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25.11.2024, 17:41 | #1 |
Stille Wasser, tiefe Kämpfe
STILLE WASSER, TIEFE KÄMPFE
Die Sinnlosigkeit des Lebens lag heute besonders aufdringlich in der Luft, als ich die Korridore der Universität entlangging. Der graue Beton der Wände, an denen nichts weiter hing als alte, vergilbte Plakate und das leise Flackern der Neonröhren, vermittelten mir ein dumpfes Gefühl der Erschöpfung. Es war der zähe Brei der akademischen Routine, in dem wir uns alle schleichend zu verlieren schienen – Professoren und Studenten gleichermaßen. Nur dass die Studenten sich noch einbildeten, diesem Sog entkommen zu können, indem sie gegen etwas, irgendetwas, kämpften. Am Eingang zum Hörsaal standen sie schon, bereit wie eine kleine, selbsternannte Spezialeinheit des moralischen Widerstands. Drei Gesichter, die mich mit einer Mischung aus Empörung und kaltem Trotz fixierten, als sei ich das symbolische Ziel für ihren privaten Krieg gegen die verhasste Vergangenheit und alles, was sie als bedrückende Gegenwart wahrnahmen. Ich erkannte sie sofort – es waren die Üblichen: ein lockenköpfiger, blasser Idealist, das Gesicht mit der gezielten Hingabe eines Revolutionsfetischisten geschminkt, daneben ein paar Dreadlocks, denen man ihre antimodischen, aber modisch oppositionellen Absichten schon von Weitem ansah. Die junge Frau in der Mitte hielt ihren Blick erhoben, eine Mischung aus Verachtung und Ergriffenheit, als sei sie sich geradezu feierlich bewusst, Teil eines heldenhaften Augenblicks zu sein. In ihren Händen hielt sie einen Stapel Flugblätter, die sie schon vor einer Stunde am Eingang verteilt haben mussten. „Faschist!“ rief sie mir zu, und ihre Stimme hallte über die fast leere Etage. Das Wort kam ihr fast genüsslich über die Lippen, wie ein Auftakt zu einem immer wiederkehrenden Ritual, das wohl sein Eigenleben entwickelt hatte. Die zwei anderen wiederholten das Wort, in verschiedenen Tonlagen, fast wie ein vielstimmiger Choral. Sie kamen auf mich zu, drückten mir Flyer in die Hand und streckten die Pappschilder so dicht an mein Gesicht, dass ich ihre schwungvollen, nachlässig geschriebenen Parolen kaum entziffern konnte. „Euer Schweigen ist Zustimmung!“, stand da, und „Gegen alle rechten Hetzer!“. Von ferne hörte ich weitere Parolen; irgendwo musste noch eine Gruppe von Sympathisanten unterwegs sein. Es war fast komisch, wie sie sich so vor mir aufbauten, als sei ich eine Art letzter Teufel, den sie aus der Welt schaffen mussten, bevor sie sich der endgültigen Reinheit ihres Fortschritts hingeben konnten. Man sah ihnen an, dass sie ihre Rolle mit Hingabe ausfüllten – die gesammelte Wut der unterdrückten Menschheit in sich vereint, dargeboten in diesem kleinen, schwachen Auftritt. Ich konnte ihnen nicht einmal böse sein, nein, ich verstand sie ja. Es musste doch etwas geben, woran sie sich festklammern konnten, eine Tat oder wenigstens ein Schauspiel, das ihren Tag von der Sinnlosigkeit der meisten Tage abhob. Sie wollten ihrem Leben die Hülle eines Heldentums überwerfen, das sie gegen die schleichende Zersetzung immunisierte. Vor einem Jahr, inmitten eines Sturms aus hitzigen öffentlichen Diskussionen und empörten Beschwerden bei meiner Fakultät, hatten sie sich das erste Mal gegen mich gewandt. Der Presse war damals ein früher Text von mir anonym zugespielt worden, ein Dokument aus den jungen, hitzigen Tagen meines Studiums, in dem ich – vielleicht etwas übermütig und durchaus polemisch – die Präventivkriegstheorie relativiert hatte. Es war eine akademische Übung gewesen, nicht mehr als ein intellektuelles Spiel mit provozierenden Thesen, wie man es in jenen Jahren gerne betreibt, wenn man sich auf der Suche nach den harten, unversöhnlichen Wahrheiten der Geschichte wähnt. Doch für meine Kritiker hatte dieser Text alles, was sie brauchten, um mich als Feindbild zu zementieren. Die „revisionistischen Tendenzen“, die sie mir in den folgenden Wochen mit fanatischem Eifer unterstellten, prägten von da an jeden meiner öffentlichen Auftritte. Ich war nicht länger einfach ein Dozent für Neue Zeitgeschichte, sondern der „Kontroverse“, der „Unsensible“, derjenige, der „weltkriegsverherrlichend“ und „ideologisch verdächtig“ daherkam. In ihren Augen ein sicherer Beleg dafür, dass ich eine Art des Hitlerfaschismus repräsentierte, der sich zäh und unbelehrbar in die moderne Welt hineinschleppte. Vielleicht lag in all dem sogar eine gewisse Logik. Ein noch recht junger, konservativer Professor, der es wagte, in den verkrusteten Hallen der akademischen Linken als Gegenpol aufzutreten – sie hatten in den Geisteswissenschaften schließlich nur noch mich als Protestgegenstand. Und Protest, das wusste ich damals schon, bedeutete für diese Generation die einzige Form von Lebendigkeit, die ihnen in einer Zeit der leeren Versprechungen geblieben war. Doch war ich überhaupt konservativ? Ich wusste es nicht. Die identitätsstiftenden Begriffe meiner Jugend – konservativ, progressiv, links, Mitte, liberal, rechts, identitär, trans, non-binär, national – sie alle schienen mir leer, bedeutungslos, hohl wie ausgeblasene Eier, die einst Farbe trugen und heute nur noch fragile Schalen waren, ein Vokabular ohne Kern. Meine Identität formte sich nicht in den Kategorien, die sich andere so mühsam überstülpten, um den Anschein einer Ordnung zu wahren. Ich war – so schien es mir oft – bloß ein Beobachter inmitten all dieser Schubladen, diese Kategorien allenfalls als Fußnoten notierend, mit einem vagen Gefühl, dass das wahre Wesen der Dinge nie in solchen Abstraktionen lag. Es war jedoch der Fortschritt, der mich skeptisch stimmte – ein Begriff, der mir mit jedem Jahr seiner Unschärfe und Beliebigkeit bewusster wurde. Fortschritt wozu? Worin lag das Ziel, zu dem wir uns angeblich bewegten, und warum schien dieses Ziel so wenig greifbar? Fortschritt war zu einem moralischen Zwang geworden, einer Art heiligem Imperativ, dem alle blind folgten, ohne sich zu fragen, was dahinterstand. Einst hatten Denker wie Hegel den Weltengeist als Triebkraft dieses Prozesses postuliert, ein Konzept, das den Schleier des Zufälligen heben und das Schicksal einer Menschheit enthüllen sollte, die sich unwissentlich einem erhabenen Plan unterordnete. Doch Hegel war längst tot, und mit ihm die Idee einer größeren, gemeinsamen Entwicklung. Die Welt schien mir eher ein Ort chaotischer, zielloser Bewegung, in dem jeder Fortschritt eine bloße Phrase war, eine sprachliche Girlande um ein Nichts. Was blieb, wenn man das historische Endziel in Frage stellte? Ich sah in den vermeintlichen Fortschrittsgedanken nichts als Reflexe, Triebe, Überzeugungen, die ebenso zufällig schienen wie die chemischen Prozesse, die uns in Bewegung hielten. Weder die verheißene Auflösung der Klassenunterschiede noch die vage Vision einer gerechten Utopie hatten für mich Substanz. Die Utopien, die heute als rettende Horizonte gepriesen wurden, erinnerten mich an das schale Pathos früherer Generationen, die in ihre eigenen leeren Mythen investierten und das Scheitern hinter immer neuen Worten versteckten. So stand ich jenseits dieser Kategorien, die als Identitäten angeboten wurden. Die jungen Studenten, die mir nachriefen, dass ich mich „rechts“ oder „reaktionär“ verhalte, waren sich ihrer Positionen so sicher, dass sie gar nicht merkten, wie wenig sie sie selbst bestimmten. Auch sie schwammen in einem Strom, der für sie unsichtbar war, ein unsichtbarer Fortschrittsdrang, der weder Ursprung noch Ziel hatte und trotzdem als dogmatische Wahrheit verbreitet wurde. Ich hingegen wollte bloß einen Ort der Ruhe in diesem aufgeregten Treiben, eine distanzierte Klarheit, ein Verweilen, das es mir erlaubte, die Struktur der Dinge ohne Brille ideologischer Trübungen zu erkennen. Vergebens. Es war meine Weigerung, mich diesem unausgesprochenen Imperativ zu unterwerfen, die mir meine akademische Isolation bescherte, und vielleicht auch die Verachtung dieser jungen Leute, die sich so sicher waren, das Rad der Geschichte selbst zu drehen. Aber ich hatte die Tragik dieses Glaubens zu oft gesehen, hatte zu oft die Momente studiert, in denen die Weltanschauungen aufeinandergeprallt und verpufft waren, um mich noch davon beeindrucken zu lassen. So ging ich den Gang entlang, ohne die Proteste dieser kleinen Versammlung wirklich wahrzunehmen, allein mit der flüchtigen Einsicht, dass all diese Begriffe und Ideen nichts weiter als Wind waren. Als ich meine Vorlesung endlich beginnen konnte, eine routinierte Einheit über die Vertragsbestimmungen von Versailles, hatte ich noch deutlicher das Gefühl, als wäre ich in einer artifiziellen Dauerschleife gefangen. Das monotone Deklamieren der Fakten, die Erläuterungen zu den Reparationszahlungen, der territorialen Neuordnung Europas – alles, was ich Jahr für Jahr den jungen Köpfen mitzugeben versuchte, hatte für mich jegliche Substanz verloren. Schon seit geraumer Zeit lastete ein Gefühl des Scheiterns auf mir, das so tief und anhaltend war, dass es sich wie eine unsichtbare Substanz in meinen Knochen absetzte. In diesem Augenblick verband ich mich, auf eine merkwürdig intime Weise, mit den Verlierern von damals. Männer, die geglaubt hatten, durch diese Vereinbarungen Frieden schaffen zu können und doch nur einen faulenden Pakt schufen. Ein Gefäß neuen Leids. Eine erschütternde Erkenntnis: wie oft wir versagen, selbst wenn wir unsere Arbeit gut zu machen meinen. Diese Leere kam und ging, aber sie blieb nie völlig aus meinem Bewusstsein. Ein Lebensgefühl, das ich noch vor Jahren verachtet hätte – und doch hatte ich mich in den letzten Jahren immer tiefer darin vergraben. Eine Müdigkeit, die aus der Tiefe meines Bewusstseins kam und sich wie eine bleierne Decke über jeden meiner Gedanken legte. Es war nicht die Arbeit allein, sondern etwas Grundlegenderes, das mir abhandengekommen war. Eine lebensbejahende, wesentliche Komponente, die einmal meine Überzeugungen geformt und mich sogar beflügelt hatte. Jetzt überwältigte mich von Zeit zu Zeit nur noch ein dumpfes, schweigendes Leiden, das ich weder benennen noch wirklich greifen konnte. Nach der Vorlesung, als die Aktivisten, die mich