Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Literatur und sonstige Themen > Literatur und Autoren

Literatur und Autoren Literatur allgemein sowie Rezensionen von Büchern, Stücken und Autoren.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 11.03.2023, 19:13   #1
Friedrich
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 237

Standard Hermann Hesses Knulp

Hermann Hesses Knulp
eine persönliche Interpretation


April 2012, Besuch im Museum Hermann Hesse in Montagnola, einem höhergelegenen Ort unweit von Lugano mit Blick auf den Luganer See. Das Museum zu Ehren des Dichters befindet sich im Torre Camuzzi, direkt neben der prächtigen Villa Camuzzi; dort hat Hesse von 1919 bis 1931 gewohnt.

Nach einem Filmvortrag in dem als Kinoraum eingerichteten Keller bemerken wir an einer Tür ein weißes Stück Papier mit der Aufschrift „Knulp ist wieder da!“ Wir öffnen sie und gelangen in den Garten, und dort kriecht Knulp bedächtig auf dem Rasen: eine etwa handtellergroße Landschildkröte.

Knulp! – Erinnerungen werden wach. Knulp, so hieß die Erzählung Hermann Hesses, die mich als Zwanzigjähriger so beeindruckt hat; warum nur?

Wer ist Knulp?
Ist er ein müßiger, bindungsscheuer Vagabund?
Ein fahrender Handwerksbursche ohne Handwerk?
Ein erwachsenes Kind, das nie erwachsen werden will?
Ein konsequent lebender Dichter oder Sänger jedoch ohne Werk?
Ein „Lebenskünstler“, der ausschließlich in der Gegenwart lebt?

Ich denke, er ist all dies in einem, und in der Erzählung läßt uns Hesse teilhaben an dieser Art von Leben, lernen wir den liebenswerten Protagonisten Knulp kennen, der bei rein äußerlicher Betrachtung so leicht als Penner oder Versager verurteilt werden kann.

Knulp – und ich als Zwanzigjähriger. Nach dem Abitur wollten wir frei sein, nicht vereinnahmt werden durch die Zwangsjacke der Lebensumstände, ohne die man bis zum Rentenalter kein ordentliches Leben führen kann: Bundeswehr, Studium, Beruf, Familie. Ein Leben, in dem man ständig die in einen gesetzten Erwartungen erfüllen muß, ohne dabei Zeit für sich selbst zu haben. Knulp hat sich diese Zeit einfach genommen.

Leises Grauen packte mich jedes Mal beim Anblick des morgendlichen Trosses der Büroangestellten, die von den S-Bahnzügen ausgespien, verdrossen zu ihrer täglichen Fron in den Büros marschierten. Täglich eingesperrt in klimatisierte Räume! Stundenlang ungeliebte Arbeiten verrichten! Und das ein Leben lang! Grauenhaft!

Knulp hat sich verweigert, lebt wie ein Wandersbursche, so wie heute noch manche Zimmerleute „auf der Walz“, nur mit dem Unterschied, daß er nicht arbeitet und die Walz keine Episode in seinem Leben ist, sondern ein Dauerzustand. „Der Knulp traut sich was“, dachte ich damals als Zwanzigjähriger, „er lebt ein Leben, nach dem ich mich sehne und er tat einen Schritt, zu dem mir der Mut und die Lebenstüchtigkeit fehlt.“

Damals gab es schon „Aussteiger“, „drop outs“, „Gammler“, alles Leute, die sich von ihren Verpflichtungen frei gemacht hatten, doch war da immer ein himmelweiter Unterschied zu Knulp. Er hat die Leichtigkeit, den Stil, die Intelligenz, die Kreativität, die den normalen Gammlern fehlte. Und auch heute ist das sogenannte „gap year“ unter Jugendlichen in aller Welt beliebt, nimmt man sich eine einjährige Auszeit und pilgert mitunter bis nach Indien. Die Sehnsucht nach Freiheit von dem vereinnahmenden Zugriff von Familie und Gesellschaft ist nach wie vor die gleiche.

