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01.09.2024, 14:13 | #1 |
Die Tür der Erinnerungen
„Hallo.“ Das erste Wort, das ich vernahm, und wieder „Hallo“, erklang es in einer tiefen, angenehmen Stimme. So langsam schien es mir zu dämmern. Meine Augen waren verschlossen, daran lag es. Doch als sich meine Wimpern auseinander rührten, erhoffte ich, ein vertrautes Gesicht zu erkennen, auch wenn ich keines kannte. Doch ich konnte vorerst nichts erkennen; meine Augen mussten sich erst an das Nichts, das mich umgab, gewöhnen. Da sprach die Stimme wieder: „Hallo.“ Sie wurde allmählich schwungvoller, verbarg jedoch nicht ihre Tiefe. „Wach auf“, sprach sie zu mir.
Aufwachen? So etwas tut man. Bin ich nicht wach? Was bin ich dann? Schlafen tue ich auch nicht. „Ich habe extra eine weiße Seite für dich belassen, für den Fall, dass du zurückkommst.“ Zurückkommen? Wohin bitteschön? Alles Fragen, die mich löcherten. Ich wusste nichts, doch wusste ich alles. Ich war weit weg und doch ganz nah. So allmählich konnten sich meine Augen an etwas gewöhnen. Ich sah nur Umrisse von einem Mann, der einen Hut trug. „Verrückt, dass man ohne Augen sehen kann“, fuhr er fort. Ohne Augen sehen? Was für ein Humbug, dachte ich mir, doch dann ging er näher auf mich zu und streckte mir die Hand entgegen. Ich war im Begriff, sie zu ergreifen, doch als ich sie packen wollte, griff ich durch den scheinbaren Arm des Mannes mit dem Hut hindurch. „Verrückt, nicht wahr?“ Ich begann zu nicken. Dann fragte er mich: „Denkst du, dass wenn du deine Erinnerungen tauschst, du auch deine Persönlichkeit wechselst?“ Erinnerungen... jetzt fiel es mir wieder ein. Jeder Mensch denkt, wenn auch anders – einige in Bildern, andere nur mit Worten. Die Momente, die uns prägen, halten wir in Erinnerungen fest, um daraus uns selbst zu formen. „Ich weiß es nicht“, sprach ich zu ihm. „Ich auch nicht“, sprach er zu mir. „Weißt du, wer ich bin?“, fragte der Mann. Ich überlegte ein wenig, doch ich hatte keine Erinnerungen in meinem Kopf, keine Stimme, keine Bilder – nur Leere, wie ein Kahn, der auf das weite Nebelmeer von leeren Gedanken zieht. Wer war ich dann ohne Erinnerungen? Kann es meine Persönlichkeit doch nicht einmal geben? „Nein“, fuhr ich fort. „Also gut“, sprach er wieder, und dann fuhr er fort: „Steh bitte auf.“ Ohne dass ich mich bewegte, stand ich plötzlich neben ihm, obwohl ich mich selbst nicht bewegt hatte. „Was war das?“ „Keine Fragen“, sagte er, „nur Antworten.“ „Weißt du, wo du bist?“ „Nein.“ „Weißt du, wer du bist?“ „Nein.“ „Hast du Angst vor mir?“ „Nein.“ „Vertraust du mir?“ „Ja.“ „Also gut, belassen wir es bei dieser Fragerei.“ Ich wollte Fragen stellen, doch ich konnte nicht denken. „Ich muss dir wohl noch zeigen, was du bist, wer du bist und wie du bist. Du bist nicht Herr Soundso oder Mr. Irgendwer, sondern ein Unikat wie jedes deinergleichen.“ Dann erschien hinter ihm plötzlich eine Tür. „Dahinter wirst du die Antworten auf deine Fragen finden, doch bevor du diese Tür öffnest, lass mich dir noch einen Rat geben: Verliere dich nicht in dem, was es nicht gibt.“ Darauf verschwand der Mann mit Hut. Ich machte kleine Schritte zur Tür und zögerte am Knauf, doch dann drehte ich ihn und trat auf knarrendem Boden ein. Als ich über die Schwelle war, schloss sich die Tür, und daraufhin sagte sie: „Komisch, zu wissen, dass dir jemand fehlt, ohne diesen zu kennen.