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Alt 15.05.2023, 14:24   #1
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Standard Waldemar – Eine Reminiszenz

Zu meinem sechzigsten Geburtstag erhielt ich wie jedes Jahr, seit ich Mitglied der Offenbacher Kickers bin, vom Verein ein Gratulationsscheiben. Auch dieses Mal waren die Glückwünsche handgeschrieben, wie es die Höflichkeit gebietet. Allerdings gratulierte mir der Schreiber nicht zum sechzigsten, sondern zum fünfzigsten Geburtstag.

Ich runzelte die Stirn, wunderte mich aber nicht sonderlich über den Fauxpas. Was sollte man über einen Verein denken, dessen Verantwortliche innerhalb von drei Jahren zweimal für die separat geführte GmbH Insolvenz anmelden mussten, weil sie offensichtlich nicht rechnen konnten.

Waldemar Klein wäre so ein Fehler nicht passiert. Aber er war ein Jahr vor meinem sechzigsten Geburtstag verstorben.

Meine Erinnerung reiste zurück in die Adventszeit 2005. Zu Weihnachten pflegte ich für die Kickers-Fans meiner Familie eine Anzahl Kalender für das kommende Jahr zu basteln, die ich auf den zwölf Monatsblättern mit farbigen Collagen beklebte. Jede dieser Collagen war einem bestimmten Fußballspieler der Kickers-Mannschaft gewidmet. Diese aufwendige Arbeit war notwendig, denn der Verein hatte es bis dahin nicht geschafft, einen einfachen Fan-Artikel wie einen Jahreskalender herauszubringen.

Aus Gründen, die sich mir nicht mehr offenbaren, hatte ich in jener Adventszeit einen Kalender zu viel fertiggestellt. Wohin damit? Da fiel mir unser Ehrenpräsident Waldemar Klein ein, der mir gewissenhaft jedes Jahr per handgeschriebenem Brief zum Geburtstag gratuliert hatte. Kurzentschlossen suchte ich im Telefonbuch nach seiner Adresse, setzte ich mich ins Auto und fuhr nach Mainhausen. Dort fand ich ein schlichtes Stadthaus vor, aus dessen Eingang gerade eine Frau in den Hof trat. Sie wirkte trotz fortgeschrittenen Alters mädchenhaft jung, war mittelgroß und schlank und hatte blondes, schulterlanges Haar. Über ihrem Faltenrock trug sie eine weiße Schürze, und in den Händen hielt sie einen verschnürten Stapel Zeitungen, den sie zu entsorgen gedachte.

Eine Haushaltshilfe, dachte ich, ging auf sie zu und grüßte sie. "Entschuldigung, gehören Sie zum Haushalt von Herrn Klein?" Dann hielt ich ihr meinen in Transparentpapier verpackten und mit rotem Schleifchen versehenen Kalender vor die Nase. "Ich möchte gerne etwas für ihn abgeben."

Sie nahm mein Mitbringsel aber nicht entgegen, sondern antwortete: "Dann kommen Sie mal mit." Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich sofort zu verkrümeln, aber jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als ihr ins Haus zu folgen. Bevor wir das Wohnzimmer erreichten, flötete sie: "Waldemar, ich habe dir jemanden mitgebracht."

Wie peinlich! In diesem Augenblick war mir klar geworden, dass ich keine Haushaltshilfe, sondern Waldemars Ehefrau Barbara angesprochen hatte, deren Namen ich kannte, deren Bild ich aber nie gesehen hatte. Dümmer als ich hätte man sich nicht anstellen können. Aber Barbara wirkte in keiner Weise gekränkt, sondern wie eine selbstsichere Frau, die gewohnt war, ihrem Ehemann den Vortritt zu lassen, ohne sich deswegen weniger wert zu fühlen.

Waldemar saß auf einem Stuhl vor einer Bücherwand und las in einem Buch über Fische. Wie ich wusste, war er ein leidenschaftlicher Angler und lud unsere Fußballmannschaft regelmäßig zu Angelpartien auf einem nahegelegenen See ein. Er legte das Buch weg und begrüßte mich, geleitete mich zur Couch und setzte sich in einen Sessel mir gegenüber. Während ich den riesigen, üppig geschmückten Weihnachtsbaum in der Fensterecke des Wohnzimmers bewunderte, brachte Barbara Kaffee und für jeden von uns ein kleines Stück Kuchen herbei.