Das Leben eines „Landstreichers“ ist nicht ungefährlich, zumal er der Unbill der freien Natur ausgesetzt ist. Schon zu Anfang der Erzählung erfahren wir, daß Knulp einen längeren Aufenthalt im Spital hatte und deswegen Unterschlupf bei seinem alten Freund, dem Weißgerber Emil Rothfuchs in Lächstetten sucht. Im letzten Kapitel fühlt Knulp wegen seines Lungenleidens sein baldiges Ende und möchte nur noch einmal seine Heimatstadt Gerbersau wiedersehen, um sich von ihr und zugleich auch von der Welt zu verabschieden.

Hat mich nun als Zwanzigjähriger das mühelose und elegante Unterwegssein eines Sängers mit Neigung zum Philosophieren beeindruckt, so beschäftigt mich heute nach erneuter Lektüre so viele Jahre später, mehr noch dieses Abschiednehmen. Hier erlebe ich Hermann Hesses leidenschaftliche Liebe zu einer schönen Welt sowie den Zauber seiner großartigen Prosa aufs Neu.

Eine Stunde und länger verweilte er am Gartenzaun und schaute hinunter, und was er sah, war nicht der neue, fremde Garten, der dalag und mit dem jungen Beerengesträuch schon ganz leer und herbstlich aussah. Er sah den Garten seines Vaters, und seine Kinderblumen im kleinen Beet, am Ostersonntag gepflanzte Aurikeln und glasige Balsaminen, und kleine Gebirge aus Steinchen, auf welchen er hundertmal gefangene Eidechsen ausgesetzt hatte, unglücklich, daß keine dort bleiben und wohnen und sein Haustier sein wollte, und dennoch immer wieder voll Erwartung und Hoffnung, wenn er eine neue mitbrachte. Alle Häuser und Gärten, alle Blumen und Eidechsen und Vögel der Welt konnte man ihm heute schenken, und es wäre nichts gegen den zaubervollen Glanz einer einzigen Sommerblume, wie sie damals in seinem Gärtchen wuchs und die köstlichen Blumenblätter leise aus der Knospe rollte. Und die Johannisbeerbüsche von damals, deren jeden er noch genau im Gedächtnis hatte! Sie waren fort, sie waren nicht ewig und unzerstörbar gewesen, irgendein Mann hatte sie ausgerissen und ausgegraben und ein Feuer draus gemacht, Holz und Wurzeln und welke Blätter waren miteinander verbrannt, und niemand hatte darum geklagt.

Es ist zutiefst beeindruckend, wie ein Dichter im Kindesalter seine Welt wahrnimmt und wie er sie – viele Jahre später – sie mit einer solchen Liebe und Detailreichtum reproduzieren kann. Hesse ist zu weiten Teilen selbst der Knulp!

Woran werden sich das Gros der heutigen Kinder in – sagen wir vierzig Jahren – erinnern, vor allem dann, wenn sie in einer lärmigen Großstadt aufgewachsen sind? An besonders beliebte Werbespots im Fernsehen? An die Hits der damaligen Zeit? An Kinofilme, Videospiele, Unterhaltungssendungen, Faußballweltmeisterschaften? An alles nur an keinen Garten! An alles nur an keine Heimat! Möglicherweise noch nicht einmal an eine behütete Kindheit, eine intakte Familie. Und die heutigen sogenannten „hyperaktiven“ Kinder werden sich wohl an gar nichts mehr so recht erinnern können, denn zum Erinnern gehört ein konzentriertes – und das heißt andauerndes – Wahrnehmen und Erleben der Welt, verbunden mit einem Sprachvermögen, das diese auch festhält.

