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Alt 22.12.2022, 17:37   #1
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Standard Das Versprechen - Eine Weihnachtsgeschichte

Frederick hob die Augenbrauen, wer zu dieser Stunde an Heiligabend bei ihm klingelte. Er hielt mit dem Schnippeln der Pellkartoffeln inne, wischte sich die Hände an der Schürze ab und verließ die Küche. Im Flur stand Christopher und schaute mit einer Mischung aus Zweifel und Hoffnung zu ihm auf. "Kommt Mama wieder?" Die Frage tat Frederick weh. "Das werden wir gleich sehen." Er ging zur Wohnungstür und hob den Hörer des Haustelefons von der Halterung. "Hallo?" Niemand antwortete, statt dessen klopfte, wer immer unangemeldet draußen stand, energisch an die Tür.

Durch den Spion war niemand sehen, der Gang der Etage wirkte still und leer. Frederick vermutete, dass sich der Unbekannte nicht sofort zu erkennen geben wollte und neben die Tür getreten war. Vorsichtig öffnete er und schaute auf den Gang hinaus. In diesem Augenblick trat von rechts eine graubärtige Gestalt vor ihn, gekleidet in einen dunkelbraunen Flauschmantel und eine rote Zipfelmütze mit einem weißen Rand und einer weißen Bommel. Seinen Hals schützte ein grasgrüner Wollschal, und in der linken Hand trug er einen Jutesack, der mit Gott weiß was gefüllt war.

Frederick hätte sich am liebsten die Augen gerieben und in die Wange gekniffen, um sicherzugehen, dass er nicht träumte. "Wer sind Sie?"

"Sieht man es nicht?", antwortete die Gestalt mit brummiger Stimme. "Bist du schon so alt, dass du mich vergessen hast und nicht mehr erkennst? Ich bin natürlich Knecht Ruprecht, und ich habe für dich und deinen Jungen etwas aus der himmlischen Werkstatt meines Herrn und Meisters mitgebracht." Wie zum Beweis hielt er den Jutesack hoch. "Darf ich reinkommen?"

Im Bruchteil einer Sekunde schlug in Fredericks Kopf der Alarm los. Versuchte hier ein dreister Kerl, ihn zu übertölpeln und ohne Widerstand in seine Wohnung zu kommen, um ihn vor den Augen seines Sohnes zu bedrohen und auszurauben? "Woher wissen Sie, dass ich einen Jungen habe?", fragte er, um Bedenkzeit zu gewinnen, aber die Frage erübrigte sich, denn Christopher war neugierig nähergetreten und musterte mit ehrfürchtigen Augen den bärtigen Alten. "Papa, ist das der Nikolaus?" Frederick drückte seinen Sohn an sich und schüttelte den Kopf. "Nicht ganz, Chris, das ist Knecht Ruprecht. Er hilft dem Heiligen Nikolaus an Weihnachten, damit ihm die Arbeit nicht über den Kopf wächst und alle Kinder ihre Gaben bekommen."

Frederick wusste nicht, ob das stimmte, denn ihm war der Unterschied zwischen dem Nikolaus, Knecht Ruprecht, dem Weihnachtsmann und dem Christkind nie klar geworden. Aber Christopher schien sich mit der Antwort zufriedenzugeben. "Was sind Gaben, Papa?", fragte er statt dessen. "Geschenke. Spielsachen und Süßigkeiten, Äpfel und Nüsse."

Knecht Ruprecht neigte sich zu dem Jungen. "Bist du gespannt, was ich dir mitgebracht habe?" Christopher nickte, und Frederick musste sich geschlagen geben. "Kommen Sie rein." Zielstrebig ging Knecht Ruprecht durch den Flur in das Wohnzimmer, als sei er selbst seit Jahr und Tag in dieser Wohnung zu Hause. Vor dem silbergeschmückten Weihnachtsbaum, der auf einem Teewagen stand, blieb er stehen und nestelte an der Kordel, die den Jutesack verschloss. Er öffnete ihn aber nur so weit, dass weder Frederick noch Christopher den Inhalt sehen konnten. "Mal sehen, was wir da alles haben."

