Diskussion am Tisch
Der Eine: Schultern nach vorn gezogen. Die Verlängerung der Schulterspitzen schneidet sich irgendwo über der Tischmitte. Er „spitzt auf“ das, was gesagt wird. Alles drängt „zum Punkt“, den hoffentlich auch der Sprechende treffen wird. Wenn er diesen verfehlt, wird unser „Spitzer“ aber einhaken, präzisieren und Argument für Argument mit steifen Fingern auf den Tisch klopfen. Er ist: der Epikritische. Mag sein, dass er zum Spitzen durch die Sache genötigt wird, nicht unwahrscheinlich aber ist, dass er auch eine lockere Plauderei „zuspitzen“ kann.
Der Andere: Er rekelt sich, dehnt sich über seinen Sitz hinaus und streckt dabei die Beine unter dem Tisch weit von sich. Es macht ihm nichts aus, dass er sein Gegenüber anstößt, gutmütig, mit tiefer Stimme entschuldigt er sich. Er hat Platz, weil er ihn sich nimmt und er nimmt sich ihn, weil er es kann, nicht weil er anderen etwas wegnehmen will. Er macht die Witze in der Runde, rettet brenzlige Situationen, die der Epikritische heraufbeschwört, schwächt ab, glättet und findet Floskeln zur Abwendung dessen, was der Eine eigentlich „bis ins tz“ ausdiskutieren wollte. Er bezieht andere durch Schulterklopfen mit ein, niemand soll hervorgehoben, niemand weggedrückt werden; die Runde soll in sich stimmig sein. Breites Grinsen unterstützt sein Integrationsbemühen. Er ist: der Protopathische. Er macht, dass der Punkt, zu dem jemand kommen sollte, sich entfernt ohne irgendein Verlustspüren der Teilnehmer, lediglich dem Epikritischen wird es nun zu flach, zu weitschweifig und ungegliedert. Der Protopathische lässt jede Runde zum „Chillen“ werden (früher: Abhängen, noch früher: lockere Plauderei).
Beider Agieren hat atmosphärische Fähigkeiten: Der Epikritische verschärft, ja, er kann regelrecht vergiftend wirken. Der Protopathische neigt zum Zukleistern und kann eine nicht sehr stabile, also rollenklare Runde endgültig zum Erliegen bringen.
epikritisch: die Orte findende, schärfende, spitze Punkte und Umrisse setzende Tendenz des Leibes
protopathisch: Tendenz zum Dumpfen, Diffusen, Ausstrahlenden, worin die Umrisse verschwinden; die Orte auflösende Tendenz des Leibes
Schmitz, Hermann: Der Leib, de Gruyter, Berlin/Boston, 2011. S. 23 f.
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