am Nachmittag noch angeschrien hatten, wahrscheinlich längst in einer Bar saßen, erleichtert über ihren vollbrachten Protest, machte ich mich auf den Weg nach Hause. Die Schritte schleppten sich schwerfällig über den Asphalt, und mit jeder Minute, die mich meiner Wohnung näher brachte, verstärkte sich das Gefühl, in eine weitere Zelle des Alltags zurückzukehren. Eine Zelle, die ich mir selbst ausgesucht hatte. Zu Hause wartete meine Frau – eine Frau, die mir einst alles bedeutet hatte und die sich jetzt in einem Zustand der stillen Depression befand. Früher war sie Lehrerin gewesen, und es hatte sich nie so angefühlt, als sei dies der Beruf, den sie für sich ersehnte. Sie war in der Schule geblieben, weil ihr die Alternative – Auszubrechen aus der vertrauten Umgebung – wie eine dunkle, fremde Welt erschien, der sie sich nicht gewachsen fühlte. Der sicheren Routine der Schule hatte sie sich anvertraut, wie jemand, der den flachen See dem wilden Meer vorzieht, und doch hatte es sie allmählich zerfressen. Die endlosen Unterrichtsstunden, die Regeln und Vorschriften, die zum Selbstzweck verkommen waren, und zuletzt die Konflikte mit den Schülern, die alles in Frage stellten, was ihr einst klar erschien. Vor allem die Jungen aus muslimischen Familien waren für sie eine tägliche Herausforderung gewesen – Welten, die in ihrem Blickwinkel aufeinanderprallten, Missverständnisse, die nie zu überbrücken waren. Jetzt befand sie sich in einer spät entflammten Selbstfindungsphase, arbeitslos und in eine Art resignierte Abhängigkeit vom Alltag gefangen. Auch sie hatte das Verlangen nach einem Neuanfang verspürt, aber wo und wie dieser aussehen sollte, wusste sie noch nicht. Ich sah das Unvermögen in ihren Augen, das ich nur zu gut verstand: das Unvermögen, sich aus der Routine zu lösen, die einem mit der Zeit wie ein sich immer enger schließendes Band um die Brust legt. Es war eine schale, kalte Ruhe, die in unserer Wohnung herrschte, eine Art Gleichgewicht des Verzichts. Wir lebten Seite an Seite, wie Überlebende eines sinkenden Schiffes, das uns einst Freude und Inspiration bedeutet hatte und nun nur noch den kargen Rahmen für unsere Monotonie bot. Jeder von uns festgehalten an den letzten Fäden einer Routine, die vielleicht nichts anderes als ein Scheitern in Zeitraffern war. Ich war müde. Am nächsten Morgen erwachte ich im Bett, das Licht der frühen Sonne streifte durchs Fenster, warf blasse Flecken auf die Decke. Ich öffnete die Augen und bemerkte, dass Lisa mich beobachtete. Sie lag regungslos da, fast, als wollte sie jede meiner Bewegungen auffangen, als erwartete sie etwas, das ich ihr schon längst hätte sagen müssen. „Ist alles in Ordnung?“ fragte ich leise und fühlte ein vages Unbehagen, das mich selbst überraschte. Sie nickte leicht, sah weg, als hätte sie sich ertappt. „Ja. Ich habe nur nachgedacht. Es ist... ich weiß auch nicht.“ Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, ein Ausdruck, den ich bei ihr in letzter Zeit öfter gesehen hatte, als sie sich selbst zwischen Zweifel und Unbehagen verlor. Nach ein paar Sekunden des Schweigens sprach sie weiter, ohne den Blick von der Decke abzuwenden. „Wir waren seit Jahren nicht mehr im Urlaub, weißt du? Ich würde gerne wieder nach Venedig fahren. Nur wir beide. Eine kleine Auszeit.“ Ich nickte, fühlte, wie sich etwas in mir sträubte, ohne dass ich genau sagen konnte, was es war. Venedig – ein Ort, an dem wir uns früher verloren hatten, damals, als wir noch dachten, wir könnten dem Alltag auf diese Weise reparieren, als es noch einen Reiz für mich hatte, durch die engen Gassen zu streifen, den Geruch von alter Seeluft in den Straßen zu spüren. Jetzt fühlte sich die Vorstellung, einfach wegzufahren, wie eine billige Flucht an, eine Leere, die durch Orte nicht gefüllt werden konnte. „Ja, wir sollten wiedermal wegfahren,“ stimmte ich zu, etwas gereizt, fast abwesend. Ich stand auf, zog ein T-Shirt über und fühlte ihren Blick in meinem Rücken. „Und... hast du schon darüber nachgedacht, ob du dich jetzt endlich mal mit Christian treffen willst? Er ist seit Wochen wieder hier in Innsbruck, er hat mir schon wieder geschrieben, dass du nicht antwortest“ sagte sie plötzlich am Frühstückstisch, als wäre es eine Frage, die sie lange zurückgehalten hatte. Ich zögerte. Christian – der gescheiterte Künstler aus Wien. Ein Freund, der sich stets ein wenig zu sehr an die Idee eines kompromisslosen Lebens geklammert hatte, bis ihn die Realität schließlich ausspie. Seit Wochen wusste ich, dass er in der Stadt war, hatte die Einladungen von ihm ignoriert, die vorsichtigen Versuche, die er noch startete, um den Faden unserer einstigen Freundschaft wieder aufzunehmen. Eine Freundschaft, die für ihn wohl noch eine Art Anker bedeutete. „Ja, ich werde ihm heute noch zurückschreiben,“ antwortete ich schließlich. Die Worte kamen mechanisch, wie ein halbherziges Zugeständnis. Lisa schüttelte kaum merklich den Kopf. „Ihr wart früher so eng befreundet. Vielleicht braucht er Hilfe. Es wäre nicht das erste Mal.“ Ihre Stimme war leise, fast sanft, als wollte sie mich dazu bringen, in mir selbst etwas anzurühren, das ich längst vergraben hatte. Ich sah sie an, einen Moment länger als sonst, und mir wurde klar, dass sie es wirklich ernst meinte. Christian – der alte Freund, der mich in den frühen Jahren begleitet hatte, die Debatten über Kunst und Leben, die hitzigen Diskussionen bis spät in die Nacht. Eine Welt, die mir seltsam fremd geworden war. Damals hätte ich mir nicht vorstellen können, wie das Leben sich über die Jahre verengen würde, wie es mich in diese unausgesprochene Müdigkeit treiben könnte. Jetzt war Christian wieder da, und in diesem Moment war mir klar, dass er mehr für mich bedeutete, als ich mir eingestehen wollte. Noch am selben Tag rief ich ihn an, und wir verabredeten uns für das kommende Wochenende. Der Tag der Verabredung mit Christian war gekommen und so schlenderte ich durch die herbstliche Innsbrucker Altstadt, das kühle Licht der Straßenlaternen ließ die Fassaden in gedämpftem Glanz erstrahlen. Der Duft von nassem Laub und altem Stein erfüllte die Luft und ließ mich unwillkürlich an die Tage meiner Jugend denken, an jene Zeit, in der ich glaubte, das Leben folge einem tiefen, sinnhaften Muster. Damals dachte ich, meine Biografie würde auf etwas Höheres zulaufen, als sei mein Weg nur eine von der Zeit noch verdeckte Erzählung, die sich eines Tages offenbaren würde. Der Treffpunkt lag am Rand der Innenstadt: ein verschlafenes, fast esoterisch eingerichtetes Café, das wir einst zu unserem Stammlokal erklärt hatten. In den halb verborgenen Ecken und zwischen den staubigen Regalen voller Bücher und seltsamer Dekorationen war es, als würde meine Jugend wieder wach. Mit einem eigenartigen Gefühl der Vertrautheit nahm ich Platz und spürte die Erinnerung an eine Zeit, in der ich noch an den Sinn und die Bestimmung meines Lebens geglaubt hatte. Ich saß in dem dämmrigen Licht der Bar und wartete auf Christian, den Blick vage auf die Maserungen des Tisches gerichtet, während die Gedanken unweigerlich zu kreisen begannen. Warum war ich so verbittert geworden? Noch keine vierzig, und doch lastete eine Schwere auf mir, die ich früher nur bei älteren Männern bemerkt hatte, die mit ausdruckslosem Blick einsam am Bartresen saßen und es verstanden, ihre Erlösung im Bierglas zu suchen. Was würde aus mir im Alter werden, wenn ich bereits jetzt so empfand? Ich fragte mich, seit wann diese Leere in mir wuchs. War sie schon immer da gewesen, verborgen unter dem Übermut der Jugend, die das Leben wie eine einzige Verheißung wahrnimmt? Oder hatte mich erst der Alltag zermürbt, in seiner stillen Gleichmäßigkeit, in der jede flüchtige Hoffnung abblätterte und hinter der nichts blieb außer einem fahlen Nachgeschmack? Vielleicht war ich, wie Lisa, am Ende doch nur erschöpft. Auch sie, vom Leben selbst in ein Burnout getrieben, von einer unsichtbaren Hand in diese Müdigkeit gedrängt, die uns beide umschloss. Ich wusste es nicht. War es der Alltag, der mich ausgehöhlt hatte? Eine stille, unbemerkte Erosion, die erst jetzt deutlich wurde? Oder war die Erschöpfung in mir gewachsen wie ein Fremdkörper, der sich erst langsam, unaufhaltsam Raum verschafft hatte, bis nichts mehr übrig blieb außer einer dumpfen Schwere, die mich wie ein dichter Nebel umgab? „Du siehst zum Scheißen aus,“ waren Christians erste Worte, als er sich auf den Stuhl mir gegenüber fallen ließ, ein unverschämtes Grinsen im Gesicht. Ein Augenblick lang war ich sprachlos, die Begrüßung brach meine stumme Erwartung, die ich bis zu diesem Moment gepflegt hatte – die Erwartung, wieder denselben verlorenen Christian vorzufinden, einen Mann, der aus jeder Ausbildung geflogen war, der jedes noch so verheißungsvolle Kunstprojekt abgebrochen hatte, wie ein trauriger Pionier gescheiterter Existenzen. Doch diesmal wirkte er wie ein anderer Mensch. Sein Blick war klar, der Körper drahtig und selbstsicher, das Haar fiel ihm in glatten, gepflegten Strähnen bis auf die Schultern, und um den Mund trug er einen gut gestutzten, vornehmen Bart, der ihm fast etwas Würdevolles verlieh. Er war sieben Jahre älter als ich, und doch hätte er problemlos als der Jüngere durchgehen können. „Freut mich auch, dich zu sehen,“ antwortete ich trocken und versuchte, meine Überraschung zu überspielen. „Wolfi, ehrlich, ich hab mir Sorgen gemacht.“ Er lehnte sich zurück, seine Augen ruhten für einen Moment auf mir, ernst, fast ein wenig mitleidig. „Ich hab das alles mitbekommen, der ganze Skandal, das Interview… Alter, du klangst, als wärst du kurz davor, einzuschlafen, so erschöpft warst du.“ Ich seufzte. „Ja, ich hätte vielleicht nicht so lethargisch auf die Vorwürfe reagieren sollen. Aber wie oft kann man sich das anhören, ohne dass einem irgendwann die Lust vergeht, zu erklären, warum man nicht der Antichrist ist?“ „Das ist mir klar, aber es war schwer anzusehen,“ sagte Christian und zog seine Stirn in Falten. „Ich meine, wie lang geht das jetzt schon? Ein Jahr? Und schau dich an… du hast ja ziemlich zugenommen.“ Er hob die Augenbrauen, ein spöttisches Lächeln spielte um seine Lippen. „Willst du dem Klischee des verbitterten Professors auch noch körperlich entsprechen?