Er griff in den Jutesack und holte eine Flasche heraus. "Oho, erst einmal etwas für den Papa!" Es war eine Flasche Remy Martin, die er Frederick in die Hand drückte. Als nächstes kam ein Feuerwehrauto mit ausdrehbarer Leiter, einem Behälter, den man mit Wasser füllen konnte, und einem ausrollbaren Schlauch zum Vorschein. "Das ist jetzt eher etwas für einen kleinen Jungen wie dich", sagte Knecht Ruprecht, zwinkerte dabei aber Frederick zu, "obwohl ich mir nicht ganz sicher bin." Entzückt nahm Christopher das Geschenk in Empfang.

Nachdem noch eine DVD mit einem Abenteuerfilm für die ganze Familie, ein Zauberkasten und allerlei Kleinkram wie Buntstifte und Farbkasten aus dem Sack heraus waren, stülpte Knecht Ruprecht ihn um und schüttelte den Rest über dem Zimmertisch aus, ein Gemisch aus Nüssen, Vanillekipferln, Butterplätzchen, Marzipankartoffeln und Dominosteinen. "So, das war's."

Knecht Ruprecht faltete den schlaff gewordenen Sack zusammen und schob ihn sich unter die Achsel. "Ich verdrücke mich jetzt, da draußen warten noch ein paar tausend Kinder und viele Dutzend Säcke auf mich. Und du", wandte er sich an Frederick, "musst wieder in die Küche, den Kartoffelsalat fertigmachen und die Frikadellen braten."

"Du kennst meine Gewohnheiten aber gut, Knecht Ruprecht." Frederick verhehlte nicht sein Misstrauen. Was war hier faul?

"Kein Grund, darüber nachzudenken. Aber …" Knecht Ruprecht griff in seine Manteltasche, und augenblicklich spannte sich Fredericks Körper, bereit, zu reagieren, sollte der Auftritt dieses seltsamen Alten eine Wendung nehmen. "… da habe ich noch etwas für dich." Er hielt Frederick einen Briefumschlag hin, den dieser zögernd an sich nahm. "Aber erst später öffnen." Dann wandte er sich ab und eilte in den Flur. "Ich finde selbst hinaus." Auf der Schwelle schaute er sich nochmal um. "Ach ja, und fröhliche Weihnachten!" Dann schlug die Tür hinter ihm zu.

Frederick und Christopher sahen sich an, der eine ratlos, der andere die Augen voller Glück. "Es gibt ihn doch! Und der Stefan ist doof."

"Wieso ist der Stefan doof?"

"Der hat gesagt, dass es den Nikolaus nicht gibt. Und den lieben Gott auch nicht. Aber wenn es den Knecht Ruprecht gibt, dann gibt es auch den Nikolaus. Ich hab ihn ja selbst gesehen."

"Gewiss". Frederick strich Christopher beruhigend über das Haar. "Du hast ganz recht." Er half seinem Sohn, die Spielsachen ins Kinderzimmer zu tragen. Dann ging er in die Küche, um das Abendessen fertigzumachen und sich auf den traurigsten Heiligabend seit acht Jahren einzustellen. Christopher sollte ein heiteres Weihnachtsfest bekommen und für ein paar Tage vergessen, dass seine Mutter ihn verlassen hatte.

Jasmin und Frederick hatten geplant, in diesem Jahr Weihnachten und Silvester in den Bergen zu verbringen, in einem Skigebiet, wo um diese Jahreszeit immer Schnee zu liegen pflegte. Die Reise war schon im Oktober gebucht gewesen, zum Frühbucherrabatt. Aber Mitte November begann etwas Merkwürdiges in Jasmin vorzugehen. Sie wurde verschlossen, spielte nur noch selten mit Christopher und wies ihn immer öfter ab, wenn er mit ihr kuscheln wollte. Frederick konnte ihr nichts mehr recht machen, sie nörgelte ständig an ihm herum und schien sogar besessen davon zu sein, so viele Fehler wie möglich an ihm zu finden. Sie verbrachte immer mehr Abende mit ihren Freundinnen, wie sie ihm weismachte, bis wenige Wochen später die Bombe platzte: Sie hatte den Mann kennengelernt, von dem sie schon als Teenager geträumt hatte, und weil solche Träume so gut wie nie wahr werden, war sie entschlossen gewesen, ihre Chance zu nutzen und, wie sie sagte, alle Brücken hinter sich zu sprengen.

