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Alt 12.03.2023, 19:12   #1
Friedrich
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 237

Standard Rousseaus Beginn als Revolutionär

Jean-Jacques Rousseau war kein aktiver Revolutionär wie Marat oder Robespierre, er hat vielmehr zusammen mit Voltaire die ideologischen Grundlagen für diese gelegt. hier nun der Beginn.

Rousseaus Beginn als Revolutionär


Der Beginn von Jean-Jacques Rousseaus Karriere als revolutionärer Philosoph läßt sich ziemlich genau festlegen, denn er beschreibt ihn selbst in seinen Confessions: Es ist der Sommer 1749 und er befindet sich auf dem Weg nach Vincennes. Als er die Titelfrage eines Wettbewerbs der Académie de Dijon in der Zeitschrift Mercure de France liest, wird ihm rauschartig schwindlig er sinkt zu Boden unter einen Baum und als er wieder zu sich kommt, bemerkt er, daß er ohne seines Wissens seine Weste vollgeweint hat. Rousseau hatte schon vorher über vieles nachgedacht, doch das Thema der Akademie wirkte wie ein letzter äußerer Anstoß, der eine Flüssigkeit dazu bringt, plötzlich zu kristallisieren.

Das Thema der Akademie lautete:
Hat die Wiederherstellung (rétablissement) der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen, die Sitten zu reinigen (épurer)?

Eigentlich ein harmloses Thema, so möchte man meinen: Die Sitten waren früher – z.B. im Mittelalter –noch roh und ungeschliffen und die Wissenschaften und Künste haben (wohl) dazu beigetragen, sie zu verfeinern oder von Überflüssigem zu befreien. Was führte also dazu, daß Rousseau derart heftig auf diese Frage reagierte?

Rousseau nahm an dem Wettbewerb teil und gewann 1750 sogar den ersten Preis. Allerdings änderte er die Fragestellung leicht ab. Er schrieb: Hat die Wiedereinsetzung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen, die Sitten zu reinigen oder zu zersetzen (corrompre)? Letzteres war für ihn der Fall und dementsprechend schrieb er seinen Beitrag.

Für Rousseau waren die Sitten in der Vergangenheit besser als die zu seiner Zeit, und die Wissenschaften und Künste hatten seitdem eine schädliche Wirkung auf sie. Im Grunde attackiert er mit dieser Ergänzung des Themas die gesamte Elite seiner Zeit und dementsprechend hatte er auch keine große Erwartung, in dem Wettbewerb zu bestehen. Wenn dies dennoch der Fall war, so steht zu vermuten, daß die Akademie über die Neuartigkeit seiner Gedanken sehr beeindruckt war.

Jedenfalls lebte Rousseau durch das Thema „in einer anderen Welt“ und wurde ein „anderer Mensch“. (A l’instant de cette lecture je vis un autre univers et je devins un autre homme).

Wissenschaft und Tugend sind für Rousseau unvereinbar (incompatibles). An einer Stelle schreibt er: „unsere Seelen wurden in dem Maße zersetzt, in dem sich die Wissenschaften und die Künste sich vervollkommnet haben“.

In dem von Rousseau abgewandelten Wettbewerbsthemas. geht es um zwei verschiedene Arten von Sitten: zum einen um die verfeinerten, höfischen Sitten und zum anderen um die ursprünglichen, inzwischen korrumpierten Sitten. Um diese zu verstehen, muß man sich auf die Einfachheit anfänglicher Zeiten (premiers temps) besinnen. Damals machten die Menschen Erfahrungen im Umgang mit der Natur, lernten von ihren Eltern und gaben ihr Wissen an ihre Kinder weiter. Sie taten, was zu tun war und verteidigten bei Gefahr ihr Gemeinwesen. Irgendwann war es notwendig, einen besonderen Stand von Leuten zu berufen, der für den Schutz der Menschen zuständig war. Damit war die Aristokratie geboren, die selber nicht mehr arbeitete, sondern sich von den anderen ernähren ließ. Ihr privilegierter Stand verhalf ihnen dazu, ein angenehmes Leben (auf Kosten anderer) zu führen und die Wissenschaften und Künste drängten sich herbei, um ihren Teil dazu beizutragen und selber davon zu profitieren.

„Die Notwendigkeit (besoin) errichtete die Throne und die Wissenschaften und Künste haben sie gefestigt“. Hochmütig geworden durch ihr Leben im Luxus verachten die Eliten die Bauern, „die ihnen Brot und ihren Kindern Milch geben“.

Dasjenige, was die Menschen vom Schlage der alten Sitten von denjenigen der höfischen unterscheidet, ist die Tugend (vertu). Um zu wissen, was diese ist, braucht man „sich nur in sich selbst zurückzuziehen und auf die Stimme seines Gewissens zu hören“.