Mit Knulps Tod geht die erinnerte Welt in all ihrer Schönheit für immer verloren. Hesse als Dichter kann sie in seiner Sprache festhalten und uns daran teilhaben lassen und dabei in uns den Sinn für das Schöne in dieser Hinsicht wecken. Damit sind Hesses Kindheitserinnerungen „unsterblich“.

Und wenn die Erfahrungen die Zeiten überdauern, dann hat das Leben eines Dichters Sinn gehabt, denn er hat etwas Bleibendes geschaffen.

War denn das Leben eines Knulps sinnlos, da er doch nichts Bleibendes hinterläßt; weder Eigentum noch Familie, noch auch Dinge, die er geschaffen hat? Dies ist tatsächlich die Frage, die sich Knulp angesichts seines Todes auf seiner letzten Wanderung in winterlicher Kälte und dichtem Schneetreiben stellt. In seinem Zustand an der Schwelle zum Jenseits spricht er mit Gott. Knulp hadert mit seinem Leben, sieht es als verfehlt an, weil er aus seiner Lebenszeit nichts gemacht hat. Doch Gott tröstet ihn, bedeutet ihm, daß alles gut war.

»Nun sei einmal zufrieden,« mahnte Gott, »was soll das Klagen nützen? Kannst du wirklich nicht sehen, daß alles gut und richtig zugegangen ist und daß nichts hätte anders sein dürfen? Ja, möchtest du denn jetzt ein Herr oder ein Handwerksmeister sein und Frau und Kinder haben und am Abend das Wochenblatt lesen? Würdest du nicht sofort wieder davonlaufen und im Wald bei den Füchsen schlafen und Vogelfallen stellen und Eidechsen zähmen?«

Wieder fing Knulp zu gehen an, er schwankte vor Müdigkeit und spürte doch nichts davon. Es war ihm viel wohler zumute geworden, und er nickte dankbar zu allem, was Gott ihm sagte.

»Sieh,« sprach Gott, »ich habe dich nicht anders brauchen können, als wie du bist, und ich habe dir den Stachel der Heimatlosigkeit und Wanderschaft mitgeben müssen, sonst wärest du irgendwo sitzen geblieben und hättest mir mein Spiel verdorben. In meinem Namen bist du gewandert und hast den seßhaften Leuten immer wieder ein wenig Heimweh nach Freiheit mitbringen müssen. In meinem Namen hast du Dummheiten gemacht und dich verspotten lassen; ich selber bin in dir verspottet und bin in dir geliebt worden. Du bist ja mein Kind und mein Bruder und ein Stück von mir, und du hast nichts gekostet und nichts gelitten, was ich nicht mit dir erlebt habe.«

»Ja,« sagte Knulp und nickte schwer mit dem Kopf. »Ja, es ist so, ich habe es eigentlich immer gewußt.«


Auch Jesus war also eine Art Knulp gewesen und ebenso Hesse selbst in seinen unruhigen Jahren.

Und all diese Gedanken zum Leben eines begabten „Taugenichtses“ sind einer kleinen Schildkröte in Montagnola zu verdanken, der man im liebevollen Andenken an Hermann Hesse den Namen „Knulp“ gegeben hat. Wie das Leben doch so spielt!

Mit lieben Grüßen an alle Freunde Hermann Hesses

Friedrich
Friedrich ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.03.2023, 23:11   #2
männlich Manni M.
 
Dabei seit: 09/2022
Ort: Mittelrhein
Alter: 46
Beiträge: 114

Ach, wie schön - der Knulp!

