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01.10.2024, 17:07 | #1 |
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Sallys Geheimnis
Nora fuhr aus ihren Traum. Gerade noch war sie durch die hohen Gräser eines Gartens gestreift, in dem Blumen mit riesigen Köpfen in allen Farben blühten und dessen Bäume üppige Laubkronen trugen. Ein orangeroter Schmetterling von gewaltiger Größe war vor ihren Augen aufgetaucht, aber statt sich auf ihre ausgestreckte Hand zu setzen, schwirrte er wild hin und her und schoss dann unvermittelt hoch in die Luft. Sie wanderte weiter, als plötzlich ein Löwe mit zottiger Mähne wie aus dem Nichts erschien, auf sie zutrabte und ein Brüllen ausstieß, das ihr durch Mark und Bein ging. Doch statt vor dem mächtigen Raubtier zu fliehen, blieb sie vertrauensvoll stehen. Sie war im Garten Eden, was konnte ihr hier schon Schlimmes geschehen?
Dann der scharfe Schnitt. Sie stützte sich auf einen Ellbogen und lauschte in die Dunkelheit. Was hatte sie Mitten in der Nacht geweckt? Der Löwe konnte es nicht gewesen sein, ein Tier des Paradieses und zu harmlos, um sie vor Angst in der Realität erwachen zu lassen. Aber alles im Haus war still wie in einer Kirche. Sie atmete aus und ließ sich auf ihr Kopfkissen zurücksinken. Es musste wohl doch das Brüllen des Löwen gewesen sein, das ihre Nerven überstrapaziert hatte. Sie schloss die Augen in der Hoffnung, wieder einschlafen zu können, – und fuhr im nächsten Moment abermals hoch. Sally schrie. Sie schrie, als ginge es um ihr Leben. Wie damals, nachdem Andreas sie überraschend mitgebracht hatte und sie Abend für Abend einen erbarmungswürdigen Terz anstimmte, sobald man sie für die Nacht aus dem ehelichen Schlafzimmer aussperrte. Und dabei trotz ihrer erst vier Lebensmonate eine bewundernswerte Kraft und Ausdauer bewies. Nora und Andreas mussten klein beigeben, wenn sie an Schlaf denken wollten, und seitdem schnurrte Sally eingerollt auf der Bettdecke an der Stelle, wo sie Noras Bauch spürte. "Das war nicht abgesprochen", warf Nora Andreas vor. "Du weißt, dass ich gegen Haustiere bin." "Eben drum." "Schaff sie uns vom Hals! Ich will meine Ruhe haben. Und ich will mich in meinem Bett umdrehen können, ohne Angst haben zu müssen, versehentlich ein Kilo Lebendfleisch zu erdrücken." "Aber Sally liebt dich. Sie schläft an deinem Brauch, nie an meinem." "Ist mir egal. Ich hasse das Biest. Schaff sie weg!" "Nein! Sie ist niedlich, allerliebst und wunderschön. Ich gebe sie nicht wieder her." Nora stemmte die Hände in die Hüften. "So? Wirklich? Ich bin auch niedlich, allerliebst und wunderschön. Aber mich wirst du hergeben müssen, wenn Sally bleibt." "Ihr bleibt beide." "Das werden wir ja sehen", zischte Nora, stapfte in ihr Lesezimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Andreas blieb stur, und Nora fand sich allmählich damit ab, von Sally als Bezugsperson auserwählt worden zu sein. Nora genoss diesen kleinen Triumph, dass die Katze sie mehr liebte als Andreas, der sichtlich eifersüchtig darauf war, dass sich das Band zwischen seiner Frau und seinem Schützling immer mehr festigte. "Weiber!", murrte er zuweilen verächtlich und kräuselte dabei seine Nase. Es dauerte nicht lange, bis Nora es nichts mehr ausmachte, Sallys Kleckereien wegzuputzen, bis die Katze gelernt hatte, ihren Toilettenkasten zu benutzen. Sally wurde reichlich für ihre Arbeit entlohnt, denn dieses flauschige Bündel war von freundlichem Charakter, verschmust und verspielt. Wenn Nora von der Arbeit oder von einem Einkauf nach Hause kam und Sally einen Hüpfer an ihrem Bein machte, wobei sie ihrer Wade Köpfchen gab, ein Beweis der Freude und Sympathie, empfand Nora einen Schwall von Glück, den sie nicht in Worte in fassen konnte. Als Sally rollig wurde und wieder zu schreien begann, diesmal nach einem Kater, ließ Nora sie kastrieren. Seitdem herrschte "Ruhe im Stall", wie sie es nannte. Bis heute Nacht. Sie rüttelte Andreas wach. Er rieb sich die Augen. "Was iss'n los?" "Sally schreit wieder." "Du spinnst. Ich