Diese Stimme des Gewissens ist ähnlich der der Wahrheit, denn diese äußert sich auf gleiche Weise. Rousseau beschreibt seine Begeisterung (enthousiasme) für die Wahrheit, die „alle seine kleinen Leidenschaften erstickt“ und des „nachts in ihm arbeitet, bis er sie endlich zu Papier bringt“. Rousseau ergreift Partei für die Wahrheit und spricht sie aus, „egal welchen Erfolg er damit hat“. Im Gegensatz zu den von ihm kritisierten Wissenschaftlern und Künstlern sorgt er sich nicht darum, den Leuten zu gefallen und läßt sich auch nicht von den Meinungen seines Jahrhunderts unterkriegen (subjuguer).

Nach allem sehen wir, daß Rousseau radikaler und revolutionärer dachte als Voltaire. Dieser lebte selbst wie ein Edelmann, ließ sich von Königen (Friedrich der Große) einladen und starb als vermögender Mann. Rousseau hatte auf die elf Jahre nach seinem Tod stattfindende Große Revolution größeren Einfluß als er.

Stellen wir uns vor, Rousseau kehrte 245 Jahre nach seinem Tod zur Erde zurück und könnte betrachten, was aus seinem Werk geworden ist.

Er könnte feststellen, daß in seinem Sinne eine Revolution stattgefunden hat, die im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geführt wurde und die alten Eliten abgesetzt hat. Er könnte allerdings auch feststellen, daß keines dieser drei berühmten Schlagworte tatsächlich auch umgesetzt wurde. Entsetzt wäre er bei der Kenntnisnahme, daß kurz nach der Revolution ein mörderischer Bürgerkrieg ausbrach, in dem Hunderttausende Bürger der Vendée ihr Leben verloren, nur weil sie ihren Glauben nicht aufgeben wollten.

Sähe er in die heutige Zeit, so stellte er wohl mit Genugtuung fest, daß nun überall in Europa die Demokratie etabliert ist. Allerdings nähme er sicherlich an einigen Dingen Anstoß, die ihm schon 1750 mißfallen haben.

In seinem Discours beklagt er sich über die akademischen Müßiggänger (lettrés oisifs). Unsere Abgeordneten haben eine große Ähnlichkeit mit diesen. Um ein solcher im Bundestag zu werden, bedarf es noch nicht einmal einer akademischen Bildung. Dennoch beziehen 736 Abgeordnete monatlich mehr als zehntausend Euro an „Diäten“ (€ 10.323,29, davon € 4.583,39 steuerfrei) und freuen sich auf eine „Altersentschädigung“ von 67,5% (= € 6.968,22), erscheinen aber trotzdem mehrheitlich nicht zu den Debatten im Plenarsaal.

Wissenschaftstheoretiker glauben, der Mehrheit der Leute überlegen zu sein, da diese nur „ungeprüfte Hypothesen“ im Kopf hätten, während sie selber ständig unterwegs sind, geprüfte zu „verifizieren“. Sie sind die einäugigen Könige unter den unwissenden Blinden.

Nicht wenige, die ein Talent für Musik, Sprache und Bilder haben, gehen zu Werbeagenturen und prostituieren sich dort für deren Auftraggeber.

An einer Stelle spricht Rousseau sich über die Bildung der Jugend aus. Man „bringe mit großem Kostenaufwand der Jugend alles Mögliche bei nur nicht ihre Pflichten (ses devoirs)“. Heute erwartet man von den Lehrern, daß sie die Schüler mit ihrem Unterricht unterhalten, so daß er ihnen „Spaß mache“. Pflicht wäre hingegen für den Schüler, sich mithilfe des Lehrers sein Wissen aktiv anzueignen.

Von den Eliten heißt es bei Rousseau, daß sie „Feinde der öffentlichen Meinung seien (c’est de l’opinion publique qu’ils sont ennemies). Das gilt heutzutage vor allem für unsere Politiker. Unserem Demokratieverständnis nach sollten sie „Mandatsträger“ des Volkes (populus) sein. Wer allerdings als Politiker ein „Populist“ ist, wird von den etablierten Politikern gemieden wie ein Aussätziger. Populisten sind nicht „salonfähig“. Was ist denn eigentlich die Alternative zu „Populismus“? Ist sie Lobbyismus?

Zuletzt ermahnt Rousseau die Politiker, die dem Geld eine viel zu große Bedeutung zumessen. Mit Geld könne „man alles haben nur keine (ursprünglichen) Sitten und keine (tugendhaften) Bürger.

