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Alt 07.03.2023, 19:18   #1
Friedrich
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 237


Standard Beim Zahnarzt

Heutzutage wird kaum noch ohne Anästhesie gebohrt, und auch die Zahnarztpraxen sehen anders aus, doch sollte das der Geschichte, meinem Erstlingswerk keinen Abbruch tun. Wie sieht der Gang zum Zahnarzt aus, wenn Angst und Phantasie sich paaren?

Beim Zahnarzt

Fremder, der du hier eintrittst,
Laß alle Hoffnung fahren. *)
(Dante)

Jahrelang hab’ ich ihn aufgeschoben, hinausgezögert, totgeschwiegen, aller Vernunft und jeglicher besseren Einsicht zum Trotz: meinen Besuch beim Zahnarzt. Und wenn ich heute nun die Jahre zähle, die seit dem letzten Mal ins Land gezogen sind, so stelle ich mit Schrecken fest, daß es ihrer nun schon zehn geworden sind. Doch trotz der langen Zeit, ich fühle sie noch deutlich in mir, diese Freude, die ich als Zwölfjähriger empfand, als endlich hinter mir die Praxistür sich schloß, und ich, erlöst von einem Alpdruck, die Frühlingsluft in meine Lungen sog und jubilierend rief: ,,Vorbei“ !

Vorbei das quälende Verharren in dem tristen Wartezimmer mit seinen an den Wänden aufgereihten Stühlen und diesem runden Tisch mit all den Illustrierten, die zu lesen ich mich nie recht konzentrieren konnte. Vorbei der bange Blick der Mitpatienten, die nacheinander Platz genommen hatten, um voller Demut drauf zu warten, daß endlich auch die Reihe an sie kam. Vorbei der mitleidlose Blick der Praxishilfe, die nacheinander all die Opfer zur Türe mit dem Lederpolster rief.

Was mochte jenseits dieser Türe wohl geschehen, wann immer nur ein neuer Leidensmensch die Schwelle überschritt? Geräusche, die gedämpft herüberdrangen, gaben Anhaltspunkte, die meine Phantasie sogleich zu grausen Bildern formte. Oh, dieser Bohrer und sein gnadenloses Jaulen in stets wechselnden Frequenzen! Und manchmal horchten wir erschrocken auf, wir, die wir die Hoffnung vor der Glastür dieses Wartezimmers hatten fahren lassen, dann, wenn kurzes dumpfes Stöhnen eines Leidenden zu hören war. Dann sahen wir einander wortlos in die Augen, wir, die Übriggebliebenen, die noch Ausgesparten, brüderlich und mitfühlend, wir auf unsrem Ölberg aus weißen Gardinen, sattgrünen Topfpflanzen und braunem Linoleumboden, und wir hatten keine Hoffnung in unseren Gebeten, daß der bittere Kelch an uns vorübergehen könnte.

Als ich noch aufs Gymnasium ging, bezog der Schulzahnarzt alljährlich sein Quartier in unserer Schule, leuchtete mit seiner kleinen Taschenlampe in aufgesperrte Kindermünder und rief der fleißig schreibenden Assistentin Zahlen und drei immer gleiche Worte zu: kariös, gefüllt und fehlt. Und als ich dann an der Reihe war, da fiel das Wörtchen kariös recht häufig. Und gleich danach bekam ich einen Überweisungsschein und ging alsbald damit zum Zahnarzt.

Zehn Jahre sind seitdem vergangen, und der Zahn der Zeit nagt unentwegt an allem, und so auch an den Zähnen. In den feinen Spalten meiner Beiß- und Kauwerkzeuge hat heimtückisch der Zahnteufel sich eingenistet, und unermüdlich hat er all die Zeit hindurch gewetzt, zersetzt und ausgehöhlt und Löcher in das glatte Porzellangestein gebohrt. Und so häuften sich auch mehr und mehr die Zeichen der Zerstörung. Eine Plombe fiel aus einem Backenzahn, und meine Zunge fühlte neugierig in dieses tiefe Loch, tastete, wie einem mysteriösen Zwang gehorchend, unentwegt die scharfe Kraterwand entlang. Blut im weißen Fruchtfleisch eines Apfels, rote Spuren morgens auf der Zahnbürste, ziehend dieser Schmerz im Backenzahn, wenn ich versehentlich auf einen Mirabellenkern gebissen hatte.

