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Alt 02.02.2023, 20:50   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Note 2

"Hier – dein Kaffee. Extra stark." Ursula stellte die Tasse auf Michaels Schreibtisch ab und deutete auf den Stapel Schulhefte. "Muss das alles heute noch durch?" Matthias nickte und schaute auf seine Armbanduhr. "Bis Mitternacht wird's dauern."

Na, denn." In Ursulas Ton lag Mitgefühl. "Ich schau mir einen Film an. Ruf mich, wenn du Nachschub brauchst."

Michael Franke war Lehrer für Deutsch, Englisch und Musik. Vor drei Tagen war er für einen Kollegen, den Klassenlehrer der 6A, eingesprungen, der krank geworden war. Auf dem Schulplan hatte das Schreiben einer Klassenarbeit gestanden, eines Aufsatzes unter dem Titel "Was mein größter Wunsch wäre".

Eigentlich war Michael mit Arbeit seit Wochen bis unters Dach vollgepackt, aber Fachlehrer für die sechste Klasse waren rar, fielen oft aus oder konnten aus familiären Gründen die Vertretung nicht übernehmen, und so hatte er sich dazu breitschlagen lassen, einzuspringen.Die Aufsätze mussten zeitnah zurückgegeben werden. Sie aufmerksam zu lesen, damit sie gerecht korrigiert und objektiv benotet werden konnten, erforderte Konzentration.

Michael schlürfte seinen Kaffee und setzte seine Arbeit fort. Fünf Hefte hatte er bereits hinter sich. Während die Zeit runtertickte, rackerte er sich durch Nummer sechs, sieben und acht. Nach Nummer neun standen die Zeiger seiner Armbanduhr auf Viertel vor zehn. Er seufzte, griff sich das nächste Heft und schlug es auf.

"Ursel!" Sie kam herbei, die Glaskanne in der Hand. "Noch Kaffee?" Michael schüttelte den Kopf und zerknitterte fast das Heft in seiner verkrampften Hand, als er es ihr entgegenhielt: "Das musst du lesen!"

Sie setzte die Kann ab und nahm das Heft. "Mein größter Wunsch."

"Das ist die Überschrift. Sag mir einfach, was dich verstört. Oder verstören könnte."

Ursula las eine Weile stumm vor sich hin, ehe sie zitierte. "Ich habe Angst gehabt, sitzen zu bleiben, und habe gefragt, was ich tun kann, um besser zu werden, damit meine Mama mich nicht haut, wenn ich nur eine Vier bekomme. Bei einer Drei bekomme ich nur Stubenarrest, aber bei einer Fünf bekomme ich einen Tag lang nichts zu essen."

Michael schloss die Augen. "Und weiter?" Ursel schlug die nächste Seite auf."

"Er hat zu mir gesagt, dass ich gut zu ihm sein soll, dann bekomme ich gute Noten. Ich muss nur mein Höschen ausziehen und ihn ein bisschen spielen lassen."

Ursula ließ das Heft sinken und sah Michael hilflos an. "Weiter!", forderte er sie auf.

"Manchmal gibt er mir eine Eins, aber wenn ich zu viele Fehler mache, nur eine Zwei, damit es nicht auffällt. Ich mag die Noten, aber das andere nicht. Deshalb trage ich keine Röcke mehr, nur noch Jeans. Dann kann ich mein Höschen nicht mehr ausziehen. Jetzt kriege ich wieder nur eine Vier oder Fünf, auch wenn ich mir Mühe gegeben habe. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Die Schule ist blöd, ich will da nicht mehr hin."

Ursula schlug das Heft zu und schaute auf den Umschlag. "Marianne Siebert. Vielleicht hat sie sich das nur ausgedacht. Sie nennt ja keinen Namen."

"Und wenn nicht? Vielleicht ist es ein Hilfeschrei. Vielleicht hat sie sich dazu getraut, als sie wusste, dass ein anderer als der Klassenlehrer ihren Aufsatz zu sehen bekommt."

Ursula erschrak. "Du glaubst doch nicht, dass dein Kollege Schubert …"

"Wen sonst sollte Marianne meinen? Er ist der Klassenlehrer, unterrichtet die meisten Fächer, und er spielt in der höchsten Gewichtsklasse, wenn es um die Versetzungen geht." Michael fuhr sich durch die Haare. "Was ist, wenn es keine Phantasie ist? Was soll ich tun? Den Rektor informieren? Oder die Polizei informieren?"