Nach allem bleibt festzuhalten, daß wir heute als Durchschnittsbürger in einem Luxus leben, um den uns die Aristokraten des 18. Jahrhunderts beneidet hätten. Daß man dabei den Boden unter den Füßen verlieren und dekadent werden kann, fällt uns meist nur bei den Eskapaden einiger Superreichen auf. Dennoch denke ich , kann es nicht von Nachteil sein, sich im Sinne von Rousseau auf elementare Dinge wie Sitten, Wahrheit Tugend und Pflicht zu besinnen.
Friedrich ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.03.2023, 20:46   #2
weiblich Ilka-Maria
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Beiträge: 31.082

Zitat:
Zitat von Friedrich Beitrag anzeigen
Dennoch denke ich , kann es nicht von Nachteil sein, sich im Sinne von Rousseau auf elementare Dinge wie Sitten, Wahrheit Tugend und Pflicht zu besinnen.
Und wie denkst du darüber, dass Rousseau, der große "Erzieher" und Verfasser des "Émile", alle seine Kinder ins Heim gesteckt hatte und seiner Frau (oder Lebensgefährtin) trotz ihres Flehens nicht ein einziges ließ?

Über Geld müsste er heute neu nachdenken, denn er kannte noch nicht die Auswirkungen des Kapitalismus und Neoliberalismus.
__________________

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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.03.2023, 10:02   #3
Friedrich
 
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Liebe Ilka-Maria,

ich habe 1993 mit einem Beitrag an einem Wettbewerb des französischen Erziehungs- und Kultusministeriums "Rousseau" teilgenommen. Titel der Ausschreibung: Le rétablissement des Sciences et des Arts a-t-il contribué à épurer les moeurs? Ich habe mir den Originaltext von Rousseau besorgt und diesen auf 30 DIN A-4-Seiten interpretiert. Den Wettbewerb habe ich damit leider nicht gewonnen, weil man wohl etwas anderes erwartet hatte. Diesen meinen Beitrag habe ich auf zwei Seiten gekürzt und hier eingestellt.

Was Deine Einwände betrifft, so gehe ich mit Dir völlig d'accord. Rousseau war schon eine merkwürdige Type, und wer sich dafür interessiert, braucht nur seine exhibitionistischen Confessions lesen. Dennoch lohnt es, sich mit seinem discours auseinanderzusetzen. Er verhilft - ohne Ansehen der Person - doch zu einigen Denkanstößen. In gleicher Weise kann man auch von Plato vieles lernen, ohne daß man mit allem völlig einverstanden ist.

Schön, daß Du meinen Beitrag gelesen hast.

Lieber Gruß

Friedrich
Friedrich ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.03.2023, 13:31   #4
männlich dunkler Traum
 
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... interessant geschrieben, doch hat/ hatte nicht jeder seine eigenen Vorstellungen von Sitte und Anstand. Was würde sein, wenn Jesus/ Mohamed/ Locke/ Marx/ Trotzki neu geboren würden? Ghandi würde sein Ding durchziehen, denke ich.
Deine Denkanstöße sind in Ordnung. Wer will heute noch Landwirt/ Handwerker/ Arbeiter werden? Die Frage scheint mir aber eher, warum? Jahrelang wurde der Jugend eingeredet, dass sie es mal besser haben werde. Was ist besser? Viel Geld verdienen, wenig tun?
Niemand (oder wenige) erklärte ihnen, was ein erfülltes Leben ist. Man zeigte ihnen: mein Haus, mein Wagen, mein Boot - als erfolgreiches Leben.
Einen Tagesgruß von Fremden erhalte ich egal welchen Alters eher selten, ein Lächeln noch seltener. Das Menschen eher auf ihre Rechte, als auf ihre Pflichten pochen, erscheint normal.
Wobei ich vermute, dass sich dieser Diskurs durch Jahrhunderte zieht. Waren es nicht schon die Griechen, die auf die Jugend schimpften?
Und der Inhalt von Sitte, Wahrheit, Tugend und Pflicht ist wandelbar.

dT
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.03.2023, 19:04   #5
Friedrich
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 237

Hallo dunkler Traum,
Zitat:
Deine Denkanstöße sind in Ordnung. Wer will heute noch Landwirt/ Handwerker/ Arbeiter werden?
Darum geht es in dem Rousseau-Text nicht.
Zitat:
(Hat nicht) jeder seine eigenen Vorstellungen von Sitte und Anstand.
Stimmt, nur sind diese, wie Du selbst sagst, "wandelbar" und zwar nicht nur historisch, sondern auch individuell. Sie wandeln sich jedoch meist nicht von allein, sondern vielmehr im Kontakt mit Leuten wie z.B. Rousseau. Wer sich darauf einläßt, kann davon profitieren. Das meint der letzte Satz meiner Abhandlung.

Lieben Gruß

Friedrich
Friedrich ist offline   Mit Zitat antworten
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