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Alt 18.02.2023, 15:52   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Florians Metamorphose

Als Florian wie jeden Morgen um sechs Uhr fünfzehn das Badezimmer betrat und den Hahn öffnete, um warmes Wasser in das Waschbecken fließen zu lassen, stutzte er. Auf der Oberseite seines rechten Daumens lag eine graue Schicht, so, als hätte er seine Hand am Vorabend nicht gründlich genug gewaschen. Er nahm eine Bürste, beträufelte sie mit Flüssigseife und schrubbte die Haut, bis sie rot war. Aber als sich die Röte verzogen hatte, kam das Grau wieder zum Vorschein.

Florian, überzeugt davon, dass diese Erscheinung nichts mit mangelhafter Hygiene zu tun haben konnte, ignorierte seinen Daumen. Tatsächlich ging der Grauschleier weg. Aber an seine Stelle traten lila Punkte, die immer dichter und immer dunkler wurden, bis Florians Daumen schwarz war.

Besorgt rief er in der Praxis seines Hausarztes an und ließ sich einen Termin geben, dringend und möglichst kurzfristig. Er musste sich verzweifelt angehört haben, denn Lilly, die Sprechstundenhilfe, zeigte sich kooperativ: "Kommen Sie am Nachmittag gegen drei Uhr. Wir schieben Sie ein."

Dr. Bungert, Allgemeinmediziner, konnte sich auf das Phänomen keinen Reim machen. "Darüber ist mir nichts bekannt," sagte er und überprüfte die Fähigkeiten des Daumens, der alle Tests bestand. "Ihre Hand ist funktionstüchtig, und der Daumen tut, was er soll. Wir nehmen Ihnen Blut ab und schicken es ins Labor. Sicherheitshalber."

Lilly zapfte das Blut in drei Röhrchen ab, und zu Florians Beruhigung floss es in so sattem Rot aus seiner Vene, wie Blut zu sein hatte. Eine Woche später saß er wieder in Dr. Bungerts Sprechzimmer. "Ihr Blutbild lässt nichts zu wünschen übrig, Herr Sommer: Alle Werte im grünen Bereich. Vielleicht die Leberwerte eine Spur zu nah an der Grenze. Wie steht es mit Alkohol?"

"Mag ein bisschen zu viel sein," gab Florian zu und sah dabei unter sich. "So abends halt, zur Entspannung."

"Üben Sie Zurückhaltung. Ansonsten habe ich nichts auszusetzen. Wie es aussieht, sind Sie kerngesund."

"Und was mache ich mit meiner rechten Hand? Mit dem Kohledaumen kann ich doch nicht unter die Leute gehen."

Dr. Bungert zuckte die Schultern. "Damit werden Sie leben müssen. Vielleicht erholt sich die Haut mit der Zeit von selbst."

Aber die lila, dann schwarzen Punkte vermehrten sich rasant, verbreiteten sich über Florians Hände und krochen an seinen Armen hoch. Er geriet in Panik. Bei seiner nächsten Arztvisite ging er Dr. Bungert an die Kehle. "Was ist hier los? Was passiert mit mir?", schrie er. "Ihr steckt doch alle unter einer Decke!"

Der Arzt behielt die Ruhe und löste mit sanften Fingern Florians Griff von seinem Hals. "Sachte, Herr Sommer! Niemand tut Ihnen ein Leid. Es handelt sich schlicht um eine Variante der Pigmentierung."

Florian spreizte die fünf Finger seiner rechten Hand vor den Augen des Arztes. "Ich bin also ein Mutant, eine Laune der Natur, die mich als Neuversuch zu einem Ausgestoßenen macht."

Der Arzt schob Florians Hand weg. "Wir sind keine Götter, Herr Sommer! Wir wollten heilen, immer nur heilen, sonst nichts."

Florian brach zusammen. "Helfen Sie mir! Ich will wieder sein wie früher."

Dr. Bungert war ratlos. "Aus seiner Haut kann niemand raus, Herr Sommer." Aber um seinem Patienten ein wenig Hoffnung zu machen, ließ er ihm eine Überweisung für einen Dermatologen und rein vorsorglich für einen Onkologen ausstellen. Aber auch hier ergaben die Untersuchungen, dass Florian vor Gesundheit strotzte.