Und obgleich mich diese Zeichen dringlich warnten, so waren sie doch letztlich nicht eindringlich genug, mich auf den Zahnarztstuhl zu treiben. Nicht daß es mir an Einsicht in den Ernst der Lage fehlte; ich wußte, eine Therapie tat bitter not, aber doch nicht schon heute, und auch nicht morgen, und möglichst nicht schon diese Woche! Was änderte schon eine Woche angesichts der vielen Jahre, die ich so sorglos unbedacht verstreichen habe lassen?

Das Ende liegt im Anfang, und wer versäumt, das Unheil abzuwenden, den schlägt es schließlich hart und unerbittlich, und also währte es auch nicht mehr lange, bis ich durch meine Hölle ging.

Am Samstagabend fing es an; beim Fernsehen nach dem Abendessen. Zuerst war’s nur ein Lebenszeichen aus dem Weisheitszahn, der nie das Licht der Welt erblicken durfte, weil er aus unbekannten Gründen quer im Kieferknochen steckte. Zu Anfang glaubte ich, es wär nur wieder einer seiner obsoleten, doch niemals lange währenden Versuche, sich gegen dieses Schicksal aufzulehnen, das ihn so ungerecht behandelt hatte. Es war ein dumpfes Pochen, ein ohnmächtiges Wüten; der scharlachrote Hügel, unter dem er wie begraben liegt, schien nachzugeben, schwoll an und glühte; und dann, mit einem Male, loderte das Zahnfleisch in der linken Hälfte lichterloh: Flammendes Inferno!

Nach endlos langen Stunden schien, gleich einem Steppenbrand in Afrika, das Feuer mangels Nahrung langsam zu erlöschen, doch flammte es bald wieder auf in meiner rechten Hälfte, in jener alten Zahnruine, die wie manch alte Burg am Rhein an die Vergänglichkeit gemahnt. Und plötzlich kehrte wildes Leben ein in dieses alte Mauerwerk, der Teufel schien mit seinen wildesten Kumpanen ein wüstes Saufgelage abzuhalten. Und unversehens wurde mir gewahr, daß ich von beiden Seiten nun beschossen werden sollte, denn mit fiesem Grinsen regte sich die linke Seite wieder, wohlwissend, daß ich glauben mußte, an dieser Front wär Frieden eingekehrt; und plötzlich überfiel mich große Furcht: Attackiert von beiden Seiten, und das Wochenende noch so lang ... ! Wozu nur all das Leiden?! Und unversehens pochte mir das Herz so heftig, daß ich es mit der Angst bekam, es könnt’ auf einmal stille stehn; und schon quoll Schweiß aus meinen Poren, so wie in der Kelter der Traubensaft durchs Sieb.

„Der für uns Blut geschwitzt ...“. Oh Gott ! Eine Ahnung wehte leis mich an, verdichtete sich mehr und mehr und gab mir plötzlich Trost in meiner Not. Was galt mein kleines Leiden schon, verglichen mit dem Seinen ? War nicht auch Er allein mit seiner Angst, als alle Jünger sorglos schliefen?

Allmählich wurde es dann stiller auf dem Schlachtfeld, und nur vom Backenzahn herab ... löste sich ... ab und an ... ein kleiner Schmerz ... bedächtig ... wie der stete Tropfen ... aus einem lecken Wasserhahn. Oh, wie köstlich ist sie doch ..... die Stille! „Glück, das ist der Zustand nach den Schmerzen“, so ähnlich könnt’ es Sokrates geäußert haben, als man von ihm die Fesseln nahm. Die alten Philosophen, wie recht sie doch noch immer haben; das Wesentliche gilt für immer. Und alsbald strich der Schlaf mit sanfter Hand mir gnädig über meine Stirn, hüllte mich in tiefe Dunkelheit und schenkte mir für ein paar Stunden den ach so lang entbehrten Frieden.

Nach dieser grausen Nacht hat endlich die Vernunft obsiegt, und ich beschloß energisch, mich einer Therapie zu unterziehen. Pünktlich zum Termin traf ich tags darauf beim Zahnarzt ein, reichte meinen Krankenschein der netten Frau hinter dem weißen Tresen und ging sodann ins Wartezimmer. Auch hier der Stapel Illustrierte mit ihren leicht gewellten Schutzumschlägen, doch hatte ich kaum Zeit, darin zu blättern, als schon mein Name aus der Sprechanlage tönte.

Weiß, verchromt und gläsern waren alle Gegenstände im Praxisraum des Arztes, doch schwarz in seiner Mitten, stand wuchtig der Behandlungsstuhl, auf den zu setzen mich die Hand des Zahnarzts wies.