“ Ich wollte ihm eine schlagfertige Antwort geben, aber er ließ mir keine Zeit, einzuhaken. „Weißt du,“ fuhr er fort und beugte sich etwas vor, „die Sache ist die, ich habe mich verändert. Ich meine, du siehst es doch.“ „Was heißt das jetzt schon wieder konkret?“ fragte ich, neugierig und leicht irritiert. „Keine verzweifelten Kunstprojekte mehr, die schon von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Kein zielloses Umherirren. Ich bin mir jetzt selbst eine Art Ordnung geworden.“ Er grinste, als hätte er eine tiefe Weisheit mit mir geteilt, während ich mich unwillkürlich fragte, ob das eine Eigenheit des Älterwerdens war – dieser plötzliche Drang, das Chaos des eigenen Lebens in ein Korsett zu zwängen und es als „Selbstverwirklichung“ zu verkaufen. Christian bestellte eine Runde Bier, und ehe ich es bemerkte, hatte ich bereits das dritte Glas vor mir stehen. Es war, als wäre er in der Zeit stehen geblieben – während ich schon nach zwei Gläsern diesen schalen Schleier im Kopf spürte, leerte er das nächste Glas, ohne dass seine Augen an Schärfe verloren hätten. Wir sprachen über Vergangenes, wichen Erinnerungen aus, die zu sehr brannten, doch bald schon hatte das Gespräch eine Routine gefunden. Ich sah ihm dabei zu, wie er in seiner unaufdringlichen Art trank, selbstsicher und ohne Hast, als gäbe es nichts Natürlicheres, als dass die Welt sich in diesem Kneipenlicht drehte, um einen Abend wie diesen zu rahmen. „Übrigens,“ begann er schließlich, „Anna hat geheiratet.“ Seine Stimme war beiläufig, wie er es immer schaffte, die größten Nachrichten unter Nebensächlichem zu verstecken. „Wen?“ fragte ich, wobei mir bereits die Antwort schmerzlich klar war. Anna – Christians Schwester und meine Ex – war immer für ihre Schwäche für die mondäne Sicherheit eines guten Bankkontos bekannt gewesen. „Einen Schweizer,“ sagte Christian, seine Stimme sarkastisch gedehnt. „In der Edelmetallbranche. Ein Kerl, der aussieht, als sei er direkt aus einer Werbeanzeige für Wertanlagen gestiegen. Ein richtiges Paradebeispiel eines gierigen Kapitalisten. Ein ziemliches Arschloch.“ Er lachte, aber seine Augen blieben kalt. „War ja klar,“ murmelte ich, mehr zu mir selbst als zu ihm. Anna, die sich einst für Revolutionen und Proteste begeistert hatte und sich nun einem Edelmetallhändler anvertraute. Ein seltsames, heiteres Gefühl kroch in mir hoch, aber ich schob es beiseite und hob das Glas. Nach ein paar weiteren Gläsern, als meine Sinne bereits vom Alkohol weich geworden waren und ich die Schärfe seiner klaren Augen kaum noch ertragen konnte, lehnte ich mich zurück und fragte direkt: „Und was machst du eigentlich jetzt hier, Christian? Wovon lebst du?“ Er stellte sein Glas ab und sah mich mit einer leichten Neigung des Kopfes an. „Ich wusste, dass du irgendwann fragst,“ sagte er, ein Lächeln zog an seinem Mundwinkel, bevor er weitersprach. „Ich arbeite jetzt als Energetiker.“ Ich starrte ihn an, völlig entsetzt. Energetiker? Der Mann, der in seiner Jugend jedes pseudowissenschaftliche Geschwurbel als „Denken für Behinderte“ verspottet hatte, sollte sich nun ernsthaft der feinstofflichen Heilkunst verschrieben haben? Ein spöttisches Grinsen konnte ich gerade so noch unterdrücken. Ich kannte ihn zu gut, um zu wissen, dass er jegliche Skepsis sofort als persönlichen Angriff empfand. Und für eine Diskussion über die Scharlatanerie des Energetiker-Gewerbes war ich definitiv noch nicht betrunken genug. Doch plötzlich brach Christian in ein Gelächter aus, er lachte mit seinem ganzen Körper. „Du solltest dich sehen, Wolfi, wie ein alter Spießer! Nein, nein, keine Sorge, ich mach keinen Hokuspokus. Ich wollte nur dein Gesicht sehen, damit ich mich davon überzeugen kann, dass du wirklich noch derselbe Spießer bist.“ Er lehnte sich zurück, die Augen schimmernd vor belustigter Verachtung. „Ich weiß doch, wie sehr du diese ganzen Schwurbler verabscheust. Nein, ich dachte nur, ich sollte dich vorbereiten… du könntest meine tatsächliche Beschäftigung für noch dümmer halten.“ „Dümmer als das?“ Ich versuchte, ruhig zu bleiben, obwohl mir ein unbehaglicher Knoten im Magen saß. Christian lehnte sich vor und sagte, als hätte er eine sensationelle Neuigkeit, die mein Leben verändern könnte: „Du hast doch sicher schon von Joachim Hapsinger gehört?“ Sofort entglitt mir ein genervter Seufzer. „Hapsinger? Sag bloß, du hast jetzt endgültig den Verstand verloren, Christian.“ In Gedanken ließ ich die Einzelheiten über diesen Mann Revue passieren. Hapsinger – ein Ex-Pfarrer aus Niederösterreich, der längst mehr durch Skandale als durch fromme Taten bekannt war. Er hatte sich während seiner Zeit in der Kirche so häufig und so radikal über gesellschaftspolitische Themen ausgelassen, dass selbst seine eigene Gemeinde irgendwann gegen ihn aufbegehrte. Seine Ansichten galten als zunehmend exzentrisch, seine theologische Haltung als bedenklich. Hapsinger hatte aufgehört, an eine wörtliche Auferstehung zu glauben, und sprach stattdessen von einer „konzeptionellen Auferstehung,“ einem spirituellen Erwachen, das er wie ein Guru verkündete. Für die katholische Kirche war dies schlicht gnostische Ketzerei – und sie schob ihn kurzerhand ins Abseits. Doch damit war er nicht verschwunden. Stattdessen gründete er einen Verein, die „Österreichische Erhebungsbewegung.“ Ein seltsamer Zusammenschluss aus gleichgesinnten Außenseitern, die sich der theologischen Eigenbildung und einer radikal konservativen Gesellschaftsidee verschrieben hatten. Sie hielten Vorträge, Seminare und, noch alarmierender, Aktionen, die auch das politische Establishment nicht mehr ignorieren konnte. Ich erinnerte mich an eine ORF-Reportage über ihn, die ihn als potentiellen Sektenführer darstellte. Offenbar ermittelte bereits der Verfassungsschutz. Christian schaute mich mit einem undefinierbaren Glanz in den Augen an. „Hör mal, bevor du mich gleich wieder abstempelst – was Hapsinger gemacht hat, das hat die Menschen wachgerüttelt. Er ist unbequem, sicher, und vieles an ihm ist fragwürdig. Aber ich kann dir versichern: Viele seiner Ansichten treffen einen Nerv, den wir seit Jahren ignorieren.“ Ich schnaubte. „Wachgerüttelt? Indem er eine Abtreibungsklinik beschmiert und Transkünstler von der Bühne wirft? Das klingt für mich weniger nach einem Weckruf als nach purer Selbstdarstellung.“ Christian zuckte die Schultern, unbeeindruckt. „Schau, ich bin ja auch nicht mit allem einig was der Verein so anstellt. Aber er stellt die richtigen Fragen und, was noch wichtiger ist, er bringt Menschen zum Nachdenken – etwas, woran dein Universitätsbetrieb mittlerweile kläglich scheitert.“ Ich schüttelte den Kopf und nippte am Glas. Es machte mir Sorgen, wie sehr sich Christian in eine Richtung entwickelt hatte, die ich immer für eine Sackgasse hielt – eine Richtung, die das Ausleben einer diffusen inneren Revolte mit einer Neigung zum Radikalen verwechselte. „Und was hast du jetzt mit Hapsinger zu tun?“ fragte ich schließlich, während ein unangenehmes Gefühl sich in meinem Magen breit machte. Christian grinste, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich das fragte. „Ich bin eingestiegen,“ erklärte Christian schließlich mit einem Ton, als würde er mir von einer harmlosen neuen Freizeitbeschäftigung erzählen. „Seit Monaten arbeite ich jetzt mit Hapsinger. Es war eine Art Erweckung, Wolfi. Die meisten Leute sehen gar nicht, was wirklich hinter ihm steckt. Sie verwechseln seine Klarheit mit Radikalität, seine Schärfe mit Hetze. Hapsinger ist ein Intellektueller, und das ist vermutlich der eigentliche Grund, warum sie ihn aus der Kirche haben gehen lassen. Ein kritischer Geist in einer Institution der Tradition – das war denen einfach zu unbequem.“ Ich verschränkte die Arme und blickte ihn skeptisch an, während er seine Lippen in einem leichten Schmunzeln verzog. „Weißt du,“ fuhr er fort, „ich habe tatsächlich irgendwo gelesen, dass wir, die Erhebungsbewegung, offenbar Kreationisten seien. Kannst du dir das vorstellen?“ Er rollte mit den Augen. „Nein, Wolfi, schau nicht so dumm – wir glauben weder, dass das Universum sechstausend Jahre alt ist, noch dass die Erde bei irgendeiner biblischen Flut untergegangen ist. Und ein Sektenführer ist Hapsinger auch nicht. Im Gegenteil! Die Erhebungsbewegung feiert die Pluralität. Die freie Rede, mein Lieber, ist für uns der Grundpfeiler westlicher Hegemonie, und das ist, was wir den Menschen beibringen wollen – die Freiheit des Denkens, die inzwischen unter jedem fadenscheinigen Vorwand beschnitten wird. Bei uns wir sie zelebriert!“ Mein Misstrauen ließ sich allerdings nicht so leicht zerstreuen. „Freiheit des Denkens? Und das unterstützt ihr, indem ihr Abtreibungskliniken beschmiert und Konzerte von Transkünstlern stört?“ fragte ich, ohne meine Skepsis zu verbergen. Christian blieb gelassen, ja fast amüsiert. „Wolfi, solche Aktionen sind... sagen wir mal, sie sind bewusst provokant. Sie schütteln die Menschen wach. Das Problem ist, dass die meisten nur noch fliehen, wenn jemand einen unangenehmen Spiegel vorhält. Es ist dieser behäbige, selbstgefällige Widerstand gegen alles, was das eigene Weltbild herausfordert – daran krankt unsere Gesellschaft.“ Ich schwieg, aber Christian ließ sich davon nicht beirren und fuhr fort: „Und bevor du fragst: Ja, ich bin voll dabei. Die Bewegung wächst, und es ist eine einmalige Gelegenheit, wirklich etwas zu bewegen. Natürlich gibt’s auch die praktischen Herausforderungen – Logistik, Events, Mitgliederarbeit.“ Er lachte plötzlich auf. „Eben wie bei Scientology, Wolfi! Ein komplexer Verein, jede Menge Organisation. Aber mal im Ernst: Ich bin der Vereinsleiter für Innsbruck. Ich bin derjenige, der jetzt die Aktionen und Events für ganz Tirol koordiniert.