Wochen gingen ins Land, und der Frühling hielt Einzug. Carola, Florians Freundin, lächelte nachsichtig, als sie sich vor der Eisdiele des Italieners trafen, der aus seinem Winterurlaub auf Sizilien zurückgekommen war und seit einer Woche wieder geöffnet hatte. "Ist es dir mittlerweile nicht zu warm in deinem Rolli mit den langen Ärmeln?" Nach den Handschuhen, die Florian ständig trug, fragte sie nicht mehr, denn er hatte sie damit begründet, eine hartnäckige Allergie gegen Plastik zu haben.

"Jetzt redest du wie mein Chef." Florian war gereizt. "Der stellt mir auch dauernd komische Fragen."

"Sei nicht gleich sauer. Man wird doch mal etwas fragen dürfen, ohne dass du ausflippst. Wieso bist du in letzter Zeit eigentlich so unausstehlich?"

"Das bildest du dir ein. Aber so seid ihr Weibervolk halt."

Carola zog die Brauen zusammen. "Weibervolk? Wenn das so ist! Mach's gut, du Piesepampel." Sie drehte sich um und ging davon. Florian presste die Lippen aufeinander und widerstand dem Impuls, ihr nachzulaufen und sie um Verzeihung zu bitten. Er war nicht sicher, ob er traurig war oder eher erleichtert darüber, dass er sie vergrault hatte und sich nicht über kurz oder lang offenbaren musste. Dann hätte sie ihn ohnehin verlassen, dessen war er gewiss, denn wer wollte mit einem Mann das Leben verbringen, der schon jetzt bis zum Hals lila und schwarz gesprenkelt war? Es war schwierig genug gewesen, Carola Geduld abzugewinnen, als sie ihn fragte: "Wann schlafen wir mal wieder zusammen?" Er schob abwechselnd Migräne, Rückenschmerzen und Überarbeitung vor, aber ihm war klar, dass er sich nicht ewig in Ausreden hätte flüchten können. Besser so, dachte er, als er Carola in der Ferne entschwinden sah, ohne dass sie sich auch nur einmal nach ihm umgedreht hätte. Er tröstete sich damit, die Angelegenheit wieder einrenken zu können, sollte sich sein Zustand wider näheres Erwarten bessern.

Er hatte sich längst nicht aufgegeben. Im Keller grub er die Höhensonne unter allerlei Gerümpel heraus, die dort seit Jahren schlummerte, weil es ihm zu langweilig geworden war, mit geschützten Augen und somit zur Untätigkeit verdammt vor ihr zu sitzen. Er war es obendrein leid geworden, im Winter von den Kollegen auf seine unnatürliche Bräune angesprochen zu werden, nicht bewundernd, sondern mit süffisantem Lächeln, so dass er glaubte, sich für seine Eitelkeit schämen zu müssen.

Die Höhensonne war einen Versuch wert, denn schlimmer konnte seine Haut von der Bestrahlung nicht werden. In der Tat hellten sich auf der gebräunten Haut die lila und schwarzen Sprenkel auf und wurden fliederfarben und schiefergrau. Florian fluchte, zog trotz fünfundzwanzig Grad Außentemperatur seinen Winterpulli mit Rollkragen an und lief zur Apotheke. Dort ließ er sich eine Creme empfehlen, die konzipiert war, Altersflecken zu retuschieren. Er kaufte die Tube mit der geringsten Menge, um die Creme erst einmal auszuprobieren, aber wie er befürchtet hatte, zeigte sie keine Wirkung.

Schließlich schafften es die lila Punkte bis zu seinem Kinn und breiteten sich auf seinen Wangen aus, wo sie binnen weniger Tage schwarz wurden. Florian verfiel in Depressionen. Zuerst vermied er, in den Badezimmerspiegel zu schauen, und schließlich blieb er im Bett liegen, starrte zur Zimmerdecke, brütete vor sich hin und stand nur auf, wenn ihn die Blase zu sehr drückte. Er hielt es nicht einmal für nötig, sich krankzumelden oder Anrufe entgegenzunehmen. Dass er dabei den Verlust seines Jobs riskierte, war ihm egal. In seiner Phantasie hielt er sich, obwohl erst Anfang dreißig, am Ende seines Lebens angekommen, sah sich in einem Baumarkt beim Kauf eines Drahtseils von mindestens neunzig Kilo Belastbarkeit und eines stabilen Hakens, den er mit einem Dübel an der Zimmerdecke zu befestigen gedachte. Florian war immer schlank gewesen, hatte in den zurückliegenden Wochen zudem rapide abgenommen, so dass er mit einem Seil dieser Stärke auf der richtigen Seite sein musste.