„Waren Sie schon mal bei uns?“ fragte mich der große Mann im weißen Kittel und beugte sich zu mir herunter.
„Zu Ihnen komme ich das erste Mal, doch war ich schon ...“.
„Machen Sie den Mund weit auf!“ schnitt er das Wort mir ab, und plötzlich fühlte ich, kühl und metallen, einen Gegenstand entlang der Zunge gleiten. Die junge Zahnarzthelferin gesellte sich hinzu und sah von gegenüber in meinen aufgerissenen Mund.
„Uiuiuiuiui !! Da müssen wir sofort mal röntgen,“ brummte der Zahnarzt, und schüttelte den Kopf. Der kleine Spiegel mit dem silbernen Griff fiel scheppernd auf das Eisentischchen.

Dann drückte er ein kleines Stückchen Pappe aufrecht hinter meine Backenzähne und hieß mich kräftig beißen. Gehorsam schloß ich meinen Mund und schielte mißtrauisch zu dem blonden Mädchen, das ein handliches Gerät, ähnlich einem Haartrockner, an meine Wange schob.
Während sekundenlang, ein leises Summen tönte, saß ich steif und aufrecht im Behandlungsstuhl und starrte, wie bei einem Polizeiverhör, ins grelle Licht der Lampe gegenüber.
„Im Krankenhaus, bei Operationen, da findet man sie auch, diese Lampen!“ schoß es mir in den Sinn.
Der Zahnarzt nahm den Pappkarton aus meinem Mund und setzte auf der anderen Seite einen neuen an. Es summte wieder, und nachdem ich auch das zweite Stückchen Pappe losgeworden war, fiel mein Blick auf jenes weißlackierte Tischchen, auf dem, der Größe nach, die Bohrerspitzen lagen, säuberlich verpackt in kleine transparente Plastikschächtelchen und auf weichem Schaumgummi gebettet. Und davor, in Reih und Glied lagen all die feinen Instrumente: verchromte Zangen, Spiegel, Haken und Skalpelle, subtile Werkzeuge zum Schaben, Feilen, Ziehen und Schneiden. Und jedes Mal, wenn absichtslos der Zahnarzt an das Tischchen stieß, ward ich durch das Geräusch an ihre Gegenwart erinnert.

„Machen wir zuerst einmal den Zahnstein weg!“ rief der Arzt entschlossen, drückte meinen Kopf nach unten und griff sich eine Art von Silberstift an einem Kabel. Mit offenem Mund starrte ich dann unverwandt auf diesen wimmernden blinkenden Gegenstand, der in der Hand des Arztes nur wenige Zentimeter vor meinen Augen hin und her tanzte, und ich hörte das fräsende Knirschen, wenn er an meinen Zähnen auf Widerstand stieß. Splitter von Zahnstaub regneten auf die Zunge, und das Wasser, das aus dem Bohrer schoß, stieg langsam in meinem Unterkiefer.

„Spülen Sie jetzt aus!“ rief endlich der Zahnarzt, und das Wimmern verstummte. Gehorsam ergriff ich das trübweiße Wasserglas zu meiner Linken, nahm einen Schluck daraus und spie Wasser, Blut und Zahnstaub in das grünlichweiße, runde Porzellanbecken, über das sich schon Hunderte von gequälten Mündern vor mir gebeugt hatten, um Wasser, Angst und Blut hineinzuspucken. Und als ich mich dann wieder aufrichten wollte, spürte ich den kalten Schweiß auf meiner Stirn. Eine Falltür tat sich plötzlich auf, und ich schwebte wie an einem dünnen Seil kraftlos über einem Abgrund.

„Was haben Sie denn?“ rief wie von fern der Doktor.
„Der Kreislauf!“ kam es mühsam aus mir heraus.
Die aufmerksame Praxishelferin ließ flugs ein paar Tropfen aus einer braunen Flasche in ein Trinkglas fallen, füllte es mit Wasser auf und hieß mich voller Mitgefühl, es möglichst auszutrinken. Ich schluckte, doch ein Teil der bitteren Flüssigkeit kam sofort mir wieder hoch. Die Schwelle der Ohnmacht, sie ist ein schwereloses Taumeln in Eiseskälte, ein kraftloses Balancieren über dem dunklen Loch des Nichts.
„Das kann ja heiter werden!“ rief herzlos der Zahnarzt. „Wir haben doch noch gar nicht richtig angefangen! Und wenn uns das bei jeder Sitzung so passiert, dann ... gute Nacht Deutschland!"
„Ich kann doch nichts dafür“, antwortete ich matt und kämpfte noch immer verbissen gegen den drohenden Absturz ins Dunkel, „glauben Sie es mir, ich kann doch nichts dafür ... “.


*) Inschrift über dem Höllentor aus Dantes Göttlicher Komödie
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