“ Dann verschwand die Tür. Komisch, seit wann können Türen denn bitte reden? Ich konnte einen Gang vor mir ausmachen, einen Gang mit Türen. Die eine Tür war dicker als die andere, die eine aus Walnuss, die andere aus Eiche, wieder eine aus Kiefer, eine älter oder jünger als die andere. Ich verlor mich. Ich öffnete einfach eine und trat ein. Dann saß ich auf dem Beifahrersitz, neben mir jemand, den ich zu kennen schien. „Wenn es holprig wird, steigt man nicht aus, sondern schnallt sich an“, sprach er zu mir. Ohne dass ich etwas tat, schnallte sich der Körper, aus dessen Perspektive ich beobachte, an. Doch diese Tür verließ ich sofort wieder. Ich kehrte aus dem Körper und stand vor der verschlossenen Tür. Ich trat in die nächste Tür. Mein Körper begann zu weinen. Die gleiche Person saß wieder gegenüber von mir, mit einer Flasche Wodka in der Hand, und sprach zu mir: „Sie tut so, als wäre ich nur Luft, als wenn es mich gar nicht geben würde.“ Ich verließ die Tür. In der nächsten Tür sprach eine Frau zu mir: „Ich bin eine schlechte Mutter.“ Vermutlich war sie alkoholisiert. Ich versuchte, sie zu trösten, doch reden konnte ich nicht. Ich verließ die Tür. Dann begann ich, durch den Gang zu rennen. Wie auch immer, ich stellte inzwischen keine Fragen mehr. Dann blieb ich stehen. Vor mir befand sich eine Tür mit der Aufschrift: „Ich.“ Dies war die erste Tür mit einer Aufschrift. Ich betrat sie, und dann stand ich auch schon wieder vor der Tür, ohne dass ich einen neuen Raum gesehen hätte, doch plötzlich wusste ich etwas über Lyrik und über Schattenstädte. Dann wollte ich nur noch sterben. „Du scheinst es zu begreifen“, sprach der Mann mit Hut, der plötzlich hinter mir stand. „Was begreifen?“ „Dein Dasein.“ Dann Stille. „Komm mit“, sprach der Mann, und plötzlich stand ich am Ende des Ganges vor der letzten Tür. „Hallo“, sprach die Tür. „Hallo“, erwiderte der Mann ihr. Dann öffnete sie sich. „Das war es dann wohl“, sprach der Mann, als wäre etwas passiert. Ich sah den Mann ein zweites Mal, dieses Mal von weiter weg. Er stand immer noch neben mir und sprach zu einer Schaufensterpuppe, die am Boden lag. Dann richtete er sie auf und irgendwie legte er sie in irgendwelche Türen hinein, dann zog er sie wieder heraus. „Du bist eine Schaufensterpuppe“, sprach der Mann zu mir. „Ich?“ „Seit wann können Schaufensterpuppen denn reden?“ „Seit wann können Türen reden?“ „Du bist eine Schaufensterpuppe, die träumt, ganz einfach. Und morgen siehst du wieder neue Gesichter. Jeden Morgen stehst du wieder auf, ohne Bezahlung, und willst dir trotzdem die Freiheit erkaufen.“ |
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01.09.2024, 16:36 | #2 |
Als ich deine Geschichte las, klingelte es heftig in meinem Neuronen Rund.
zum einen dachte ich an Franz Kafkas Parabel Vor dem Gesetz (...) "Was willst du denn jetzt noch wissen?" fragt der Torhüter, "du bist unersättlich." "Alle streben doch nach dem Gesetz", sagt der Mann, "Wieso kommt es, dass in den vielen Jahren keiner außer mir um Einlass gebeten hat?" Der Torhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: "Hier konnte niemand sonst mehr Einttrit erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn." _____________________________ und zum anderen, kam mir eine uralte Geschichte in Erinnerung, deren erste Fassung ich schrieb, als ich noch zur Schule ging. Ich hatte die Geschichte vergessen, auch danke dafür, dass ich mich erinnern konnte. Das Motiv, sich selbst als Puppe zu fühlen, ist mir sehr vertrauit LG Flocke |
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03.09.2024, 13:14 | #3 |
Antwort an Flocke
Lieber Flocke,
danke für deine Rückmeldung. Dass meine Geschichte dich an Kafkas „Vor dem Gesetz“ erinnert, ehrt mich sehr – Kafka fasziniert mich ebenso, vor allem seine Fähigkeit, das Verborgene in uns zu ergründen. Das Motiv der Puppe, das dich an deine eigene Schulzeit erinnert, ist auch mir vertraut und bewusst gewählt. Es ist schön zu wissen, dass der Text bei dir etwas Altes und Verborgenes wieder ans Licht bringen konnte. Danke für diese Verbindung. Herzliche Grüße dyfso |
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