Doch er schob den Gang zum Baumarkt hinaus. Stattdessen schleppte er sich, wenn der Hunger zu stark wurde, in den Supermarkt und packte seine Einkaufstasche mit Fertiggerichten, Weinbrand und Wodka voll. Die Dosenkost aß er kalt, und der Alkohol ließ ihn viele Stunden durchschlafen und seine Misere vergessen. Er zahlte mit seiner Kreditkarte, um kein Geld abheben und einen Kontoauszug ziehen zu müssen, denn er wollte nicht wissen, wie weit er in den Miesen war und mit welchem Zinssatz die Bank ihn schröpfte.

Er wollte nur noch sterben, am liebsten ohne sein Zutun. Doch so einfach, das wusste er, ging die Sache nicht. Er musste eine Entscheidung treffen.

Mittlerweile kündigte sich der Frühsommer an. Auf der Schuhkommode im Flur stapelte sich die ungeöffnete Post, jede Menge Reklameprospekte und Werbezeitungen - höchste Zeit, sich darum zu kümmern und das Überflüssige zu entsorgen, ebenso die leeren Dosen und Flaschen, die in der Küche eine Armee bildeten. Doch Florian lag im Bett und überlegte, ob er einfach lospinkeln oder sich besser erheben sollte, um zur Toilette zu gehen. Als der Druck zu groß wurde, stand er auf, schlurfte ins Badezimmer und lupfte den Toilettendeckel. Die Erleichterung tat ihm wohl. Aber da war noch etwas in seinem Unterbewusstsein, das ihn verstörte: Er hatte einen flüchtigen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken geworfen, und da war – nichts. Über dem Gesichtsbart, den er unbekümmert hatte wachsen lassen, waren die Nase und die Stirn, wie sie zu sein hatten: von einer natürlichen Hautfarbe. Ebenso sein nackter Oberkörper. Keine lila und schwarzen Flecke mehr.

Florian griff zur Schere, schnitt die Barthaare kurz, nahm den Rasierapparat und ließ ihn über Wangen und Kinn gleiten. Er wollte es genau wissen. Als er fertig war, ging er mit seinem Gesicht nah an den Spiegel, als könne er es immer noch nicht glauben. "Gütiger Gott! Deine Wege sind wirklich unergründlich."

Er rief seinen Boss an, doch dieser reagierte zugebunden. "Wir haben Ihnen vor einem Monat gekündigt und die Stelle neu besetzt. Kulanterweise haben wir Ihr Gehalt noch bis dahin gezahlt. Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute."

Carola! Sollte er sie anrufen? Nein, besser nicht, denn er liefe Gefahr, dass sie ihn nicht zu Wort kommen ließe, sondern einfach auflegte. Er hatte sie zu sehr verletzt. Also machte er sich auf den Weg zu ihrer Arbeitsstelle, denn er wusste, wann sie Feierabend hatte, und so postierte er sich auf dem gegenüberliegenden Gehweg. Er war nicht allein, denn vor dem Eingang zu dem Unternehmen wartete noch ein anderer Mann, groß, schlank, sportlich gekleidet, gutaussehend. Wie er geschätzte Anfang dreißig. Als Carola aus dem Gebäude kam, fiel sie ihm in die Arme, und er küsste sie zärtlich.

Als die beiden untergehakt davongingen, bemerkte Florian, dass der Mann hinkte. Es schien Carola nicht zu stören. Ich war ein Idiot, dachte Florian, aber so ist das Leben: Man verzockt sich. Und jetzt ist wieder alles auf Anfang.

Und in euphorischer Traurigkeit ging er nach Hause.
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.02.2023, 23:22   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
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Interessante Idee für eine Geschichte! Mit Interesse gelesen; vielleicht sage ich morgen noch mehr dazu.
DieSilbermöwe ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 19.02.2023, 13:42   #3
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
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Beiträge: 6.687


Zunächst erinnertle mich die Geschichte ein wenig an die Erzählung von Kafka, „Die Verwandlung." Aber hier verwandelt sich der Protagonist wieder ins normale Aussehen zurück, nachdem er alles ihm Wichtige verloren hat.
Am besten gefällt mir die „euphorische Traurigkeit." Ein passender Schluss.
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