“ Das saß. Die Leichtigkeit, mit der er das sagte, seine Selbstsicherheit – es war, als spräche er davon, der neue Trainer des örtlichen Fußballvereins zu sein, nicht der Kopf einer wachsenden Bewegung, die als potenziell gefährlich galt. Ich atmete schwer aus, das Gespräch hatte eine eigenartige Schwere angenommen, die mir wie eine Last im Magen lag. Christian neigte den Kopf leicht zur Seite und nickte langsam, wie ein General, der einen Untergebenen entlässt, dem er zu erklären ersparen wollte, dass seine Mission vergeblich ist. „Ich verstehe, dass du das nicht gleich nachvollziehen kannst,“ sagte er mit einem Ton von verhaltenem Spott, als ob er ein ungläubiges Kind belehren müsste. „Schau, Christian, ich finde, Hapsinger und seine Bewegung – das ist ein ziemlicher Zirkus.“ Ich hielt kurz inne und sah seine Stirn sich verziehen, wie immer, wenn er etwas Kritisches ahnte. „Aber das ist deine Sache, nicht meine.“ „Was heißt das jetzt?“, fragte er, mit einem Funken Gereiztheit, als hätte ich eine Kerbe in sein frisch erworbenes Selbstbewusstsein geschlagen. Es war eine Empfindlichkeit, die ich bei ihm immer gespürt hatte, die wie ein Sprengsatz bereit lag, den er selbst bei der kleinsten Berührung zum Zünden bringen konnte. „Ich meine damit,“ sagte ich, meine Stimme härter, als beabsichtigt, „dass du dir hier mal wieder etwas Neues geschnitzt hast, ein neues Projekt, in das du dich stürzt, als hinge dein Leben davon ab. Du weißt schon – das volle Programm. Ein paar Monate lang schleppst du es mit dir rum, tust so, als sei es die letzte, große Wahrheit. Und irgendwann, das kennen wir ja beide, ist es dann plötzlich doch nichts mehr wert. Du steigst aus, erklärst das ganze Ding für eine Farce – und dann wartest du auf die nächste große Idee.“ Er zog die Brauen zusammen und sah mich an, als hätte ich gerade etwas ausgesprochen, was nur er bisher an mir erkannt hatte. „Arroganz,“ sagte er leise, seine Stimme ein Klingen wie Stahl, „das ist es, was ich hier vor mir sehe. Dieses Gift, das du jetzt in dir trägst, dieses – wie soll ich sagen – giftige Schwarz, das alles erstickt. Deine Überheblichkeit hat dich zu einem alten, verbitterten Mann gemacht, Wolfi. Ja, du, den sie alle irgendwann in den Senkel stellen werden, mit seiner kläglichen Weltanschauung.“ Ein heißer Stich durchzuckte mich, Wut, die sich in mir entlud wie ein Sturm. „Alt und verbittert? Weil ich mir nicht, wie du, in jedem Rausch ein neues Selbst zurechtbiege? Vielleicht, Christian, vielleicht bin ich einfach der Einzige von uns beiden, der die Welt so sieht, wie sie wirklich ist!“ Einen Moment lang saßen wir starr da, unsere Blicke wie Schwerter aufeinander gerichtet, und ich merkte erst jetzt, wie die Umrisse des Raumes unsicher verschwammen, der Alkohol, der in Wellen meine Gedanken weicher machte. Doch dann hob Christian die Hand wie zum Zeichen eines Waffenstillstands, stand wortlos auf und ging Richtung Toilette, nur noch eine Silhouette, die sich gegen die düstere Beleuchtung abzeichnete. „Wenn ich zurückkomme,“ rief er über die Schulter, „reden wir über was anderes. So werde ich hier nicht mit dir sitzen. Du bist immer noch einer meiner besten Freunde – und das bedeutet mir etwas.“ Als er verschwand, blieb ich allein mit meinen Gedanken und dem dumpfen Pochen in meinem Kopf zurück. Der Abend fühlte sich fremd und vertraut zugleich an, als stünde ich auf einem schmalen Grat zwischen einem tröstenden, alten Freund und einem unbegreiflichen, neuen Fremden. Als Christian zurückkehrte, bestellte er eine neue Runde, und wir stießen in stillschweigender Einigkeit an. Der Streit war wie der Widerhall einer vergangenen Zeit, und ich erkannte, wie wir – wie von selbst – die alten Geschichten wieder aufleben ließen, zwischen den Gläsern und dem schummrigen Licht der Bar. Der Rausch und die jugendlichen Erinnerungen verschmolzen zu einem warmen, beinahe vertrauten Nebel, in dem sich die Kanten der Realität für eine Weile auflösten. Die schwelende Leere in mir, dieses bohrende Gefühl der Entwurzelung, das mich sonst so fest im Griff hatte, schien für diesen einen Abend zu verschwinden. Die Stimmen und das Lachen in der Bar klangen gedämpft, fast wie ein ferner Widerhall; nur Christian und ich, von einem unsichtbaren Kreis abgeschottet, trieben durch die Stunden. Es war, als würde uns die Zeit einen verschmitzten Aufschub gewähren, und mit jedem Glas, das wir leerten, fühlte ich mich mehr in die vergangenen Tage zurückgezogen. Eine seltsame Geborgenheit durchflutete mich. Ich sah Christian an, diesen Mann, der sich immer wieder neu erfand und mir damit gleichermaßen ein Rätsel wie eine Erinnerung an die Möglichkeiten des Lebens war. Inmitten des diffusen Rauchs und der trägen Bewegung der anderen Gäste, war ich froh, dass er da war – mein Freund aus den längst verblassten Jahren, der für einen Moment wie ein unerschütterliches Fragment meiner Jugend in meinem Leben stand. Ich erwachte spät, mit einem schmerzenden Kopf und einem Mund, der sich anfühlte wie eine staubige Wüste. Der Abend mit Christian hatte seine Spuren hinterlassen. Die ersten Sekunden nach dem Aufwachen waren von dumpfer Verwirrung geprägt, doch kaum hatten sich die Erinnerungen in mein Bewusstsein geschlichen, spürte ich die Last des Katers wie eine Faust, die meinen Schädel umklammerte. Das Licht, das durch die Vorhänge drang, erschien mir wie eine feindliche Macht, und ich wünschte mir für einen Moment, ich könnte einfach weiterschlafen und der Welt noch ein paar Stunden fernbleiben. Lisa war bereits aus dem Haus. Es war Samstagvormittag, und wie jeden Samstag hatte sie ihren Yogakurs. Dort, wusste ich, traf sie auf Menschen, die das Leben mit einer Mischung aus spirituellem Eifer und esoterischem Unsinn betrachteten. Obwohl ich mich oft über ihre Geschichten über Kristallheilung oder energetische Chakren amüsierte, war ich insgeheim froh, dass sie etwas tat, das sie aus der Trägheit herausholte. Besser Yoga und dieser halb absurde Zirkel, dachte ich, als dass sie nur zu Hause saß und in ihrer Depression versank. Und, wenn ich ehrlich war, fühlte ich mich in ihrer Abwesenheit oft wohler. Die Leere, die sich zwischen uns aufgetan hatte, war wie ein stiller Raum, den ich nicht zu betreten wagte. Allein zu sein erschien mir einfacher, vielleicht sogar notwendiger. Ich zwang mich aus dem Bett, kochte einen bitteren Kaffee und biss widerwillig in eine trockene Scheibe Brot. Das Frühstück war mehr Pflicht als Genuss, und als ich es hinter mich gebracht hatte, zog es mich nach draußen. Ich brauchte frische Luft, ein Gegengift gegen die Schwere, die sich in meinem Kopf und meiner Seele festgesetzt hatte. Ich zog meine Jacke an und trat hinaus in den klaren Herbstmorgen. Die Luft war kühl, die Sonne nur ein matter Schimmer hinter den Wolken, aber es reichte, um meinen schmerzenden Kopf ein wenig aufzuhellen. Mein Weg führte mich in den Hofgarten, dieses Fragment geordneter Natur inmitten der chaotischen Stadt. Die Bäume, die in sattem Gold und tiefem Rot leuchteten, standen wie stumme Zeugen eines beständigen Zyklus. Ihre Blätter, die langsam zu Boden fielen, wirkten auf mich wie eine Mahnung an die Vergänglichkeit und gleichzeitig an die ewige Wiederkehr des Lebens. Ein besonders prächtiger Baum zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Sein Stamm war knorrig und dunkel, die Äste reichten weit in den grauen Himmel, und die Blätter hingen wie Flammen herab. Ich blieb stehen, betrachtete ihn lange, und spürte, wie eine leise, fast tröstliche Melancholie in mir aufstieg. Dieser Baum hatte Jahr für Jahr Stürme und Winter überstanden, hatte seine Wurzeln tief in die Erde gegraben, während ich in meinem Leben kaum festen Boden unter den Füßen fand. Die Natur folgte ihren eigenen Gesetzen, unbeirrt und unbeeindruckt vom menschlichen Drama. Sie erinnerte mich daran, dass es eine Konstante gab, eine Ordnung, die allem Zerbrechen und aller Zerstreuung entgegenstand. Für einen Moment fühlte ich mich kleiner, aber nicht unbedeutender – eingebettet in ein größeres Ganzes, das jenseits meiner persönlichen Schwächen und Krisen lag. Ich schlenderte weiter, ließ den Garten hinter mir und tauchte in die engen Gassen der Altstadt ein. Die Fassaden der alten Gebäude strahlten trotz ihres Alters eine gewisse Würde aus, als wollten sie sich nicht den nervösen Bewegungen der modernen Welt beugen. Es war ein beruhigendes Bild, doch es hielt nicht lange an. An einer brüchigen Mauer fielen mir Plakate ins Auge, die achtlos übereinander geklebt worden waren. Die meisten trugen Parolen wie „Revolutionäre Kräfte der Welt, vereinigt euch!“ oder zeigten stilisierte Szenen, die an die Arbeiterkämpfe des späten 19. Jahrhunderts erinnerten. Doch zwischen den abblätternden Papieren hing ein A4-Blatt, das sofort meine Aufmerksamkeit fesselte. Mein eigenes Gesicht starrte mir entgegen, grob und dilettantisch bearbeitet. Darunter prangte in dicken Lettern: „Wolfgang Trittstein – nieder mit dem Naziprofessor!“ Ich blieb stehen und betrachtete es genauer. Das Bild war lächerlich schlecht gemacht, verzerrt und unfreiwillig komisch. Ich konnte mir ein amüsiertes Schnauben nicht verkneifen, doch das Amüsement währte nicht lange. Die Dummheit dieser Aktion, die Kurzsichtigkeit der Studenten, die sich für revolutionär hielten, begann mich zu ärgern. Sie wussten nichts über mich, nicht wirklich. Ihre Welt bestand aus Schwarz und Weiß, aus einfachen Kategorien, in die sie Menschen und Ideen einsortierten, um sich selbst als Helden ihres kleinen, selbstgestrickten Dramas zu inszenieren. Während ich weiterging, schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass eine konservative Gruppe wie die von Hapsinger vielleicht gar nicht so fehl am Platz war. Nicht, dass ich zu jenem Zeitpunkt seinen Verein in irgendeiner Hinsicht unterstützte – aber es brauchte ein Gegengewicht. Die Welt war bereits aus dem Gleichgewicht geraten, zu viele Kräfte zerrten in zu viele Richtungen. Vielleicht, dachte ich, während ich meine Schritte beschleunigte, war es an der Zeit, diesem Kampf mehr Beachtung zu schenken. Als ich die Wohnungstür öffnete, wehte mir eine ungewohnte Energie entgegen. Lisa summte vor sich hin, etwas, das ich seit Monaten, wenn nicht Jahren, nicht mehr von ihr gehört hatte. Sie stand in der Küche, mit einem Ausdruck, der irgendwo zwischen Heiterkeit und innerem Frieden angesiedelt war. Es war fast, als hätte sich ein neuer Mensch in unsere Wohnung geschlichen, ein Mensch, der das Gesicht meiner Frau trug, aber eine völlig andere Aura ausstrahlte. „Wie war dein Kater-Spaziergang?