zweck?
Nur um es zu besitzen? - wie erbärmlich!
Ich würfe es mit Schwung ins nächste Eck.

Es ist das “um zu”, welches mich verstörte
und auch der Kontext wohl, in dem er’s spricht.
Der ganze Plunder, wozu ist er nütze?
Ihn nur besitzen, - nun, das reicht mir nicht.

Der arme Faust, umgeben von Verstaubtem,
den’s zur Phiole drängt, nicht zur Gedankenpracht,
der meinte es wohl eher noch ironisch
anstatt pathetisch, um so mehr in solcher Nacht.

Ein armer Mann, den Suizid vor Augen,
gefangen auch in tiefer Depression,
Soll uns gemahnen in gehob’ner Theatralik?
Ich frage mich: Ist das die einzige Option?

“Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter!” -sagt der Dichter.
Wenn die Gelehrtenwelt nun anders drüber spricht
und auch das Feuilleton, als ich - ein kleines Würmchen,
ich zweifle dennoch und gesteh’: “Ich weiß es nicht.”
Erhard Gratz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 09.02.2023, 19:21   #2
männlich Ex-petrucci
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Dabei seit: 05/2021
Beiträge: 414

Man muss nicht jede Isotopieebene oder Deixis teilen.

Die Antwort auf die Frage in der ersten Strophe lautet daher nein.

Ich mag das Gedicht und seine Polysemie.

lg
Ex-petrucci ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.02.2023, 11:53   #3
weiblich Rumpelstilz
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Beiträge: 311

Standard Hadern mit Goetheverstehern

Hallo Erhard Gratz,

da ist ein Denkfehler. Besitzen ist etwas anderes als Erben = Übernehmen. Goethe verlangt, das, was man erbt, weiterzuführen.
Also nicht zu Ende gedacht und ein langes Gedicht geschrieben. Goethe zu widerlegen ist eben nicht ganz einfach. Seinerzeit hat es so manch einer versucht und ist gescheitert. Das hast du also sozusagen geerbt. Übrigens schreibt man Platitüde mit 2 T, nicht mit 3. Hat nichts mit platt zu tun.

Lieben Gruß, Rumpelstilz
Rumpelstilz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.02.2023, 12:10   #4
weiblich Ilka-Maria
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Beiträge: 31.045

Zitat:
Zitat von Rumpelstilz Beitrag anzeigen
Übrigens schreibt man Platitüde mit 2 T, nicht mit 3. Hat nichts mit platt zu tun.
Das ist nicht ganz richtig. Es gibt drei erlaubte Schreibweisen: Plattitüde, Platitüde und Platitude. Und doch: Es hat mit platt zu tun, denn das Wort leitet sich vom französischen "plat" ab = flach, platt, eben.

Auch sehe ich das Gedicht nicht als Versuch, Goethe zu widerlegen, sondern lediglich als das Hinterfragen eines Faust-Zitats, um dessen Sinn und die Gültigkeit für den Autor festzustellen. Insofern ist es für mich nichts weiter als eine Meinung. Dazu muss man nicht unbedingt zwischen Erbe, Erwerb, Besitz und sonstige Besitztums- und Eigentumsbegriffe unterscheiden, was für Otto Normalbürger von geringem Belang sein mag und deren korrekter Gebrauch eher für Juristen maßgebend ist.
__________________

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http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
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Alt 19.02.2023, 16:23   #5
weiblich Rumpelstilz
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Dabei seit: 01/2023
Ort: Berlin
Beiträge: 311

Standard Hadern mit Goetheverstehern

Liebe Ilka-Maria,

du hast recht, Platitüde kann man auch so schreiben: Plattitüde oder Platitude. Das hat Einzug gehalten mit der Neuen Deutschen Rechtschreibung für Hilfsschüler. Ich dagegen habe noch ein sauberes Deutsch gelernt, und zwar sowohl verbal als auch schriftlich, und lege Wert darauf, es auch anzuwenden.

