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Gefühlte Momente und Emotionen Gedichte über Stimmungen und was euch innerlich bewegt.

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Alt 12.05.2023, 00:03   #1
männlich Heinz
 
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Standard Die Fesseln des Endreims

Entledigt euch des Reimes enger Fessel
und schreibt wie große Dichter ohne Zwang
mit Herzblut, nie mit Tinte eure Verse.
Wie lieblich klingt‘s, wenn Julia den Freund
um längres Bleiben bittet, seufzend spricht:
Es war die Nachtigall und nicht die Lerche,
die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang;
sie singt des Nachts auf dem Granatbaum dort.
Glaub, Lieber, mir: es war die Nachtigall.
*)
Es waren nicht die süßen Semi di **)
melograno, die Romeo verführten,
mit Julia Veronas Sternenhimmel,
den Silberschein des Mondes zu genießen.
Was braucht es Reime, wenn Verliebte küssen?
Wer braucht denn schon den Zwang der Worte Paarung?
Belauscht den Schlag der Nachtigall und hört,
was ohne Reim in euren Ohren klingt.


*) Vier Verse aus "Romeo und Julia" in Schlegels Übersetzung
**) Granatapfelkerne

(Die Verse sechs bis neun: Aus Romeo und Julia, deutsch: A. W. von Schlegel)
Im Deutschen gab es früher den Endreim gar nicht. Geläufig war der Stabreim. Erst im 9. Jahrhundert im Zuge der Christianisierung Mitteleuropas gewann der Endreim größeren Einfluss. Lange Zeit beherrschte der Blankvers die deutsche Dichtung (z.B. in der Iphigenie oder auch in der deutschen Übersetzung von Romeo und Julia).
Der Blankvers ist "blank", also rein von Reimen und besteht aus fünfhebigen Jamben, das Versende ist weiblich oder männlich.

Geändert von Heinz (12.05.2023 um 08:57 Uhr)
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Alt 12.05.2023, 07:35   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
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Beiträge: 6.687

Lieber Heinz,

eine sehr schöne Erläuterung zu Endreimen!

Zitat:
. Im Deutschen gab es früher den Endreim gar nicht. Geläufig war der Stabreim. Erst im 9. Jahrhundert im Zuge der Christianisierung Mitteleuropas gewann der Endreim größeren Einfluss.
Das wusste ich noch gar nicht, vielen Dank für die interessanten Infos!

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.05.2023, 09:14   #3
männlich Heinz
 
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Beiträge: 7.878

Liebe Silbermöwe,
gleich in früher Morgenstunde ein paar nette Worte zu lesen, verschönt den Frühlingstag.
Ich hoffe, dass Du bemerkt hast, dass meine Verse eben in dem Versmaß geschrieben sind, in dem viele große Werle entstanden sind.
Dass der Stabreim als beherrschendes Stilmittel bis ins neunte Jahrhundert hinein unsere Ausdrucksweise färbt, spürt man bei stabgereimten Versen wie
"Milch macht müde Männer munter", "Mit Mann und Maus", "Über Stock und Stein".
So wie der Stabreim die Merkfähigkeit erhöht, so schafft das auch der Blankvers und natürlich auch der Endreim.
Einiges geschickt zu verbinden, schafft Flatatetaa, wobei man wissen muss, dass alle Vokale miteinander stabreimen ("das A und O", "Anfang und Ende"):

das will auf den Berg
und hat keine Schuhe
das will übers Wasser
und hat kein Schiff
das will ans Licht
und kann nicht raus

das seufzt nach Liebe
und hat keine Hände
das weint nach Träumen
und hat keinen Schlaf
das schreit nach Licht
und kann nicht raus

das will zum Anfang
und hat keine Mutter
das will zum Ende
und hat kein Messer
das will ins Licht
und kann nicht raus

und kann nicht raus


Liebe Grüße,
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.05.2023, 17:28   #4
weiblich DieSilbermöwe
 
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Beiträge: 6.687

Lieber Heinz,

Zitat:
. Ich hoffe, dass Du bemerkt hast, dass meine Verse eben in dem Versmaß geschrieben sind, in dem viele große Werle entstanden sind.
Ja, das habe ich bemerkt. Sehr schön.

Hier grübele ich noch, denn mit dem Stabreim habe ich mich noch nie beschäftigt:

Zitat:
.So wie der Stabreim die Merkfähigkeit erhöht, so schafft das auch der Blankvers und natürlich auch der Endreim.
Einiges geschickt zu verbinden, schafft Flatatetaa, wobei man wissen muss, dass alle Vokale miteinander stabreimen ("das A und O", "Anfang und Ende"):

das will auf den Berg
und hat keine Schuhe
das will übers Wasser
und hat kein Schiff
das will ans Licht
und kann nicht raus

das seufzt nach Liebe
und hat keine Hände
das weint nach Träumen
und hat keinen Schlaf
das schreit nach Licht
und kann nicht raus

das will zum Anfang
und hat keine Mutter
das will zum Ende
und hat kein Messer
das will ins Licht
und kann nicht raus

und kann nicht raus
Also müssen es gar nicht mal die gleichen Vokale sein?

