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Alt 09.01.2023, 15:47   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Das Lied der Buche

Stefan sah auf das Display seines Smartphones: seine Mutter – wie fast täglich. Seit sein Vater einem Herzinfarkt erlegen war, klammerte sie sich an ihren Sohn, ihr einziges Kind, um ihren Schmerz über den Verlust zu betäuben.

Stefan hielt das für absurd, denn von den fünfundvierzig Jahren ihrer Ehe hatten seine Eltern die letzten zwanzig Jahre im Kriegszustand miteinander verbracht. Einmal hatte er vorsichtig versucht, ihr anzudeuten, in welchem Zustand sie sich seit seines Vaters Tod befand: "Dir fehlt der Sparringspartner." Aber sie hatte nicht verstanden, was er meinte, nur kurz geseufzt und weiter an dem Pullover gestrickt, den sie für Stefan entworfen hatte und von dem er wusste, dass er ihn nie tragen würde.

Er weigerte sich, ihren Anruf entgegenzunehmen, denn er hatte zu tun. Gerade war er im Flow, und wenn er ihn jetzt unterbrach, könnte es ihn Stunden kosten, bis er zurückfand. Das konnte er sich nicht leisten, denn er hatte vom Verlag eine Deadline für die Lieferung seiner Reportage. Also hieb er wie besessen weiter auf die Tastatur seines Notebooks ein.

Auch den zweiten und dritten Versuch seiner Mutter, ihn zu erreichen, ließ er unbeantwortet. Doch wenige Minuten später löste er irritiert seinen Blick vom Bildschirm und ließ die Hand auf der Computer-Maus ruhen. Starr vor Spannung konzentrierte er sich auf die Luft, die ihm anders als sonst in die Nase stieg, und versuchte mit all seinen Sinnen herauszufiltern, was seine Wahrnehmung zu stören schien. Witterte er Brandgeruch? Als die Sirenen von Einsatzfahrzeugen nahen hörte, die ihr Geheule zeitversetzt vor sich herjagten, schnellte er von seinem Stuhl hoch und eilte in den Flur.

Je näher er der Wohnungstür kam, desto intensiver roch es nach Brand. Voll böser Ahnung riss er sie auf - und starrte in ein Inferno. Aus der Tiefe des Treppenhauses stiegen Rauchschwaden empor, und ein kurzer Blick über die hölzerne Brüstung genügte, um ihn zu überzeugen, dass ihm die Flucht durch dieses Flammenmeer verwehrt war. Mit jeder Sekunde fraß sich das Feuer fetter in diesem Altbau, in dem Massen an Holz verarbeitet worden waren, das über Jahrzehnte gealtert und trocken wie Stroh war.

Stefan rannte zurück in sein Arbeitszimmer, drehte den Hebel des Fensters, öffnete einen Flügel und schaute auf die Straße. Unten hatten sich Schaulustige versammelt, die gestikulierten und durcheinanderschrien, darunter seine Mutter, die in der einen Hand ihr Smartphone hielt und an der anderen, zur Faust geballt, in Verzweiflung nagte. Sie wohnte im selben Haus im Parterre und hatte offensichtlich als eine der ersten Mieter Reißaus nehmen können. Jetzt verstand er ihre Penetranz, dass sie ihn in kurzen Abständen zu erreichen versucht hatte.

Die Sirenen der Einsatzfahrzeuge kamen näher, die Feuerwehrleute mussten jeden Moment eintreffen. Doch der Qualm aus dem Treppenhaus drang längst in Stefans Wohnung und reizte seine Schleimhäute. Er hatte keine Zeit mehr. Andererseits war ihm sonnenklar, dass er einen Sprung aus dem zweiten Stock eines Altbaus nicht überleben würde.

Ein paar geistesgegenwärtige Nachbarn hatten mittlerweile eine Wolldecke gespannt, die sie zu sechst hüfthoch über dem Boden hielten. Aber Stefan litt unter Höhenangst, und man hätte ihm die Augen verbinden und ihn mit einem kräftigen Tritt in sein Gesäß in die Tiefe stürzen müssen, um sein Leben zu retten, und sei es auch um den Preis gewesen, für den Rest seines Lebens traumatisiert zu sein. Die Wolldecke war für ihn keine Option.