Lieben Gruß, Rumpelstilz
Rumpelstilz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.02.2023, 17:15   #6
männlich Erhard Gratz
 
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Hallo Rumpelstilz,

eine Bemerkung vorweg: Vor etwa vier Jahrzehnten habe ich auf Geschäftsreisen stets eine Faust-I-Ausgabe in der Größe einer Streichholzschachtel mitgeführt, um während der unzumutbar langen Wartezeiten auf afrikanischen und orientalischen Flughäfen darin zu lesen. In einer solchen Lage habe ich einmal den Faust aufgeschlagen und war - per Zufall - bei Zeile 602 mitten im Studierzimmer.
Realiter saß ich in der Ecke eines schmutzigen Flughafens und fing sofort an zu lesen. Weder war ich durch Zueignung oder Vorspiel auf dem Theater, noch durch den Prolog im Himmel auf irgend eine Feierlichkeit eingestellt. Ich war auch nicht im Vestibül eines Theaters im frohen Vorgefühl eines Kulturgenusses. In dieser Situation saß ich als gefühlsmäßig unvoreingenommener Gast in Fausts Studierzimmer.

Und da wurde mir klar: Was sich hier abspielt, hat nichts mit Großartigkeit zu tun und der Satz “Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.” kann unmöglich in hergebrachter Weise verstanden werden. Ich halte eher dafür, dass er vom Bildungsbürgertum isoliert hochgejubelt wurde. Goethe hat auch nicht gesagt: “… erwirb es, um es weiterzuführen.”
Er hat gesagt “besitzen”, aber was sagt das?

Und einmal ehrlich, Rumpelstilz, wärst Du - im Kontext der Szene - tiefdeprimiert nach dem Donner des Erdgeists, der Erkenntnis der eigenen Erbärmlichkeit und in Selbstmordgedanken, - wärst Du da in der Lage, noch eine großartige Weltenbelehrung von Dir zu geben? Wenn das Ganze eine Szene der Verzweiflung ist, muss auch besagter Satz so gedeutet werden.
(Falls Du noch einmal in den Faust hineinsehen solltest, würde ich dringend empfehlen, ihn nicht vor Zeile 600 zu lesen.)
Ich denke, wenn man einen Satz isoliert herausnimmt, kann man alles Mögliche mit ihm anstellen, und deswegen beharre ich so auf dem Kontext.

Übrigens: Ich habe das Gedicht nicht “Hadern mit Goethe” genannt, sondern … siehe Titel.

Gruß,
Erhard
Erhard Gratz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.02.2023, 18:07   #7
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Erhard Gratz Beitrag anzeigen
Und da wurde mir klar: Was sich hier abspielt, hat nichts mit Großartigkeit zu tun und der Satz “Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.” kann unmöglich in hergebrachter Weise verstanden werden. Ich halte eher dafür, dass er vom Bildungsbürgertum isoliert hochgejubelt wurde. Goethe hat auch nicht gesagt: “… erwirb es, um es weiterzuführen.”
Er hat gesagt “besitzen”, aber was sagt das?d
Wenn ich mal auf die Frage antworten darf, obwohl sie an Rumpelstilz gerichtet ist: Für mich sind Goethes Verse völlig klar. Mit den "Vätern" müssen nicht die unmittelbaren Erzeuger gemeint sein, sondern man bezeichnet damit auch allgemein die Kette der Vorfahren. Das "Erbe" wird von Generation zu Generation weitergereicht. Es nützt aber nicht viel, wenn man es schmäht oder sein Potential nicht erkennt, deshalb ist ein Erbe auch immer mit Arbeit daran verbunden, wenn es einem nützen soll (= man es besitzen will). Mit Sicherheit meinte Goethe damit nicht materielle Güter, sondern das historische und geistige Erbe sowie die soziale Stellung. Lässt man das alles verkümmern, anstatt es weiterzuentwickeln, war alles, was die "Vorväter" geleistet haben, für die Katz.

LG
Ilka
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