“ fragte sie, als sie mich sah, und drehte sich mit einer fast spielerischen Bewegung zu mir um. „Gut,“ antwortete ich und zog die Schuhe aus. Meine Stimme klang matt, selbst in meinen eigenen Ohren. „Aber bei dir scheint es ja noch besser gewesen zu sein.“ „Ma, Wolfi, es war mehr als gut,“ sagte sie, während sie eine Kanne Tee auf den Tisch stellte, der bereits mit Schalen, Löffeln und einer Schachtel Kekse vorbereitet war. Sie setzte sich, legte die Hände um ihre Tasse und sah mich mit einem Ausdruck an, den ich kaum wiedererkannte – einer Mischung aus Euphorie und Hoffnung. „Ich war bei dieser neuen Meditationsgruppe, von der ich dir erzählt habe,“ begann sie und machte eine kleine Pause, bevor sie weitersprach, als suche sie die richtigen Worte. „Es war unglaublich. Ich hatte… eine Erfahrung.“ Das letzte Wort sprach sie mit einer solchen Ehrfurcht aus, dass ich es fast in Großbuchstaben vor meinem inneren Auge aufleuchten sah. „Es war, als hätte ich für einen Moment echten Frieden gefunden,“ fuhr sie fort, ihre Stimme leise, fast andächtig. „Einfach so. Alles wurde still. Kein Lärm, kein Chaos, keine Zweifel.“ „Das klingt... intensiv,“ sagte ich und bemühte mich um einen neutralen Tonfall, obwohl ich innerlich mit einer leisen Skepsis rang. „Was für eine Gruppe ist das nochmal?“ „Es ist ein Verein, der die Lehren eines Meisters aus Indien folgt. Sein Name ist Guru Anandamaya,“ erklärte sie und nahm einen Schluck Tee. „Ich weiß, wie das klingt, aber es funktioniert. Ich habe mich noch nie so gefühlt.“ Ich nickte langsam, unsicher, wie ich darauf reagieren sollte. Es tat gut, sie so zu sehen, voller Energie und Optimismus. Aber gleichzeitig konnte ich nicht verhindern, dass sich ein kleiner Stachel des Unbehagens in mir festsetzte. Es war eine seltsame Mischung aus Freude über ihre neue Lebensfreude und der schmerzhaften Erkenntnis, dass dieser Frieden offenbar nichts mit mir zu tun hatte. „Vielleicht finde ich jetzt auch einen neuen Weg,“ fuhr sie fort, ihre Augen leuchteten. „Vielleicht mache ich noch mal etwas ganz anderes. Eine Ausbildung zur Heilsmasseurin. Oder – ich weiß nicht – vielleicht sogar Yogalehrerin.“ Sie lachte leise und schüttelte den Kopf. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das jemals meistern könnte. Es ist eine echte Kunst.“ „Das klingt gut,“ sagte ich schließlich, unfähig, mehr zu sagen. Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Es ist schön, dass du etwas gefunden hast, das dir hilft.“ „Ja,“ sagte sie, mehr zu sich selbst als zu mir. „Vielleicht wird jetzt alles besser.“ Der Abend verlief zunächst ruhig. Lisa bereitete ein leichtes Abendessen vor, und wir sprachen über belanglose Dinge – das Wetter, einen Film, den wir gemeinsam gesehen hatten. Doch irgendwann, als wir bereits im Bett lagen, begann sie, mich zu küssen. Ihre Hände waren sanft, fast zaghaft, als versuchte sie, eine Brücke zwischen uns zu bauen. Doch in mir regte sich nichts. Mein Körper fühlte sich wie ein fremdes, widerspenstiges Instrument an, das ich nicht mehr zu spielen wusste. „Ich… es tut mir leid,“ murmelte ich schließlich, und der Klang meiner eigenen Worte ließ mich zusammenzucken. Sie zog sich zurück, ihr Gesicht eine Maske aus Enttäuschung und gekränktem Stolz. „Schon gut,“ sagte sie leise, fast mechanisch, und drehte sich von mir weg. Kurz darauf hörte ich ihren Atem gleichmäßig werden, ein Zeichen, dass sie eingeschlafen war. Ich jedoch lag wach und starrte in die Dunkelheit. Meine Gedanken kreisten um die Situation, um meine schwindende Sexualität, um das Gefühl, dass ein weiterer Teil von mir unwiderruflich verschwunden war. Es war nicht nur der Kater, das wusste ich. Es war, als habe der Alltag selbst mir jeden Funken Lebendigkeit genommen, mich zu einem Schatten meines einstigen Selbst gemacht. Die Decke über mir wurde zum Symbol meiner Hilflosigkeit. Zum ersten Mal seit meiner Kindheit, in einer Verzweiflung, die weder Worte noch Gesten kannte, sprach ich ein stummes Gebet. Es war keine bewusste Entscheidung, sondern ein Akt des innersten Instinkts. Bitte, dachte ich, lass mich einen Weg finden. Einen Weg, wieder lebendiger zu werden. Einen Weg, um wieder dankbar sein zu können. Das Dunkel der Nacht gab keine Antwort. Aber die bloße Geste, das Aussprechen dieses inneren Wunsches, hinterließ etwas Undefinierbares – einen kaum merklichen Riss in der Wand meiner Stumpfheit, eine Ahnung, dass Veränderung möglich war, auch wenn ich sie noch nicht verstand. Die Wochen bis zu den Weihnachtsferien verliefen in einem monotonen Gleichmaß, das nur durch gelegentliche Störungen aufgebrochen wurde. Die Aktivisten, die mich noch vor kurzem ins Visier genommen hatten, schienen ihr Interesse an mir verloren zu haben. Ihre neue Leidenschaft war ein wöchentlicher Stand in der Maria-Theresien-Straße, an dem sie für Gaza oder die Uiguren lautstark Parolen skandierten. Die Themen wechselten mit einer fast rituellen Beliebigkeit, als sei Empörung eine Ressource, die beständig erneuert werden müsse. Ich nahm es mit einer Mischung aus Erleichterung und Gleichgültigkeit hin. Was auch immer sie taten, solange es mich nicht mehr betraf, sollte es mir recht sein. Christian meldete sich nun häufiger. Seine Begeisterung für die Erhebungsbewegung war ungebrochen, fast kindlich in ihrer Intensität. Er arbeitete an einem Theaterstück, das im Bogentheater aufgeführt werden sollte, ein Gemeinschaftsprojekt der Bewegung. Die Idee schien mir absurd, doch Christians Eifer hatte etwas Ansteckendes. Seine Worte klangen wie ein Echo aus einer anderen Zeit, als wir beide noch von großen Projekten und bedeutenden Taten träumten. Es war, als hätte er einen Teil dieser jugendlichen Energie zurückerobert, die ich längst verloren glaubte. Ich beneidete ihn fast dafür, auch wenn ich seine neue Leidenschaft noch nicht ernst nehmen konnte. Lisa hingegen war ganz in ihrer neuen Welt der Meditation aufgegangen. Ihre Augen hatten wieder einen Glanz, den ich fast vergessen hatte, und sie bewegte sich mit einer Leichtigkeit, die mir fremd geworden war. Sie sprach oft von ihrem Meister, Guru Anandamaya, als sei er eine Art Heilsbringer, ein Licht in den Schatten ihres Lebens. Ich freute mich über ihre neue Lebenskraft, doch zugleich spürte ich, wie sie mir immer fremder wurde. Ihre Worte waren durchdrungen von einer Spiritualität, die ich weder verstand noch teilen konnte. Dennoch war die Atmosphäre zu Hause spürbar angenehmer geworden. Sie hatte ihre Bitterkeit abgestreift, und auch wenn sie sich in eine Richtung entwickelte, die mir fremd blieb, war ich dankbar für die Ruhe, die damit einherging. Doch dann, am ersten Adventsonntag 2031, wurde dieses fragile Gleichgewicht zerstört. Es war ein sonniger Tag, ungewöhnlich mild für die Jahreszeit, als die Nachricht über die Bildschirme flimmerte: der größte Terrorangriff in der Geschichte Österreichs! Zwölf Islamisten hatten in der Mariahilfer Straße in Wien das Feuer auf Passanten eröffnet, wahllos, kaltblütig. Die Zahlen, die in den ersten Stunden noch unklar waren, verdichteten sich bald zu einer schrecklichen Bilanz: 72 Tote, darunter Kinder, ältere Menschen und eine bekannte Reggae-Musikerin, die an diesem Nachmittag zufällig dort gewesen war. Ein weiterer Angriff, geplant von einem Einzeltäter in Graz, konnte rechtzeitig vereitelt werden. Doch das änderte nichts an der kollektiven Erschütterung, die das Land erfasste. Die Bilder der Verwüstung, der panischen Gesichter und die Bilder der Blutlachen auf dem Asphalt prägten sich tief in das Bewusstsein ein. Die Mariahilfer Straße, sonst ein Symbol des geschäftigen, vorweihnachtlichen Treibens, war zu einem Ort des Grauens geworden. Die politische Reaktion folgte dem gewohnten Muster. Die Koalitionsparteien der Sozialdemokratie und Österreichischen Volkspartei gaben dieselben Floskeln von sich, vielleicht etwas intensiver, die bei solchen Ereignissen immer bemüht werden: „Unsere Werte werden nicht weichen. Wir stehen zusammen. Blabla.“ Doch die Worte wirkten hohl, fast mechanisch, wie eine Tonbandaufnahme, die zu oft abgespielt worden war. Die Rechtspopulisten hingegen nutzten den Moment mit einer beunruhigenden Präzision. Ihre Parolen waren energisch, entschlossen: „Glück auf dir Festung Österreich!“ Sie fühlten sich bestätigt, ja fast triumphierend in ihrer düsteren Vision eines belagerten Europas. Die Auswirkungen waren überall spürbar, auch in Innsbruck. Die Christkindlmärkte blieben leer, ihre üblichen Düfte von Glühwein und gebrannten Mandeln mischten sich mit einer unsichtbaren, doch allgegenwärtigen Angst. Menschen mieden öffentliche Plätze, und die festliche Beleuchtung der Stadt wirkte wie ein grausamer Hohn auf die bedrückende Stille, die sich über alles gelegt hatte. Zu Hause sprach Lisa von einer kollektiven Heilung, die nun nötig sei, und von den „spirituellen Kräften“, die wir mobilisieren müssten, um das Land wieder in Einklang zu bringen. Ich hörte ihr zu, ohne wirklich zu antworten. Ihre Worte klangen in meinen Ohren wie ein ferner Gesang, schön und doch bedeutungslos. Der Abend nach dem Anschlag fühlte sich noch stiller an als jene Abende während der Corona-Pandemie, die damals das Land in eine gespenstische Ruhe gehüllt hatten. Doch während die Leere damals von einer seltsamen, fast kontemplativen Gleichzeitigkeit aller Leben geprägt war – als ob die Welt angehalten hatte, um einen Moment Atem zu holen – war sie nun von einer ganz anderen Qualität: schwer, drückend, fast bedrohlich. Die Straßen schienen wie leergefegt, obwohl ich wusste, dass hinter den Fenstern das Leben weiterging. Doch es war ein Leben im Schatten, ein verstörter Rückzug in private Welten, während draußen die unsichtbare Präsenz der Gewalt und des Kulturkampfes alles dominierte. Die Lichter der Adventsdekoration wirkten fast obszön, ein Überbleibsel eines Glaubens an Normalität, der sich bereits überholt anfühlte. Ich stand am Fenster und blickte hinunter auf die Gasse vor unserem Haus. Ein einzelner Passant eilte hastig vorbei, den Mantel eng um sich gezogen, als wollte er unsichtbar werden. Ein