Unterm Regen bei Poetry.de

Ilka-Maria · 11.10.2013, 16:06

Ich bin 62 Jahre alt und unterm Regen gegangen. Zwanzig Minuten, um meine Tageszeitungen zu kaufen, und zwanzig Minuten zurück. Und die ganzen vierzig Minuten lang lächelte ich. Weil ich mich erinnerte.

Wir waren Kinder. Das Wetter war grimmig, aber das hält Kinder nicht im Haus. Als wir von unserer Wanderung den Maindamm entlang kamen, hielt uns eine Frau an und schimpfte uns aus: „Ihr seid ja tropfnass, ihr werdet euch erkälten! Macht euch ab nach Hause!“

Es stimmte: Wir waren nass wie die Kanalratten, das Wasser tropfte uns aus den Haaren und quatschte uns aus den Schuhen; aber was die besorgte Frau nicht wusste: Von Regenwasser wird niemand krank, das hätten nur Viren und Bakterien geschafft.

Und natürlich gingen wir nicht nach Hause, sondern spielten im Regen weiter. Jede Pfütze war willkommen. Schließlich waren wir pudelgesund!

Als ich nach Hause kam, war ich nicht nur halbwegs trocken, sondern auch wie gewohnt unauffällig. Ich hatte meine Aufgaben, alles lief den gewohnten Gang, meine Eltern mussten sich keine Sorgen um mich machen.

Ich bin 62 Jahre alt und unterm Regen gegangen. Es war wie damals. Zwar ging ich diesmal allein, und niemand hat mich ausgeschimpft, aber es war dasselbe Gefühl der Freiheit, Tropfen für Tropfen.

11. Oktober 2013
by Ilka-Maria

Thing · 11.10.2013, 19:52

Hallo, Ilka-Maria -

ein klassisches Beispiel für Kurzgeschichten.
Guter Einstieg. Gute Endformulierung.
Knappe Formulierungen, dennoch inhaltsschwer.
Ausgezeichnet im Aufbau präsentiert.

Es muß nicht immer die Tragödie sein!

Gern gelesen

von
Thing

Jeronimo · 11.10.2013, 21:29

Da kann ich mich Thing voll und ganz anschließen.
Ich bin 60 Jahre alt und es hat mir gefallen.

Jeronimo

Ilka-Maria · 11.10.2013, 21:53

Freut mich, ihr Lieben.

Wer den Regen nicht fürchtet, bewahrt sich die Kindheit.

Ich habe keinen Regenschirm. Wogegen sollte ich mich schirmen? Mir hat noch nie ein Regentropfen weh getan.

Danke für's Lesen und Kommentieren.

Jeronimo · 11.10.2013, 22:17

Zitat:

Wer den Regen nicht fürchtet, bewahrt sich die Kindheit.

Klug gesprochen!

simbaladung · 12.10.2013, 18:22

Hallo, Ilka,

deine KG gefällt mir auch sehr. Wie du dich auf das Wesentliche beschränkst,
durch nichts ablenken lässt von der Frage, warum lächelt diese Frau? Und es geht wirklich nur um dieses Gefühl, frei zu sein, in diesen Minuten. Regen auf der Haut zu spüren, egal was andere denken. (Nichts sonst). Schön.

Die Formulierung "unter dem Regen gehen": ein Bonbon.

gern gelesen,
gruß, simba

11.10.2013, 16:06	#1
Ilka-Maria Forumsleitung Dabei seit: 07/2009 Ort: Arrival City Beiträge: 31.113 Meine Geschichten Meine Favoriten	Unterm Regen Ich bin 62 Jahre alt und unterm Regen gegangen. Zwanzig Minuten, um meine Tageszeitungen zu kaufen, und zwanzig Minuten zurück. Und die ganzen vierzig Minuten lang lächelte ich. Weil ich mich erinnerte. Wir waren Kinder. Das Wetter war grimmig, aber das hält Kinder nicht im Haus. Als wir von unserer Wanderung den Maindamm entlang kamen, hielt uns eine Frau an und schimpfte uns aus: „Ihr seid ja tropfnass, ihr werdet euch erkälten! Macht euch ab nach Hause!“ Es stimmte: Wir waren nass wie die Kanalratten, das Wasser tropfte uns aus den Haaren und quatschte uns aus den Schuhen; aber was die besorgte Frau nicht wusste: Von Regenwasser wird niemand krank, das hätten nur Viren und Bakterien geschafft. Und natürlich gingen wir nicht nach Hause, sondern spielten im Regen weiter. Jede Pfütze war willkommen. Schließlich waren wir pudelgesund! Als ich nach Hause kam, war ich nicht nur halbwegs trocken, sondern auch wie gewohnt unauffällig. Ich hatte meine Aufgaben, alles lief den gewohnten Gang, meine Eltern mussten sich keine Sorgen um mich machen. Ich bin 62 Jahre alt und unterm Regen gegangen. Es war wie damals. Zwar ging ich diesmal allein, und niemand hat mich ausgeschimpft, aber es war dasselbe Gefühl der Freiheit, Tropfen für Tropfen. 11. Oktober 2013 by Ilka-Maria

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11.10.2013, 19:52	#2
Thing R.I.P. Dabei seit: 05/2010 Beiträge: 34.998 Meine Geschichten Meine Favoriten	Hallo, Ilka-Maria - ein klassisches Beispiel für Kurzgeschichten. Guter Einstieg. Gute Endformulierung. Knappe Formulierungen, dennoch inhaltsschwer. Ausgezeichnet im Aufbau präsentiert. Es muß nicht immer die Tragödie sein! Gern gelesen von Thing

11.10.2013, 21:29	#3
Jeronimo gesperrt Dabei seit: 10/2011 Alter: 70 Beiträge: 4.237 Meine Geschichten Meine Favoriten	Da kann ich mich Thing voll und ganz anschließen. Ich bin 60 Jahre alt und es hat mir gefallen. Jeronimo

11.10.2013, 21:53	#4
Ilka-Maria Forumsleitung Dabei seit: 07/2009 Ort: Arrival City Beiträge: 31.113 Meine Geschichten Meine Favoriten	Freut mich, ihr Lieben. Wer den Regen nicht fürchtet, bewahrt sich die Kindheit. Ich habe keinen Regenschirm. Wogegen sollte ich mich schirmen? Mir hat noch nie ein Regentropfen weh getan. Danke für's Lesen und Kommentieren.

12.10.2013, 18:22	#6
simbaladung Dabei seit: 07/2012 Alter: 67 Beiträge: 3.073 Meine Geschichten Meine Favoriten	Hallo, Ilka, deine KG gefällt mir auch sehr. Wie du dich auf das Wesentliche beschränkst, durch nichts ablenken lässt von der Frage, warum lächelt diese Frau? Und es geht wirklich nur um dieses Gefühl, frei zu sein, in diesen Minuten. Regen auf der Haut zu spüren, egal was andere denken. (Nichts sonst). Schön. Die Formulierung "unter dem Regen gehen": ein Bonbon. gern gelesen, gruß, simba