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14.11.2022, 23:55 | #1 |
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Die alte Fee - Ein Märchen
Es war einmal ein Förster, der hatte einen großen Wald bewirtschaftet und verwaltet, tagaus, tagein, bis er darüber alt und grau geworden war. Von seiner verstorbenen Frau waren ihm zwei Söhne, Adam und David, geblieben. Als er sich zur Ruhe zu setzen gedachte, rief er Adam, seinen Erstgeborenen, zu sich.
"Es ist an der Zeit, dass wir uns aussprechen", begann er seine Rede. "Du bist mein älterer Sohn und warst meine große Hoffnung. Klug, ehrlich und bescheiden bist du immer gewesen, was mir hätte Freude machen können, wenn nicht eine andere, beklagenswerte Seite an dir wäre." "Womit habe ich dich betrübt, Vater?", fragte Adam und schlug die Augen nieder, als habe er eine unverzeihliche Schuld auf sich geladen. "Ich habe während meines Lebens mein Herz viermal verloren: Zuerst an den Wald, den ich mir für meine Lehre ausgewählt hatte. Dann an Grete, deine selige Mutter, und danach an dich und David. Mein innigster Wunsch war immer gewesen, dass du als der Ältere von euch beiden in meine Fußstapfen trätest und meine Arbeit fortführtest. Aber der Wald und alles, was darin wächst, gedeiht und lebt, hat dich nie interessiert. Statt dessen sitzt du über deinen Büchern oder schreibst Geschichten und Verse. Du bist ein Phantast und Taugenichts." "Ich kann nichts dafür", erwiderte Adam. "So bin ich geboren. Was soll ich tun?" "Geh hinaus in die Welt und finde deinen Platz. Du wirst Geld mit dir führen, von dem du dich zwei bis drei Monate nähren kannst, je nachdem, wie weise du damit handelst. Danach bist du auf dich gestellt." Adam spürte die Hand seines Vaters auf der Schulter. "Ich hoffe, du verstehst meinen Entschluss. David wird mein Amt übernehmen und sich um den Wald kümmern. Für dich kann ich nichts mehr tun. Und jetzt geh und schick mir deinen Bruder." Nachdem Adam gepackt hatte, was er in seinem Rucksack tragen konnte, umarmten sich die Brüder. "Du wirst mir doch schreiben?", fragte David mit feuchten Augen, und Adam nickte. "Sobald ich eine Bleibe gefunden habe. Und du pass auf meine Bücher auf." Doch Adam fand keine Bleibe. Niemand wollte ihm, einem mittellosen, freischaffenden Poeten, auch nur eine Dachkammer vermieten. Die Nächte verbrachte er auf den Friedhöfen der Kleinstädte, die den Wald seines Vaters umschlossenen. Hinter den abgesperrten Eingangstoren fühlte er sich sicher. An einem frühen Morgen entdeckte ihn eine alte Frau, als er trotz der wärmenden Sonne noch immer auf der Ruhebank lag und schlief. Sie rüttelte an seiner Schulter, um zu prüfen, ob er die Nacht lebend überstanden hatte oder an Unterkühlung gestorben war. Er schreckte hoch und sah in ein faltenreiches, gütiges Gesicht, umrahmt von langem, weißem Haar. Die Augen der Alten war klar wie ein blankblauer, frischgewaschener Himmel, und wo bei Menschen Lichtpunkte leuchteten, funkelten kleine Sterne. "Wieso schläfst du auf einer Friedhofsbank?", fragte die alte Fee, und Adam erzählte seine Geschichte, dass er ein Ausgestoßener sei, ein aus dem Nest gefallener Vogel, der nichts anderes könne, als Geschichten und Verse zu schreiben. Er zeigte ihr einige davon, und nachdem sie darin gelesen hatte, nahm sie ihn bei der Hand. "Komm mit!" Sie führte ihn zu einem Grundstück. Darauf stand ein schlichtes, jedoch bewohnbares Haus. Dahinter gab es einen halbverfallenen Bau, eine Notunterkunft mit flachem Dach und der notwendigsten Versorgung: fließend Wasser in der Küche, Klosettspülung. "Kostet dich keine Münze", sage die Fee, "aber ich will die Erste sein, die deine Geschichten und Gedichte zu lesen bekommt. Das ist dein Mietzins." Adam richtete sich in der Bruchbude ein und schrieb seinem Bruder den ersten Brief. "Angekommen. Mach dir keine Sorgen. Demnächst mehr." Und dann schrieb Adam. Er schrieb und schrieb. Die alte Fee las alle seine Werke. Und Adam schrieb weiter, immer eifriger, weil er sah, wie sie beim Lesen seiner Poesie immer jünger wurde, und weil er fühlte, dass er sie liebgewann. Und eines Tages, als er unter seine letzte Geschichte den letzten Punkt gesetzt hatte, als er so alt und grau geworden war wie einst sein Vater, bevor er ihn in die Welt entlassen hatte, da stand die Fee in jugendlicher Frische vor ihm, gekleidet in ein weißes Gewand, und um die Stirn trug sie einen Blütenkranz aus blutroten Rosen. "Deine Zeit ist abgelaufen, und ich werde dich auf deinem bitteren Gang begleiten. Denn du hättest noch so viel Mitteilsames in der Feder gehabt. Aber ich muss Abschied von dir nehmen. Nimm meinen Dank, dass du mich als alte Frau angenommen und mich in meine Jugend zurückgeführt hast. Du hast mein Leben gerettet, das alle Welt bereits aufgegeben hatte." "Wie ist dein Name, gütige Fee?", fragte Adam, als sie an seinem Sterbebett saß. "Du hast ihn mir nie offenbart." "Du kennst ihn", antwortete sie und küsste seine Lippen. Dann tupfte sie mit einem Tuch seine schweißnasse Stirn, die noch viele Geschichten barg, und als er verschieden war, schloss sie ihm die Augen. |
15.11.2022, 08:49 | #2 |
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Die Muse?
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