Nachdem sie ihren Koffer gepackt hatte, um mit ihrer großen Liebe nach Italien zu entschwinden, hatte Frederick überlegt, ob er und Christopher allein in die Berge fahren sollten. Aber sein Versuch, auf den Trennungsschock mit Trotz zu reagieren, war gescheitert. Er hatte Rotz und Wasser geheult und, als sein Selbstmitleid ihn aufzufressen drohte, seine Eltern in Hamburg angerufen, ob er zum Jahreswechsel zu ihnen kommen könne. Aber ja, hatten sie freudig zugestimmt, sie freuen sich sogar, ihren Enkel für eine Weile bei sich zu haben, denn man sehe sich ohnehin zu selten.

Die Brücken nicht abzureißen, sondern sie zu sprengen, das war das passende Wort, ging es Frederick durch den Kopf, als er halbblind die Zwiebeln schnitt, weil ihm die Tränen in die Augen schossen. Jasmin hatte, seit sie weg war, kein einziges Mal angerufen, um nach Christophers Befinden zu fragen oder ihm zu sagen, dass sie ihn liebe und vermisse. Nicht einmal an Heiligabend.

Als der Kartoffelsalat fertig war, um durchzuziehen, und die Frikadellen in der Pfanne brutzelten, fiel Frederick Knecht Ruprechts Brief ein. Er fischte ihn zwischen den Tüten und Päckchen an Süßigkeiten heraus, die noch auf dem Wohnzimmertisch lagen, öffnete ihn und zog ein DIN-A-5-Blatt heraus, das eine handschriftliche Nachricht trug.

"Lieber Frederick, ich schreibe dir diese Zeilen in der Zuversicht, dass es mir gelingen wird, dich hinters Licht zu führen. Ich weiß, dass du eine schwere Zeit durchmachst, und deshalb wollte ich ein Signal setzen, dass du nicht allein bist. Meine Truppe und ich haben für dich und Christopher gesammelt, um dir mit einer Weihnachtsüberraschung ein bisschen den Kummer zu lindern. Als es darum ging, wer in die Rolle des Knecht Ruprecht schlüpfen sollte, fiel die Wahl auf mich. Um es kurz zu machen: Im Namen der Truppe, aber in ganz besonderer Liebe von mir wünsche ich dir ein gesegnetes Weihnachtsfest. Deine Carola alias Knecht Ruprecht."

Caro! Wer sonst!

Er hätte drauf kommen müssen. Die "Truppe" war das Ensemble des städtischen Laientheaters, in dem sie mitspielte und für das sie ab und zu ein kleines Stück schrieb. Sie betrieb die Schauspielerei mit Leidenschaft, und niemand konnte so gut die Stimmen Prominenter imitieren und selber Stimmen entwickeln wie sie. Aber sein Kummer, der ihn wie einen Schlafwandler durch scheinbar raumlose Tage ziehen ließ und ihm alles abverlangte, um wie gewohnt zu funktionieren, hatte ihn für Carolas Täuschung unempfindsam gemacht. Mit ihr hatte ihn monatelang eine tiefe Leidenschaft verbunden, bis er Jasmin kennenlernte und, verloren in seiner Liebe zu beiden Frauen, dem energischen Drängen Jasmins nachgegeben und sich für sie entschieden hatte. Carola war darüber traurig gewesen, ihm aber ohne Groll verbunden geblieben.

Unter ihren Zeilen stand ein P.S.: "Meine Eltern und ich würden uns freuen, wenn du mit Christopher am ersten Weihnachtsfeiertag zum Essen kommen würdest. Es gibt wie immer Gans."