"Und was ist, wenn es doch Phantasie ist? Du hast die Chance, nach diesem Schuljahr Konrektor zu werden. Willst du dir das vermasseln, weil ein pubertierendes Mädchen ihre erwachten sexuellen Triebe in einem Aufsatz auslebt?"

"Ich soll den Mund halten, meinst du. So einfach ist das aber nicht, Ursel. Ich muss den Aufsatz korrigieren, aber ich muss ihn in erster Linie nach seinem Inhalt benoten."

"Na und? Dann benotest du ihn einfach." Sie schnaubte Michael an. "Was heißt denn Inhalt? Sei kein Narr! Du bist Lehrer in Deutsch, kein Psychologieprofessor. Wir haben ein Haus abzubezahlen, und Yvonne will studieren. Ich kann es mir auch nicht leisten, meinen Job aus moralischen Gründen in den Sand zu setzen. Deine Gefühle gehören deiner Familie, also knips deine Vernunft an!"

Michael ließ die Schultern sinken. Ursula legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Ich hole uns einen Cognac. Du brauchst jetzt Entspannung." Sie nahm die Kanne mit dem Kaffee mit sich und kam mit zwei Schwenkern Cognac zurück.

"Mach einen Punkt und geh schlafen", sagte sie, trank ihren Schwenker aus und verschwand im Schlafzimmer.

Michael trank seinen Cognac in einem Zug. Dann schrieb er unter den Aufsatz: "Ein interessanter Aspekt über eine Form der Abhängigkeit, die zu wenig in unserer Gesellschaft wahrgenommen wird. Sehr reif für eine Schülerin deines Alters. Deshalb trotz einiger Rechtschreibfehler: Note 2."

Dann ging auch er schlafen.
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.02.2023, 15:01   #2
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... puuhh, starker Tobak, Lehrer wird nicht der einzige Job sein, in dem man entscheiden muss, welche Seite man wählt. Der irgendwie offene Schluss lässt den Leser entscheiden, wohin er tendiert. Gern und flüssig gelesen.

Halt, stopp! Mich verwunderte nur, das ein Mädchen, das scheinbar gut und richtig schreibt, sonst schlechte Noten bekommt. In deinem Text ist ihr Aufsatz zumindest fehlerfrei, ein paar Fehler hätten eventuell die Glaubwürdigkeit erhöht.(?)

beaux trêves
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.02.2023, 15:37   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von dunkler Traum Beitrag anzeigen
Halt, stopp! Mich verwunderte nur, das ein Mädchen, das scheinbar gut und richtig schreibt, sonst schlechte Noten bekommt. In deinem Text ist ihr Aufsatz zumindest fehlerfrei, ein paar Fehler hätten eventuell die Glaubwürdigkeit erhöht.(?)
Danke für deinen Kommentar, dunkler Traum. Aber du ziehst mit deiner Frage den falschen Rückschluss. Der Text des Mädchens wird von Ursula vorgelesen, man weiß also nicht, ob er Schreibfehler enthält. Und sonderlich gut ist er auch nicht geschrieben, sondern bewusst in naiver Sprache abgefasst. Außerdem wird nicht gesagt, in welchen Fächern das Mädchen Schwächen hat, die seine Versetzung gefährden könnten, das könnten z.B. Mathe und die Naturwissenschaften sein.

LG
Ilka
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.02.2023, 21:51   #4
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... ok, akzeptiert, falsch verstanden, dann passt alles.

br
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.02.2023, 15:16   #5
weiblich Donna
 
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Hi Ilka,
etwas zu sehr konstruiert? Ich schwanke noch. Kinder, Geld, Kariere, Skrupellosigkeit, ein Mädchen, was seine Scham überwindet und „aussagt“….alles kommt plötzlich zusammen, und will die entscheidende Rolle in diesem kurzen Dialog spielen.
Irgendwo sträubt sich etwas in mir, dass ein offensichtliches Verbrechen wie ein solcher Missbrauch so kaltschnäuzig mit der Note 2 abgewickelt wird. Aber es muss ja so sein, wie sonst käme die erschreckend hohe Dunkelziffer zustande?
Ein couragiertes Umfeld ließe andere Zahlen erwarten.
Gerne gelesen,
lG Donna
Donna ist offline   Mit Zitat antworten
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