Polizeiauto rollte langsam die Straße entlang, seine Präsenz nicht beruhigend, sondern nur ein weiteres Symbol dafür, dass die Normalität endgültig zerbrochen war. Die Welt war still – aber nicht im Frieden. Es war eine Stille, die wie ein gesenktes Schwert über uns hing, bereit, mit einem plötzlichen Hieb alles zu durchtrennen. Ich wusste es damals noch nicht, doch ich denke, dass der Anschlag in meinem Unbewussten eine verdeckte Entscheidung ausgelöst hatte. Während ich an jenem Abend auf die Dunkelheit der Straße starrte, fühlte ich eine Welle von etwas, das ich nur als einen unerklärlichen Drang bezeichnen konnte. Es war keine plötzliche Erkenntnis, keine epiphanische Einsicht, sondern ein leises, stetiges Gefühl, das sich in mir auszubreiten begann – wie ein Same, der in der Dunkelheit der Erde keimt, lange bevor die ersten Triebe das Licht erblicken. Die Gesichter der Opfer, die Zahlen und Bilder, die immer wieder auf den Bildschirmen gezeigt wurden, verankerten sich in meinem Geist. Doch es war nicht nur Trauer, die mich durchströmte, sondern etwas anderes, vielleicht sogar etwas Gefährliches: eine tiefsitzende Wut, gepaart mit einem dringenden Bedürfnis, etwas zu tun. Dieses Gefühl war seltsam rein, fast archaisch in seiner Einfachheit. Es war der instinktive Wunsch nach Ordnung, nach einer Antwort auf das Chaos, das sich über alles gelegt hatte. Ich wollte helfen. Aber nicht in der Rolle, die ich bisher gespielt hatte, als ein Beobachter der Geschichte, ein Reflektor des Vergangenen. Das schien mir plötzlich nicht mehr genug. Nein, ich wollte die Zukunft gestalten – oder zumindest versuchen, ihren Verlauf mit zu beeinflussen, sie in eine Richtung zu lenken, die mir als richtig erschien. Vielleicht war es auch der leere Blick in den Spiegel, der mich zu dieser Entscheidung brachte. Die Erkenntnis, dass mein bisheriges Leben, so nützlich und strukturiert es auch erscheinen mochte, letztlich nichts war, das ich mit einem Gefühl von Stolz verteidigen konnte. Ich lebte, aber ich wirkte nicht. Ich war ein Professor, ein Chronist der Vergangenheit – aber die Gegenwart glitt an mir vorbei, unberührt von meinen Gedanken oder Taten. Dieser Abend, so denke ich heute, war der Beginn meiner Laufbahn bei der Erhebungsbewegung. Ich sah zu Lisa, die regungslos auf unserer Couch saß, versunken in ihrer Welt der Meditation. Sie schien Frieden gefunden zu haben, während ich mit meinem eigenen Unfrieden rang. Vielleicht, dachte ich, lag darin die Antwort: Nicht im Rückzug, sondern im Voranschreiten. Nicht in der Isolation, sondern im Versuch, eine Gemeinschaft zu schaffen, die glaubte – an etwas, an alles, an sich selbst. Damals hätte ich es wohl nicht so formuliert. Damals war ich nur ein zynischer Dozent, der auf ein Fenster hinaussah, und die dunkle Leere da draußen spiegelte das wider, was in mir brodelte. Doch jetzt, sehe ich klarer: Dieser Abend war der Moment, in dem ich begann, auf etwas Neues zuzusteuern. Ein Schritt in die Dunkelheit, ja, aber auch einer in Richtung eines Ziels, das ich noch nicht verstanden hatte. Der Entschluss, Weihnachten getrennt zu verbringen, war seltsam gewesen, aber nicht unangenehm. Lisa hatte auf die Operation ihrer Mutter verwiesen, auf die Notwendigkeit eines ruhigen, intimen Festes im Kreise ihrer Eltern. Ich hatte nicht widersprochen, vielleicht aus Bequemlichkeit, vielleicht auch, weil ich spürte, dass ein gewisser Abstand uns guttun würde. Es war keine offene Spannung zwischen uns, eher ein stillschweigendes Einverständnis, dass wir uns in verschiedenen Welten bewegten, die einander kaum noch berührten. So fuhr ich am Morgen des Heiligen Abends ins Salzburger Land, wo mein Vater seit seinem Ruhestand ein kleines Haus bewohnte. Der Winter war hier klarer, der Schnee dichter, und die Felder und Wälder wirkten wie ein Gemälde in Schwarz-Weiß. Ich fand ihn wie erwartet in seinem bescheidenen Heim, das er mit der Akribie eines ehemaligen Industrie-Abteilungsleiters in tadellosem Zustand hielt. Er war ein schmächtiger Mann, aber keineswegs gebrechlich, mit einem eleganten weißen Bart, der ihm eine Würde verlieh, die von seiner Disziplin und seinem tief empfundenen Katholizismus unterstrichen wurde. Wir waren nur zu zweit an diesem Abend. Mein Vater hatte keine Lust auf aufwendige Weihnachtstraditionen und setzte stattdessen auf Pragmatismus: ein saftiges Steak und ein Glas Rotwein. Der Duft des Fleisches füllte den Raum, als er in der kleinen Küche hantierte, und ich beobachtete ihn dabei, wie er mit überraschender Leichtigkeit die Pfanne schwenkte. Am Tisch, wo eine einfache, aber sorgfältig gedeckte Tafel auf uns wartete, drehte sich das Gespräch unvermeidlich um den Anschlag. Es war, als läge das Thema schwer und unausgesprochen zwischen uns, bis einer von uns es endlich in Worte fasste. „Die Schuld liegt auch bei der Kirche,“ sagte er schließlich, während er das Messer an der Kante seines Tellers abwischte. „Aber nicht nur. Die Politik hat versagt, und unsere Gesellschaft ist blind für gewisse Dinge, die sich längst angekündigt haben. Aber die Kirche – sie hätte eine größere Rolle spielen müssen. Sie hätte missionieren müssen, die Menschen, die hierherkommen, integrieren, ihnen etwas bieten. Aber stattdessen? Sie zieht sich zurück, lässt ihre Kirchen verfallen, noch schlimmer, gibt ihre Traditionen auf.“ Ich zögerte kurz, bevor ich antwortete, darauf bedacht, die sich anbahnende Schärfe im Gespräch nicht zu befeuern. „Ich glaube nicht, dass es so einfach ist,“ sagte ich schließlich. „Die Kirche befindet sich in einer schwachen Position. Die Missbrauchsskandale haben ihre Autorität schwer beschädigt, und selbst ohne diese Skandale hätte sie es schwer. Ihr Problem ist nicht nur, dass ihr Mitglieder fehlen – ihr fehlt eine zeitgemäße Grundlage. Ihre Offenbarungstheologie, dieser Absolutheitsanspruch, wirkt wie ein Fremdkörper in der modernen Welt. Die Menschen wollen keine unumstößlichen Wahrheiten mehr, keine dogmatischen Lehren. Sie verlassen nicht nur die katholische Kirche, sie verlassen den Glauben an sich.“ Mein Vater sah mich mit einem Ausdruck an, der irgendwo zwischen Resignation und Frustration lag. „Du hast ja recht, die Leute meinen sie wissen alles besser, auch du“ sagte er langsam. „Aber was bleibt uns dann? Wenn der Glaube fällt, was bleibt uns dann?“ „Das weiß ich nicht,“ erwiderte ich leise. „Vielleicht etwas Neues. Aber so, wie sie jetzt ist, verliert sie immer mehr an Bedeutung.“ Eine Weile herrschte Stille. Mein Vater nahm einen Schluck Wein und betrachtete das Bild an der Wand – eine Darstellung der Geburt Christi, die er einst aus einer kleinen Kapelle gerettet hatte. „Es braucht Demut,“ sagte er schließlich, „gegenüber Jesus und gegenüber der langen Geschichte, die uns hierhergeführt hat. Wir sind nicht so stark, wie wir glauben. Jedenfalls ich brauche den Herrgott.“ Ich war mir sicher, dass er längst wusste, dass ich Atheist war. Ich hatte es nie wirklich verheimlicht, aber auch nie klar ausgesprochen. Den Glauben hatte ich Anfang zwanzig endgültig abgelegt – zu viele Widersprüche, zu wenig Substanz. Der Mensch war nicht der Mittelpunkt, die Bibel nichts weiter als eine ansprechend erzählte Geschichte. Doch mein Vater, glaube ich, nahm es mir nicht übel. Vielleicht konnte er es sogar nachvollziehen. Es war keine Sache, die ihn wütend machte; eher war es eine stille Enttäuschung. Er schien Mitleid zu empfinden mit jenen, die ohne seinen Herrgott lebten, wie Schiffbrüchige ohne Land in Sicht. Die Schwere des Gesprächs wich allmählich, als das Essen voranschritt. Mein Vater war geschickt darin, die Stimmung zu lenken, und bald sprachen wir über leichtere Themen: über die Vergangenheit, über die Familie, über die Erinnerungen, die uns beide verbanden. Am Ende des Abends war die Atmosphäre versöhnlich, und ich war dankbar für diese Momente, die wir teilen konnten. Am Morgen, kurz nach dem Frühstück, machte sich mein Vater fertig für die Weihnachtsmesse. Er zog seinen besten Anzug an und steckte ein kleines Gebetbuch in die Tasche, das schon viele Jahrzehnte auf dem Buckel hatte. „Ich gehe jeden Sonntag, das weißt du ja“ sagte er, „aber an Weihnachten ist es etwas Besonderes. Du solltest auch mal wieder hingehen. Nicht heute, aber vielleicht kommendes Jahr, ich würde mich sehr freuen, wenn du und Lisa mich mal begleiten würden.“ Ich nickte, obwohl ich wusste, dass ich es nicht tun würde. Während er sich auf den Weg zur Kirche machte, packte ich meine Sachen und fuhr zurück nach Hause. Die Landschaft war still, der Schnee lag schwer auf den Feldern, und während ich fuhr, dachte ich an das leise Keuchen in seinem Atem, das mir am Vorabend aufgefallen war. Ich nahm mir vor, ihn bald wieder zu besuchen. Der alte Sturkopf würde sicher nicht von allein zum Arzt gehen, aber ich wollte ihn im Auge behalten. Es war ein leiser Entschluss, gefasst in der Klarheit eines verschneiten Morgens. Die Autobahn lag still unter dem grauen Himmel, nur das Rauschen der Reifen auf nassem Asphalt und das monotone Summen des Motors begleiteten mich. Der Verkehr war dünn, als hätten sich die Menschen kollektiv zurückgezogen, in ihre Häuser und Gedanken, fort von der bedrückenden Realität, die über allem lag. Ich hörte während der Fahrt verschiedene Nachrichtenpodcasts, immer wieder kehrten die Stimmen zu den Anschlägen zurück, als wäre es ein brennendes Loch, das keiner zu ignorieren wagte. Von den zwölf Attentätern, erfuhr ich, waren nur zwei Ausländer gewesen. Der Rest? Österreicher mit Migrationshintergrund. Bosnien, Syrien, Afghanistan – vertraute Namen in diesem Kontext. Zehn Männer, die in Österreich geboren oder aufgewachsen waren, die Schulen besucht hatten, teilweise dieselben Straßen wie ich kannten, hatten sich entschlossen, in einem heiligen Krieg ihre Mitbürger zu massakrieren. Ich spürte etwas Kaltes in mir, kein Mitleid, kein Zorn, nur ein abgestumpftes Unverständnis. Die Frage, die alle beschäftigte, war immer dieselbe: Wie konnten sie an diese Waffen gelangen? Ein Netzwerk war im Spiel, das war klar. Doch wichtiger war die Frage nach der Verantwortung. Der Sicherheitsapparat hatte versagt, kläglich