Wieder traten Frederick Tränen in die Augen. Nachdem er mit Christopher zu Abend gegessen hatte, rief er Carola an. Sie lachte laut, als sie seine Stimme vernahm. "Kann die Weihnachtsgangs einen Schafskopf an ihrem Tisch vertragen?", fragte er. "Aber klar, sie kann ja nicht mehr schnattern", antwortete Carola, "und außer Rotkohl gibt es auch jede Menge Grünfutter."

Nachdem Frederick und Christopher aus Hamburg zurück waren und sich der Alltag wieder eingependelt hatte, sahen sich Frederick und Carola regelmäßig. Sie half ihm, ein zuverlässiges Mädchen zu finden, das Christopher aus dem Kindergarten abholte und betreute, solange Frederick seinem Job bei den städtischen Fahrdiensten nachging. Die alte Liebe flammte wieder auf, und es dauerte nicht lange, bis sie wieder ein Paar waren. Nicht so wie damals, als sie in jugendlicher Neugier und Unbedarftheit einander an die Hand genommen hatten, sondern überlegter und darauf bedacht, behutsam miteinander umzugehen.

Zehn Monate später, während Frederick die Abendnachrichten in der ARD ansah, hörte er, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Erschrocken sprang er auf und stürzte in den Flur. Was war da los?

Im Flur stand Jasmin, die Wohnungsschlüssel in der Hand. Sie hatte sie mitgenommen, obwohl sie versichert hatte, alle Brücken hinter sich sprengen zu wollen. Klapperdünn war sie geworden, und um ihren Mund lag ein bitterer Zug. Der Glanz in ihren Augen war verschwunden, und die Haare hingen ihr wirr auf die Schultern. Frederick erschrak beim Anblick dieses Gespenstes.

Eine Weile standen sich beide sprachlos gegenüber. Dann meinte Frederick, seine Stimme wie aus weiter Ferne zu hören: "Willst du deine Sachen abholen?" Sie schüttelte den Kopf. "Was dann?" Sie sah ihn mit flehendem Blick an, und er glaubte zu verstehen. "Oh nein", stöhnte er, fasste sich aber sofort. "Es gibt kein Zurück, Jasmin. Erinnerst du dich nicht? Nicht an deine Brücken? Ein Trümmerhaufen. Granulat."

"Aber unser Sohn …"

"Es geht ihm gut. Er kommt bald in die Schule, da ist alles auf der Reihe. Also mach dir keinen Kopf."

Er ging zum Schlüsselkasten, holte einen Ring mit zwei Schlüsseln heraus. "Kleiner Tausch: Die Wohnungsschlüssel gegen die Schlüssel des Lagers, wo deine persönliche Habe untergebracht ist. Sieh zu, dass du den Kram in den nächsten sechs Wochen rausbekommst, die Endrechnung übernehme ich."

"Aber ich liebe dich doch. Ich war wie von Sinnen, als ich … es tut mir leid."

"Die Schlüssel!"

Er drückte ihr die Lagerschlüssel in die Hand und riss die Wohnungsschlüssel an sich. Dann schob er Jasmin zur Tür hinaus. "Mir tut es auch leid."

Als Carola anrief, war seine Stimme vor Aufregung noch belegt. "Schatz, ist alles in Ordnung?", fragte sie ihn. "Alles gut. Und? Wie sieht's mit unserer Planung aus?" "Bestens. Die Buchungsbestätigung ist gerade in meiner Mailbox gelandet. Weihnachten in den Bergen! Du kannst bald den Koffer vom Schrank holen."

"Gleich nach dem Anzünden der letzten Adventskerze."

"Alle Jahre wieder, oder?"

"Nicht alles, Caro. Diesmal wird's ernst."

Er schenkte ihr einen Weißgoldring mit einem Diamanten, schmal und klein, wie er ihn sich gerade noch leisten konnte. Und als er ihn an ihren Finger steckte, gelobte er: "Das ist ein Versprechen, das ich nie wieder brechen werde."

22.12.2022
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.12.2022, 15:56   #2
männlich dunkler Traum
 
Benutzerbild von dunkler Traum
 
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Beiträge: 1.611


... wunderschöne Weihnachtsgeschichte. Obwohl ich solche Stories lieber meide, hatte ich Pippi in den Augen.

beaux rêves
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
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