hör nichts." Er drehte sich wieder auf die Seite und schloss die Augen. Nora rüttelte ihn weiter. "Sie ist irgendwo im Haus. Und sie hat geschrien. Ich bin davon wach geworden." "Lass mich schlafen." "Du wirst jetzt nicht schlafen! Sie ist deine Katze, also suche sie und stell das Lamentieren ab." "Ach, auf einmal ist sie wieder meine Katze … Such sie doch selber. Und dreh ihr meinetwegen den Hals um, wenn sie wieder Terz macht." Kaum gesagt, kam aus den Tiefen des Hauses ein alarmierendes Geschrei. Andreas sprang wie von einer Feder geschnellt aus dem Bett: "Himmel, was ist das?" Er machte Licht. "Lass uns nachschauen." Sie gingen die Treppe hinunter, und je tiefer sie stiegen, umso mehr Qualm hüllte sie ein. Das Parterre stand lichterloh in Flammen. "Großer Gott, Nora, dort unten kommen wir nicht mehr raus. Wir müssen zurück ins Schlafzimmer, zum Balkon. Wir können an den Hängepflanzen runter in den Garten." Nora zögerte. "Aber Sally ist dort unten. Sie hat uns gewarnt. Jetzt müssen wir ihr helfen." Sie schickte sich an, die Treppe weiter hinunterzugehen, doch Andreas hielt sie an ihrer Schlafanzugjacke fest. "Bist du verrückt? Was glaubst du, wie weit du in dem Qualm kommst?" Er zog sie gewaltsam mit sich. Im Schlafzimmer schnappte er sein Mobilphone vom Nachttisch und dirigierte Nora auf den Balkon. An den Außenwänden des Hauses hatten sich im Laufe der Jahre die Stiele des Kletterefeus verdickt und reichlich verzweigt, so dass sie Trittfestigkeit versprachen. "Du zuerst. Ich ruf derweil die Feuerwehr an." Zwei Stunden später war das Feuer gelöscht. Um das Haus standen Nachbarn, die von dem Feuerwehreinsatz geweckt worden waren und aufgeregt miteinander diskutierten. Von dem, was einmal als architektonische Perle im Viertel gegolten hatte, war nur noch ein schwelender Trümmerhaufen übriggeblieben. Der Einsatzleiter kam zu Nora und Andreas: "Tut mir leid, dass wir nichts mehr retten konnten, das Feuer hatte sich schon zu stark aufgebaut. Aber wenigstens konnten wir verhindern, dass es auf andere Anwesen übergriff. Und das Wichtigste haben Sie ja noch: ihr Leben." "Ja", antwortete Andreas bitter, "dank eines Alarmsystems, das aus der Steinzeit stammt." Der Einsatzleiter schaute irritiert. "Tja,", klärte Andreas ihn auf. "Ich habe Alarmsysteme in das Haus einbauen lassen, gegen Feuer, Einbruch und Hochwasser. Jetzt hatten wir ein Feuer, aber das Alarmsystem hat nicht angeschlagen. Es hat versagt. Eine Katze, nicht mal zwei Jahre alt, hat Alarm geschlagen und unser Leben gerettet." Er machte eine Pause. "Und ihr eigenes für uns gegeben." Als Nora die Worte ihres Mannes hörte, brach, sie in Tränen aus. Der Einsatzleiter zuckte die Schultern. "Was soll ich noch sagen. Es tut mir leid …" "Nichts. Und danke", winkte Andreas ab. "Alles ist weg", schluchzte Nora. "Die Fotos. Die Bücher. Tante Marthas gestickte Decken. Und die Rezepte meiner Großmutter. Und …" "Ja, ja, Nora. Das stimmt. Aber wir leben. Und wir kriegen das schon wieder hin." "Und Sally. Sally kriegen wir nicht wieder hin. Sie war einmalig." Und Nora fing dermaßen zu schluchzen an, dass Andreas mit seinem Latein am Ende war. Sein Hemd klebte ihm unangenehm am Körper, teils durchnässt von Noras Tränen, teils durchtränkt von seinem Schweiß, den ihm die Hitze des Feuers aus den Poren getrieben hatte. Aber das war ihm in diesem Moment so egal wie alles sonst auf dieser Welt. Gemeinsam saßen sie auf ihrer Gartenbank und warteten auf den Fahrdienst, der sie zu ihrem Hotel bringen sollte, von dem aus sie alles versicherungstechnisch abwickeln sollten, um ihr Leben nach dem Desaster wieder auf die Reihe zu bringen. Da hüpfte plötzlich etwas Weiches an Noras Bein hoch und gab ihrer Wade Köpfchen. "Sally!" Sie nahm die Katze mit beiden Händen hoch und hielt sie über ihrem Kopf, während sie im Kreis tanzte. "Sally, Sally, Sally, du Lebenskünstler, du kleines Luder, du Zauberin und Lebensretterin! Wie hast du dich in Sicherheit gebracht? Wo hast du gesteckt?" Das blieb Sallys Geheimnis. |