Hätte er drei Minuten länger durchgehalten, wäre er von einem Feuerwehrmann über eine Leiter in Sicherheit gebracht worden. Aber er rannte zurück in den Flur und in die Küche, wischte sich den Rotz vom Boden seiner gereizten Nase und die Tränen von den schmerzenden Augen und riss jetzt hier das Fenster auf, um frische Luft zu bekommen.

Auf dem Nachbargrundstück war kein Mensch zu sehen. Einsam stand dort die alte Buche, und plötzlich war Stefan, als neigten sich ihre jüngsten Kinder, Enkel und Urenkel zu ihm, und als raunte sie ihm mit altersweiser Stimme zu: "Schwing dich auf! Du bist zu jung zum Sterben." Und so ergriff er ihre Zweige, ließ sich in ihr herbstliches Bett tragen und versank in einen tiefen Schlaf. Anfangs deckten ihn die saftlos werdenden Blätter, aber nach und nach vergilbten sie und versagten im den Schutz. Sie fielen zu Boden, wurden braun und brüchig wie altes Papier.

Da schloss die Buche ihre Äste um ihn und wärmte ihn, bis der Winter wich, die Frühjahrssonne seine Lider mit Licht bedeckte und ihn zwang, die Augen zu öffnen.

Das erste, was Stefan sah, waren weiße Wände und Menschen in weißen Kitteln. "Sie hatten eine Schweineglück", sagte so ein Kittel, von dem er nicht wusste, ob er Arzt, psychologischer Betreuer oder Krankenpfleger war, und ob weiblich oder männlich. Es war ihn egal.

"Wieso Glück?"

"Na, die Buche. Sie hat ihr Leben gerettet. Zwei Meter vor ihrem Küchenfenster. Sie sind in sie hineingesprungen, als das Haus brannte. Aus dem zweiten Stock."

"Zwei Meter weit? Aus dem zweiten Stock?" Stefan strengte seinen Kopf an. "Ich kann mich nicht erinnern." Er dachte eine Weile nach, dann sagte er: "Vielleicht kann ich mich erinnern, wenn ich die Buche sehe."

Er wollte sie sehen, aber so bald wollten in die Ärzte nicht entlassen. Er musste mehrere Einwilligungen unterschreiben, auf eigene Faust zu handeln und niemanden für die Spätfolgen einer vorzeigen Entlassung verantwortlich zu machen. Sie boten ihm an, sich von seiner Mutter abholen zu lassen, die täglich zwei Stunden lang an seinem Krankenbett gesessen hatte. Er lehnte ab.

Als er an der Ruine des Hauses ankam, in dem er einmal gewohnt hatte, waren nur noch der Keller und das Parterre vorhanden, alles darüber hatte der Einsatz der Feuerwehr nicht vor der Vernichtung retten können. Vor der Ruine standen Baumaschinen von denen er nicht wusste, ob sie zum Wiederaufbau oder zum endgültigen Abriss unter Vertrag standen.

Er sprang über das Gatter, um in das hintere Grundstück zu gelangen. Dort hatte die Buch gestanden, und dort war er angeblich aus dem Küchenfenster gesprungen, um sich zu retten.

Aber weder das Küchenfenster noch die Buche waren vorhanden denn das Haus war ja über dem Parterre abgebrannt. Vielleicht hatte Stefan alles nur geträumt. Denn auch die Buche fand er nicht mehr.

Dort, wo sie einst gestanden haben musste, gab es nur einen Stumpf. Seine Wurzeln waren offensichtlich so tief, dass kein Kran der Welt sie aus der Erde hätte lösen können. Stefan setzte sich auf den Stumpf, und da war ihm, als hörte er ein Wiegenlied.

09.01.2023
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Alt 10.01.2023, 11:27   #2
männlich Heinz
 
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Liebe Ilka-Maria,
ich weiß nicht, weshalb mir beim Lesen deiner Buche spontan das Wort "psychedelisch" in den Sinn kam. Ansatzweise kamen Erinnerungen an kürzlich Erlebtes. Kurzum: Eine Geschichte, die ans Eingemachte geht und für mich versöhnlich endet.
Liebe Grüße,
Heinz
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Alt 10.01.2023, 13:08   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Heinz Beitrag anzeigen
Ansatzweise kamen Erinnerungen an kürzlich Erlebtes.
Lieber Heinz,

herrjeh, daran hatte ich nicht mehr gedacht. Es war nicht meine Absicht gewesen, an deinen Erinnerungen zu rütteln.