versagt. Die Behörden wirkten wie ein alter Hund, träge, unaufmerksam, kaum noch in der Lage, sich zu regen. Die Experten hatten schnell ihre Antwort parat: Es wurde seit Jahren zu viel gespart. Die Beamten waren unterbesetzt, überlastet, manche Stellen blieben unbesetzt, weil das Geld fehlte oder die Entscheidungsträger einfach nicht mehr sahen, was notwendig war. Die Politiker sprachen, wie sie es immer taten – mit einstudierten Phrasen, vorgetragen in der vertrauten Mischung aus Panik und kalkulierter Härte. Rechts forderte Abschottung, links beklagte Diskriminierung, und ich, im Auto sitzend, empfand nur Verachtung. Sie alle hatten ihre vorbereiteten Rollen, doch keiner schien auch nur ansatzweise zu begreifen, wie verloren dieses Land war. Die Weihnachtsmärkte, hörte ich, würden großteils schließen. Zu wenige Besucher, zu viel Angst. Und Silvester? Bereits jetzt war klar, dass es unter Sicherheitsvorkehrungen stattfinden würde, die einer Belagerung glichen. Als ich die vertraute Ausfahrt nahm, überkam mich ein seltsames Gefühl der Erleichterung. Nicht weil ich mich freute, nach Hause zu kommen, sondern weil die deprimierende Fahrt endete, als würde ich aus einem dunklen Traum erwachen. Lisa schrieb mir auf Whatsapp, als ich die Tür öffnete, der leichte Frost der Abendluft noch auf meiner Haut. Sie würde bis Anfang Januar bei ihren Eltern bleiben, schrieb sie. Die Mutter brauche sie, und es schien, als wäre ihr das Arrangement lieber. Ich tippte eine verständnisvolle Antwort, betonte, wie wichtig es sei, dass sie für ihre Familie da sei, doch innerlich spürte ich ein Aufatmen, das mich beunruhigte. War es schon so weit gekommen? Freute ich mich tatsächlich über ihre Abwesenheit? Ich ließ mich auf das Sofa fallen, spürte den Tag und die Wochen, die ihm vorausgegangen waren, in meinen Knochen. Die Wohnung war still, und diese Stille hatte etwas Erholendes, aber auch Bedrohliches. Ich versuchte mich zu beruhigen, nahm mir vor, das neue Jahr besser zu nutzen. Lisa und ich hatten uns zu lange treiben lassen, das war mir klar. Wir hatten uns seit Monaten nicht mehr auf ein echtes Date begeben, nichts unternommen, das uns hätte beleben können. Essen gehen, ins Kino, eine Ausstellung – irgendetwas, das uns daran erinnerte, warum wir zusammen waren. Doch in dieser Nacht blieb es bei Vorsätzen, die mich nicht wirklich überzeugten. Der Gedanke an die Anschläge, an die zerstörten Leben und die Angst, die sich wie Nebel über das Land gelegt hatte, blieb in meinem Kopf haften, und beschäftigtem mich bis ich schließlich einschlief. Die Tage zwischen Weihnachten und Silvester verliefen in einer vertrauten Monotonie. Ich verbrachte die meiste Zeit allein in meinem Apartment, der Welt und ihren Anforderungen bewusst ausweichend. Der Laptop auf meinem Schreibtisch wurde zu meinem einzigen Gefährten. Ich tippte Zeile um Zeile an meinem Buch, das sich um den österreichischen Bürgerkrieg der 1930er Jahre drehte. Der Diktator Engelbert Dollfuß stand im Mittelpunkt meiner Betrachtungen – ein Mann, dessen Kurzsichtigkeit und Ambitionen ebenso zur Tragödie beitrugen wie die unausweichlichen Strömungen der Zeit. Während ich schrieb, drifteten meine Gedanken immer wieder ab. Die Parallelen zwischen der Ersten Republik und dem heutigen Zustand der Zweiten waren bedrückend. Damals waren die wirtschaftlichen und sozialen Spannungen wie eine tickende Zeitbombe, die schließlich explodierte. Heute schien die Gesellschaft ebenso gespalten, die Institutionen schwach, die Eliten unfähig, die Abwärtsspirale aufzuhalten. Es war ein düsterer Gedanke, der mich nicht losließ: Was würde heute nach dem Zusammenbruch der Republik kommen? Ich war gerade dabei, eine Passage über die autokratischen Reformen Dollfuß’ zu überarbeiten, als mein Handy aufleuchtete. Eine WhatsApp-Nachricht von Christian: "Wolfi, Alter, ernsthaft, du kannst nicht Silvester alleine verbringen! Das ist ober traurig! Feier in der Falkstraße. Gute Leute, gutes Essen. Sei da, ich hol dich ab, wenn’s sein muss." Ein bitteres Lächeln huschte über mein Gesicht, als ich daran dachte: Er schrieb immer noch wie ein Zwanzigjähriger. Ich legte das Handy beiseite, ohne zu antworten. Ein Teil von mir wollte absagen, wollte beim Jahreswechsel einfach in meinem stillen Apartment bleiben, doch ein anderer Teil – vielleicht der, der noch so etwas wie Neugier auf das Leben hatte – war versucht, zuzusagen. Die folgenden Tage blieben unverändert. Ich ignorierte weitere Einladungen von Freunden und konzentrierte mich auf mein Buch. Das Schreiben war eine Art Flucht, aber auch ein Versuch, Ordnung in das Chaos meiner Gedanken zu bringen. Am Nachmittag des 31. Dezember blinkte mein Handy erneut auf. "Komm schon, Wolfi," schrieb Christian. "Es wird dir guttun. Ich weiß, du hasst offenbar gerade Menschen, LOL, aber diese Leute sind okay. Sind auch nicht alle aus der Bewegung, wenn es das ist, was dich abstößt.“ Ich lachte leise und schüttelte den Kopf. "Fein," tippte ich zurück. "Aber du holst mich wirklich ab." Es war später Abend, als wir vor dem Haus in der Falkstraße ankamen. Die Straße wirkte wie ein Relikt aus einer anderen Zeit, ein Überbleibsel des großbürgerlichen Lebens, das Innsbruck einst gekannt haben mochte. Hier standen die besseren Häuser, alte Villen und Stadthäuser mit Fassaden, die Geschichten von Wohlstand und Dekadenz erzählten. Ich folgte Christian schweigend, während er mit einem jugendlichen Elan die wenigen Stufen zur Eingangstür des Hauses erklomm. Er sprach etwas über die Gastgeber, ein junges Paar, der Mann sei ein Sympathisant der Bewegung, und das Haus habe er von seinem Großvater geerbt. „Es ist ein wunderschönes Haus“, sagte Christian und hielt inne, als wollte er mir Zeit geben, den Anblick aufzusaugen. Er hatte recht. Das Gebäude strahlte einen schlichten, aber beeindruckenden Luxus aus. Eine Fassade aus weißem Putz, durchzogen von den Spuren der Zeit, eine massive Eichentür mit Messingbeschlägen, die an den Glanz vergangener Epochen erinnerten. Doch ich konnte mich nicht wirklich an der Architektur erfreuen. Vielmehr fühlte ich die wachsende Beklommenheit, die mich immer überkam, wenn ich mich in Kreisen bewegte, in denen ich fremd war – und wo ich nur halb wollte. Christian klingelte, und wenige Sekunden später öffnete uns ein Mann, vielleicht Ende zwanzig, mit dichtem, welligem Haar und einem Bart, der genauso gut gepflegt wie lässig wirkte. Er trug ein dunkles Hemd, das offen genug war, um ein Medaillon an einer Silberkette zu zeigen – wahrscheinlich ein Erbstück, vielleicht ein Statement. „Christian, gut, dass ihr da seid! Und du musst Wolfgang sein, Christian hat von dir erzählt. Komm rein, wir freuen uns!“ Seine Stimme war freundlich, sein Auftreten angenehm, aber ich konnte den Hauch von Überlegenheit nicht überhören, den Menschen mit dieser Art von Besitz oft unbewusst an den Tag legen. Drinnen empfing uns der Duft von Kerzen und Holzpolitur. Der Eingangsbereich war großzügig, mit hohen Decken und einer beeindruckenden Wendeltreppe aus dunklem Holz, die nach oben führte. Eine antike Kommode stand an der Wand, darauf eine Vase mit frischen Amaryllis. Der Boden war ein makelloses Parkett, das bei jedem Schritt leise knarzte. „Das Haus ist ein Traum“, sagte ich beiläufig, mehr aus Höflichkeit als aus echter Bewunderung. „Danke“, antwortete unser Gastgeber lächelnd. „Es ist ein Erbstück, aber wir haben viel Arbeit reingesteckt. Meine Freundin hat ein Händchen für Einrichtung. Siehst du die Tapeten? Originale aus den Dreißigern.“ Ich konnte mir ein leises Auflachen nicht verkneifen. Es war kein spöttisches Lachen, eher ein Reflex – vielleicht ausgelöst von der Absurdität, wie viel Gewicht hier auf die Herkunft einer Tapete gelegt wurde, während draußen in der Welt die Fundamente bröckelten und ich ein Buch über eben jene Zeit der 1930er verfasste. Der Klang meines Lachens schnitt für einen Moment durch die höfliche Konversation, und sowohl der Gastgeber als auch Christian schauten mich irritiert an. „Entschuldigung“, sagte ich schnell und hob abwehrend die Hände. „Ich musste nur an etwas denken.“ Der Gastgeber lächelte gezwungen, offensichtlich unsicher, ob er nachfragen sollte. Christian, der mich gut genug kannte, um die Situation zu retten, schob ein: „Wolfi hat diesen trockenen Humor, der braucht manchmal einen Moment.“ Die Spannung verflog, aber ich spürte die unausgesprochene Distanz in der Luft, die solche Momente oft hinterlassen. Es war einer dieser Augenblicke, in denen man sich bewusst wurde, wie fremd man in einer Umgebung war, wo selbst die unscheinbarsten Dinge – Tapeten, Dekoration, ein Erbstück – mit einer Bedeutung aufgeladen wurden, die man selbst nicht teilte. Der Abend begann harmlos genug. Die Gäste waren eine Mischung aus jungen Akademikern, Künstlern und politischen Idealisten. Die Gespräche kreisten um die üblichen Themen: Literatur, Architektur und natürlich Politik – dessen Hauptthema der Anschlag in Wien war. Die meisten waren deutlich jünger als ich, und ich fühlte mich mehr wie ein Beobachter als ein Teilnehmer. Ich lehnte an einem Bücherregal, ein Glas Rotwein in der Hand, und beobachtete die Szene. Christian unterhielt sich angeregt mit der Freundin des Gastgebers, eine schlanke Frau mit hohen Wangenknochen und einem melancholischen Lächeln, die wie eine Figur aus einem skandinavischen Kunstfilm wirkte. „Und Sie, Herr Trittstein?“ sprach mich plötzlich eine weibliche Stimme an, klar und melodisch, aber mit einem Hauch von Ironie. Ich wandte mich um und blickte direkt in ein Paar grüne Augen, die mich neugierig musterten. Sie gehörten zu einer jungen Frau, deren Erscheinung mich für einen Moment aus dem Gleichgewicht brachte. Das tiefrote Haar, das in sanften Wellen über ihre Schultern fiel, hatte einen warmen, fast glühenden Ton, der durch das Licht der antiken Lampen verstärkt wurde. Ihr Gesicht war eine Studie in klassischer Eleganz und einem fein geschwungenen Mund, der in einem kaum merklichen Lächeln verharrte. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid, das ihre schmale, grazile Figur betonte, und hielt ein Glas Sekt locker in der rechten Hand. „Sind Sie auch ein Unterstützer der Bewegung?