Das habe ich sehr gerne gelesen. Und ich finde es auch einen würdigen Nachfolger zu Eichendorffs Taugenichts.
Da fällt mir auch eine schöne Geschichte ein. Ich war mal mit ein paar Freunden per Zug auf dem Weg nach Berlin. Wir kauften uns ein Wochenendticket und konnten daher nur jeweils Regionalzüge nutzen, was somit eine Fahrzeit von ungefähr zehn Stunden ausmachte. Das war zu einer Zeit, wo es noch ein Raucherabteil in Zügen gab. Irgendwann ist einer zugestiegen, der eine Gitarre unterm Arm trug und nach Lagerfeuerrausch gerochen hat. Ein Vollblut-Straßenkünstler eben. So saßen wir dann alle im Raucherabteil, haben getrunken, Spaß gehabt und ab und an seinen Liedern gelauscht. Ich habe den Musiker gefragt, ob er den Taugenichts kennt, woraufhin er gemeint hat, dass ihn dieses Büchlein wie kein anderes geprägt hat.
Die Sache mit der Schildkröte finde ich auch sehr gut.

Liebe Grüße
Manni
Manni M. ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.03.2023, 18:24   #3
Friedrich
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 237

Hallo Manni,

in Dir steckt also auch ein kleiner Knulp, der sich dann meldet, wenn Du einem "Vollblut-Straßenkünstler" begegnest.

Mir geht es auch so, wenn ich eine Menschentraube sehe, die einem Sänger lauscht, der zur Gitarre singt; die Münzen ploppen in den offenen Gitarrenkasten. Das wär's doch! Und dann erinnere ich mich an zwei englische Straßenmusikanten in einer Fußgängerzone, die den Zuhörern zuriefen: "Don't stand and stare, we're not playing for fun, we want your fucking money!" Ganz so leicht ist es dann doch nicht mit der Musik auf der Straße.

Hesses Knulp wäre natürlich nie auf ein so niedriges Niveau gesunken. Er hatte Stil sowohl in seinen Umgangsformen als auch in seiner Sprache.

Schön, einem Hesse-Fan zu begegnen.

Mit liebem Gruß

Friedrich
Friedrich ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.03.2023, 19:06   #4
männlich Manni M.
 
Dabei seit: 09/2022
Ort: Mittelrhein
Alter: 46
Beiträge: 114

Zitat:
Zitat von Friedrich Beitrag anzeigen

in Dir steckt also auch ein kleiner Knulp, der sich dann meldet, wenn Du einem "Vollblut-Straßenkünstler" begegnest.
definitiv ist das so. Nur leider ist es oft ein trauriger Anblick, jemanden in einer Fußgängerzone zu sehen, der sich abmüht und es niemanden zu interessieren scheint.
Ich habe lange in Berlin gelebt, und dort bin ich dem begegnet, was echte Straßenmusik bedeutet. Es gab eine besondere Stelle (Warschauer Straße) , wo der Auftritt eines Straßenmusikers schnell zu einer Art Freiluftkonzert wurde. Die Menschen versammelten sich dort scharenweise und zelebrierten das Geschehen. Das Besondere an diesem Platz war, dass sich unweit davon Univeral Studios befand, was das genaue Gegenteil von der Kultur der Straßenmusik repräsentiert. Oft wurden die Künstler auch angesprochen von irgendwelchen Passanten, die so etwas gesagt haben wie: „Wow, du bist echt gut. Geh doch mal zu Voice of Germany oder Deutschland sucht den Superstar.“ Diese Leute werden wohl nie verstehen, worum es diesen Vollblut-Musikern wirklich geht.

Mit lieben Gruß zurück von einem Hesse-Fan an den anderen
Manni M. ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Hermann Hesses Knulp



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Hermann Hesse Ilka-Maria Literatur und Autoren 26 20.12.2020 07:06
An Hermann Hesse gelberhund Zeitgeschehen und Gesellschaft 0 15.02.2020 09:22
Händeschütteln mit Hermann Hesse A.C.E. Gefühlte Momente und Emotionen 0 18.05.2016 22:38
Hermann und der Vollmond Ex Carina M. Geschichten, Märchen und Legenden 6 13.09.2013 09:41
Dialog mit Hermann Göring in der Hölle Anopheles Gefühlte Momente und Emotionen 0 20.05.2012 17:25


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.