LG
Ilka
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Alt 10.01.2023, 13:32   #4
männlich Heinz
 
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Liebe Ilka-Maria,
mach dir bloß keinen Kopp! Die Erinnerungen haben wirklich nur noch ein Grinsen im Gefolge.
Liebe Grüße,
Heinz
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Alt 11.01.2023, 15:51   #5
männlich dunkler Traum
 
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... gern und flüssig gelesen. Eindeutig LSD-Phantasie, so brennt kein Baum ab, aber wenn man nicht darüber nachdenkt.

beaux rêves
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Alt 11.01.2023, 17:31   #6
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Zitat:
Zitat von dunkler Traum Beitrag anzeigen
... so brennt kein Baum ab, ...
Wo steht denn, der Baum sei abgebrannt? Nicht einmal das Haus ist komplett abgebrannt, sonst gäbe es ja nicht die Frage, ob man es auf dem Fundament wieder errichten könnte oder ob es ganz abgeräumt werden muss.

Wenn ein Stumpf vorhanden ist, wurde der Baum natürlich gefällt. Baumaschinen brauchen Platz und Bewegungsfreiheit, und ein Neubau könnte auch einen größeren Teil des Grundstücks beanspruchen. Aber das ist für die Geschichte nicht wesentlich, sondern darf Spekulation bleiben.

Aber trotzdem danke für das Feedback.
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Alt 12.01.2023, 20:01   #7
männlich dr.Frankenstein
 
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Am Anfang is irgendwie bisschen zu viel Information über die Familiengeschichte.
Aber eine gelegentlich nervende Mutti, kennen bestimmt einige.
Aber ab dem Moment wo die Action anfängt, ist es richtig miterlebbar.

Vielleicht hättest das noch bisschen anders zeigen können.
Das er darüber nachdenkt, wie gut es wäre wenn Papa nich tot wäre und dann... ach ne dann würden sie sich wieder laufend streiten. Aber jetzt warum muss sie mir immer auf den Keks gehen....


Da ist es bisschen anstrengend geschrieben, aber auch nicht schlecht.
Vielleicht ist es aber auch gut, damit die Wendung besser zur Geltung kommt?

Ich hab die ersten Zeilen so halb überlesen, in der Hoffnung es kommt noch was und es war auch gut.
Ab dem Brand geht's ab.

Eigentlich könnte man das erste Stück sogar weglassen und würde trotzdem fast voll im Bilde sein.
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Alt 12.01.2023, 20:16   #8
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von dr.Frankenstein Beitrag anzeigen
Am Anfang is irgendwie bisschen zu viel Information über die Familiengeschichte.
Hallo, Franky, danke für deine Meinung. Der erste Teil überflüssig? Ich denke nicht, im Gegenteil ist er wesentlich dafür, dass Stefan aus vermeintlich gutem Grund seine Mutter mehrfach ignorierte. Dieses Mal wäre es aber gut für ihn gewesen, ihren Anruf entgegenzunehmen, denn dann wäre er rechtzeitig vor dem Feuer gewarnt gewesen und hätte sich retten können, anstatt eine traumatische Erfahrung machen zu müssen (und ich hätte keine Story gehabt ).

Vielleicht Geschmackssache. Aber selbst Hitchcock hat mit einem nervigen Mutter-Sohn-Verhältnis in "North by Northwest" begonnen, wenn auch aus anderen Gründen. Ich will mich nicht hinter Hitch's Drehbuchschreiber verstecken, nur damit sagen, dass ich mir bei dem "MacGuffin" in meiner Geschichte etwas gedacht habe.

LG und einen schönen Abend,
Ilka
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Alt 12.01.2023, 22:18   #9
männlich dr.Frankenstein
 
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moin, ja ist ja auch nur meine subjektive Betrachtung, hab ja eh einen seltsamen Geschmack.
Ich dachte mir schon, dass dir dabei was geacht hast.
Auch schönen Abend.
dr.Frankenstein ist offline   Mit Zitat antworten
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