Nachdem wir eine Weile über meinen Kalender, über den Tabellenstand des Vereins und die Leistungsprobleme einiger unserer Fußballspieler geplaudert hatten, holte Waldemar seinen Fotoapparat aus einer Schublade, um zur Erinnerung an meinen Besuch ein Foto zu schießen. Fotografieren war nach dem Angeln seine zweite Leidenschaft, ausgenommen natürlich unser Verein, für den er immer noch ehrenamtlich tätig war.

"Waldemar, es hat nicht geblitzt." Er prüfte seine Kamera, ob er alles richtig eingestellt hatte, und unternahm einen neuen Versuch. "Waldemar, es hat wieder nicht geblitzt," ließ Barbara abermals wissen. Du meine Güte, dachte ich, er bekommt es nicht mehr mit. Plötzlich wurde mir klar, wie alt dieser vital wirkende Mann war, der sich nie über gesundheitliche Probleme beklagt hatte. Nur aus der Zeitung wusste die Fangemeinde, dass er seit langer Zeit schwer herzkrank war. Kaum zu glauben, dass die Mannschaft ihn im Sommer 1999 zur Feier ihres Aufstiegs in die Zweite Bundesliga vollbekleidet in das kalte Wasser des Ermüdungsbeckens geworfen hatte! Aber wie vieles zuvor hatte er diese Attacke ohne Folgen überstanden.

Waldemar war beliebt, er schien nicht einen einzigen Feind in dieser Welt zu haben. Er war ein Mann des Ausgleichs und scheute sich nicht, bei Tumulten im Stadion, die zu eskalieren drohten, auf das Spielfeld zu treten und die Fans mit väterlichen Worten zur Vernunft zu mahnen. Man hörte auf ihn, denn er strömte eine natürliche Autorität aus. Er war sich auch nicht zu schade, "Klinkenputzen" zu gehen, um Geld für ein neues Fußballstadion zu sammeln, weil das alte, marode Stadion nicht mehr sanierungsfähig und mittlerweile ein Problem für die Sicherheit der Zuschauer geworden war. Auch dem Magistrat der Stadt Offenbach rannte er mit seinem Anliegen die Türen ein. Er hatte Erfolg: Noch zu seinen Lebzeiten entstand an der Stelle der alten Arena ein modernes, dennoch preiswertes Stadion, liebevoll das "Schmuckkästchen" genannt, um das manch anderer, sogar höherklassiger Verein die Offenbacher beneidet.

In diesem Stadion fand 2010 die Trauerfeier für Waldemar statt. Seine letzten Tage hatte er in einem Hospiz verbracht, sich dessen bewusst, dass "sein Besuch auf der Erde zu Ende gehe", wie er selber sagte. Die Haupttribüne war voll besetzt von Fans, die ihm die letzte Ehre erwiesen. Natürlich war ich auch dabei.

Sein letzter Wunsch war Waldemar nie erfüllt worden, auch nicht über seinen Tod hinaus: Noch immer weigert sich der Deutsche Fußballbund, ihn von dem Vorwurf der Mittäterschaft in Verbindung mit dem Fußballskandal von 1971 freizusprechen, obwohl erwiesen ist, dass er von diesen Machenschaften nichts gewusst hatte.

Waldemar wurde neunzig Jahre alt. Der Platz vor dem Stadion, ursprünglich der letzte Abschnitt der Bieberer Straße vor dem Stadtteil Bieber, wurde ihm zum Gedenken in Waldemar-Klein-Platz 1 umbenannt. Es ist die höchste Stelle des im Volksmund genannten "Bieberer Bergs".

So streiften meine Erinnerungen durch die Jahre von 2005 bis 2010, dabei immer noch Waldemars unverfälscht klingende Stimme im Ohr, wie sie leidenschaftlich an die Fans appellierte, ohne dass ihm dabei die Worte entglitten und an Würde verloren. Bilder verblassen mit der Zeit, eine Stimme nie.

Ich faltete das Gratulationsschreiben zu meinem "fünfzigsten" Sechzigsten zusammen, steckte ihn in den Umschlag zurück und stellte ihn in meinen Aktenschrank, Abteilung "Kickers Offenbach", zu Waldemars Briefen. Es war das letzte Mal gewesen, dass mir der Verein zum Geburtstag gratuliert hatte.

15.05.2023
__________________

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