“ fragte sie, wobei ein leichtes Spiel in ihren Worten mitschwang, als würde sie absichtlich die Schwere der Frage unterlaufen. Ich musste mich zwingen, nicht zusammenzuzucken. „Woher kennen Sie meinen Namen?“ entgegnete ich, nicht unhöflich, aber mit spürbarer Skepsis. „Das spielt keine Rolle,“ sagte sie mit einem kleinen Schulterzucken, das ihre elegante Haltung nicht unterbrach. „Vielleicht habe ich meine Quellen.“ Ich verzog leicht das Gesicht, fühlte mich zunehmend unwohl. Plötzlich überkam mich die beunruhigende Möglichkeit: War sie eine meiner Studentinnen? Die Vorstellung, dass jemand hier in diesem Kontext mich als ihren Professor identifizieren könnte, ließ mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen. „Sie sind keine Studentin von mir, oder?“ fragte ich, ein wenig direkter, als ich eigentlich wollte. Ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, das ihre Züge auf charmante Weise auflockerte. „Oh, keine Sorge. Ich bin keine Ihrer Studentinnen. Jedenfalls nicht an Ihrer Universität.“ „Und woher dann?“ Sie trank einen Schluck von ihrem Sekt und sah mich über den Glasrand hinweg an. „Fernsehen,“ sagte sie schließlich, als ob das alles erklärte. „Fernsehen?“ wiederholte ich, jetzt gänzlich irritiert. „Natürlich. Da war doch ein Skandälchen?“ Ihr Ton war leicht und spielerisch, aber in ihren Augen blitzte etwas Scharfes auf. Ich konnte nicht verhindern, dass sich unwillkürlich ein unangenehmes Gefühl in mir ausbreitete. „Ach, der Skandal. Sie meinen auch die... äh, Plakate.“ „Exakt.“ Sie neigte leicht den Kopf zur Seite, als würde sie mich studieren. „Ich habe Sie erkannt und wollte herausfinden, ob ein potenzieller Nazi die Erhebungsbewegung unterstützt.“ Ich spürte, wie meine Anspannung von einem Anflug von Amüsement abgelöst wurde. „Ein potenzieller Nazi, ja? Und was ist Ihr Urteil?“ Sie lächelte wieder, dieses Mal offener. „Noch unschlüssig. Sie sehen nicht aus wie einer.“ „Das ist schon mal ein Anfang,“ erwiderte ich trocken, und wir beide lachten, ein angenehmes, fast befreiendes Geräusch inmitten der stillen Anspannung, die mich seit meiner Ankunft hier begleitet hatte. „Aber im Ernst,“ fuhr sie fort, „ich habe von dem Skandal gehört und würde gerne wissen, was es damit auf sich hat.“ Ich seufzte leise, musterte die rötliche Flüssigkeit in meinem Glas und dann wieder ihre grünen Augen, die mich unnachgiebig fixierten. Ihre Beharrlichkeit irritierte mich ein wenig, aber es lag auch etwas Spielerisches darin, das es schwer machte, wirklich wütend zu werden. „Ach, der Skandal,“ begann ich und versuchte, meine Stimme gleichgültig klingen zu lassen. „Es fing an mit einer dieser unsäglichen neuen bürokratischen Schikanen, die sich unsere Universität ständig ausdenkt. Irgendeine Regelung, die nichts mit dem eigentlichen Lehren oder Forschen zu tun hat. Ich hatte, wie üblich, nichts damit zu tun, aber natürlich musste ich den Studenten erklären, warum es ihre Abgaben, Anträge oder was auch immer erschwerte. Ich weiß es nicht mehr und es interessiert mich auch nicht.“ „Und das war dann der Auslöser?“ fragte sie mit einem Anflug von Amüsement. „Ja, genau,“ bestätigte ich. „Ich wollte die Situation ein wenig auflockern, es ging, glaube ich, um die Prüfungsanmeldungen. Es war eine Vorlesung über die Nürnberger Prozesse, und ich erwähnte Görings berühmtes Zitat, dass er, wenn er das Wort Kultur höre, man ihm die Pistole bringen sollte. Übrigens ein Fehlzitat, das hat er so nie gesagt. Jedenfalls dachte ich, ich mache einen Scherz und sage: ‚Bei mir ist es anders. Man hole mir die Pistole, wenn ich wieder von einer bürokratischen Schikane gestreift werde.‘“ Sie zog überrascht die Augenbrauen hoch, bevor ein leicht spöttisches Lächeln auf ihren Lippen erschien. „Und wie kam das bei den Studenten an?“ „Nicht gut,“ gab ich trocken zu. „Einige lachten, andere sahen mich an, als hätte ich gerade ein Tabu gebrochen. Offenbar hat jemand beschlossen, das Ganze völlig aus dem Zusammenhang zu reißen. Noch am selben Nachmittag kursierte die Anekdote im Netz, begleitet von dem Vorwurf, ich würde Gewalt verherrlichen und die Nationalsozialisten verharmlosen.“ „In diesem Klima an den Universitäten,“ begann sie mit einem leicht tadelnden Ton, „war das wirklich eine kluge Bemerkung?“ Ich zuckte die Schultern, ein wenig gereizt. „Nein, das war es wohl sicher nicht. Aber die Sache wäre wahrscheinlich schnell abgeebbt, wenn nicht jemand eine alte Seminararbeit von mir ausgegraben hätte.“ „Eine Seminararbeit?“ Ihr Interesse schien aufrichtig zu sein. „Ja. Etwas, das ich vor vielen Jahren während meines eigenen Studiums geschrieben hatte. Es war eine frühe Arbeit über die Präventionskriegsthese.“ Ihre Stirn legte sich leicht in Falten. „Das hatte ich in dem Interview mitbekommen, aber was ist eigentlich diese... Präventionskriegsthese konkret?“ Ich nahm einen Schluck von meinem Glas und überlegte kurz, wie ich es erklären sollte. „Es ist die These, dass der Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941 ein Präventivkrieg war – also, dass das Dritte Reich einem geplanten Angriff Stalins zuvorgekommen sei. Eine von vielen revisionistischen Ansichten, die man heutzutage in historischen Kreisen weitgehend verworfen hat.“ „Und in Ihrer Arbeit?“ hakte sie nach. Ich nickte langsam. „Damals habe ich die These zwar nicht direkt verteidigt, aber ich habe sie... wie soll ich sagen... relativierend behandelt. Es war eine jugendliche Arroganz, ein Spiel mit Provokationen, das ich heute so sicher nicht mehr schreiben würde. Aber natürlich wurde die Arbeit herausgekramt und zur Grundlage für Anschuldigungen gemacht, ich würde Nazi-Propaganda verbreiten.“ „Und verbreiten Sie dann Nazi-Propaganda?“ fragte sie mit spielerischem Ernst, ihre Augen blitzten vor provokantem Vergnügen. Ich hob eine Augenbraue, halb belustigt, halb genervt von der Simplifizierung. „Natürlich nicht. In meiner Arbeit habe ich damals lediglich darauf hingewiesen, dass die Sowjetunion durchaus Interesse daran gehabt haben könnte, Territorien in Europa zu erobern – was historisch betrachtet auch nicht abwegig ist. Aber sicher nicht im Jahr 1941, und das würde ich heute auch so nicht mehr formulieren.“ „Aha,“ entgegnete sie und neigte den Kopf leicht zur Seite, als würde sie mich erneut abschätzen. Dann setzte sich ein spöttisches Lächeln auf ihre Lippen. „Na, da bin ich aber froh, dass Sie kein Arschloch sind.“ Überrascht lachte ich auf, ein ehrliches, tiefes Lachen, das aus der Anspannung des Abends brach. „Darüber bin ich auch froh,“ erwiderte ich trocken. Ihr Lächeln wurde weicher, weniger herausfordernd. „Sehen Sie,“ fuhr sie fort, „ich dachte schon, ich müsste den Abend mit einem revisionistischen Akademiker verbringen, der mich mit irgendwelchen Verschwörungstheorien in Grund und Boden redet. Aber vielleicht täusche ich mich ja.“ „Vielleicht,“ gab ich zurück, „oder Sie haben einfach ein Talent dafür, Menschen falsch einzuschätzen.“ „Das hoffe ich nicht,“ sagte sie leise, aber mit einem Unterton von Humor, der den Moment leichter machte. Es war, als hätten wir eine unausgesprochene Übereinkunft getroffen, das Gespräch in diesem fließenden Wechsel von Provokation und Versöhnlichkeit weiterzuführen. Sie brachte eine Dynamik in den Abend, die mich gleichermaßen reizte und beruhigte, wie ein entferntes Gewitter, dessen Blitz und Donner man sicher aus der Ferne beobachten konnte. „Und wie heißen Sie nun wirklich?“ fragte ich, als wir uns nach einer Weile an einem antiken Schreibtisch im Salon wiederfanden. Ich stützte mich auf die Kante und sah sie herausfordernd an, während sie an ihrem Sekt nippte. „Das bleibt mein Geheimnis,“ antwortete sie mit einem schelmischen Lächeln. „Ein Geheimnis? Na gut.“ Ich tat, als würde ich nachdenken. „Dann rate ich. Hm... Gertrud vielleicht?“ Sie verzog das Gesicht in gespieltem Entsetzen. „Gertrud? Ich sehe aus wie eine Gertrud?“ „Vielleicht nicht Gertrud,“ lenkte ich ein, die Mundwinkel leicht nach oben gezogen. „Wie wäre es mit Sieglinde? Oder Sigrud?“ Das war zu viel. Sie lachte laut auf, bevor sie mir mit spielerischem Protest gegen den Arm schlug. „Jetzt beleidigen Sie mich absichtlich!“ „Nie im Leben,“ erwiderte ich und hob die Hände in einer unschuldigen Geste. „Aber Sie machen es mir wirklich schwer.“ „Vielleicht, weil ich Spaß daran habe, Sie zu quälen,“ sagte sie und zwinkerte mir zu. Wir lachten beide, und allmählich wich die anfängliche Anspannung einer unverhohlenen Leichtigkeit. Es war ein Gespräch, das von Wortspielen und kleinen Provokationen lebte, ein angenehmer Gegensatz zur Steifheit der Gesellschaft um uns herum. Während des Abends schweiften meine Augen immer wieder zu Christian, der sich auffallend intensiv mit der Freundin des Gastgebers unterhielt. Ich sah, wie er seine Gesten betonte, sich leicht zu ihr neigte und ein breites Grinsen aufsetzte, das ich nur zu gut kannte. „Sie machen sich Sorgen,“ bemerkte meine Gesprächspartnerin leise, als sie meinem Blick folgte. „Ich befürchte, wir fliegen hier gleich raus,“ gestand ich und zeigte unauffällig mit einem Nicken in Christians Richtung. „Floreau?“ fragte sie und schmunzelte. „Keine Sorge. Sie hat eine offene Beziehung mit Gabriel. Das hier ist für sie vermutlich sogar... Routine.“ „Routine?“ Ich sah sie ungläubig an. „Es sieht eher so aus, als ginge es ihr damit nicht besonders gut, Gabriel fühlt sich definitiv wohler mit der offenen Beziehung“ fügte sie hinzu, ohne meinen Blick zu erwidern. „Aber sowieso, was Ihren Freund angeht, er ist definitiv nicht ihr Typ.“ „Christian ist niemandes Typ,“ sagte ich trocken und musste sofort über meine eigene Bemerkung lachen. „Aber er findet doch immer einen Weg.“ „Das wiederum klingt fast bewundernswert,“ antwortete sie mit einem schmalen Lächeln, während sie mich aufmerksam musterte. „Fast,“ gab ich zu. „Es ist eine Art Talent, das ich bis heute nicht ganz verstehe.“ Sie nickte und lehnte sich ein wenig zurück, ihre Haltung war locker, und doch schien sie jede Bewegung in der Umgebung wahrzunehmen. „Ein Talent, oder ein Überlebensinstinkt?“ |
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