Ich stehe etwas auf dem Schlauch...

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.05.2023, 17:39   #5
männlich Cornelius
 
Dabei seit: 05/2023
Ort: Lampertheim
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Beiträge: 384

Lieber Heinz,

deine Verse fließen so melodiös dahin, dass man wie beim zitierten Vorbild auf den ersten Blick gar nicht bemerkt, dass sie sich nicht reimen.

Und dabei bin ich ein großer Verehrer des Reimes... du zeigst aber sehr schön, dass auch "Ungereimtes" seinen Reiz hat. Ich halte es sogar für schwieriger, reimlos und doch rhythmisch und klangvoll zu dichten.

Gruß
Cornelius
Cornelius ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.05.2023, 18:51   #6
männlich Heinz
 
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Beiträge: 7.878

Liebe Silbermöwe,
ja, so ist es:
Einige Beispiele sollen das klar machen.

Du bist mein Ein und Alles

Du bist der Anfang und das Ende

Du bist das A und O (das Alpha und das Omega)
(Der erste und der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets)

Aus dem Hildebrandt-Lied ein Beispiel
mıt geru ſcal man geba ınfahan
Meine Übersetzung "Mit Geren soll man Gaben (Geschenke) empfangen" (also mit dem Ger (der Speerspitze) soll man misstrauisch Geschenke entgegen nehmen)
ist genauer als: "Mit dem Speer soll man Geschenke annehmen" - da fehlt die Alliteration.

Das soll keine Aufforderung sein in althochdeutscher Form (in Stabreimen) zu dichten. Aber Alliterationen sind eben auch Reime und in der deutschen Sprache gang und gäbe.
Ob ftatateta absichtsvoll (was ich ihr zutraue) die Alliterationen "untergebracht" hat, müsste sie uns selbst verraten.
Wenn sie es nicht tut, dann geht mein Schiff unter, mit Mann und Maus.
Ich hoffe, nicht zuviel Verwirrung angestiftet zu haben.
Liebe Grüße,
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.05.2023, 19:00   #7
weiblich DieSilbermöwe
 
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Beiträge: 6.687

Lieber Heinz,

vielen Dank für die ausführliche Erklärung!

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 14.05.2023, 10:35   #8
männlich Erhard Gratz
 
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Ort: Lüneburger Heide
Alter: 90
Beiträge: 160

Ein Hoch dem Heinz in allen Hütten!
Dass er des Endreims uns entwöhnt,
ist eine seiner echten Tücken,
die leise listig Lieder krönt.

Lieber Heinz,

sehr schön, wie Du dem Blankvers hier eine Bresche schlägst. Ich hatte bislang immer eine Scheu vorm Verfassen ungereimter Verse, weil sie m.E. ein nochmals gesteigertes Sprachempfinden voraussetzen. Und vieles, was als ungereimte Lyrik daherkommt, ist oft nur Prosa in gebundener Schrift.
Zitat:
Zitat von Heinz Beitrag anzeigen
Der Blankvers ist "blank", also rein von Reimen und besteht aus fünfhebigen Jamben, das Versende ist weiblich oder männlich
Aber warum muss der Jambus fünfhebig sein? (siehe mein Verslein oben)

Ich finde auch, dass Alliterationen und Endreime einander nicht ausschließen. So denke ich auch, dass hin und wieder eingestreute Endreime dem Blankvers nicht schaden. Vielleicht lockern sie sogar das Gedicht auf.

Gruß und Dank,
Erhard
Erhard Gratz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 14.05.2023, 10:50   #9
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Erhard Gratz Beitrag anzeigen
So denke ich auch, dass hin und wieder eingestreute Endreime dem Blankvers nicht schaden.
Hm ... dann wären es aber keine "Blank"-verse mehr, wenn ich Heinz' Erklärungen richtig verstanden habe, denn die Bezeichnung "blank" weist auf den Verzicht von Endreimen hin. Oder?
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 14.05.2023, 14:27   #10
weiblich Ottilie
 
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Beiträge: 338

Schönes Thema, das Du hier hier gewählt hast, lieber Heinz! Ich glaube auch, dass Reime oft entbehrlich sind und die Verse so weniger gestelzt klingen. Zumal ja die Worte um des Reimes willen oft gebogen, gebeutelt, verunstaltet werden...
Ottilie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 14.05.2023, 21:24   #11
männlich Heinz
 
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Lieber Erhard,
die Antwort ist ganz einfach:
Der Blankvers hat fünf Jamben pro Vers, wie der Hexameter sechs Hebungen hat,
die Stanze pro Strophe drei Kreuz- und einen abschließenden Paarreim hat.
Vielleicht hat man irgendwann festgelegt (möglicherweise, weil dann die Luft ausreicht, um die Verse zu rezitieren), dass der Blankvers fünf Jamben hat und sich nicht reimt.
Liebe Ilka-Maria,
kein oder - Du hast in knappster Form Richtiges gesagt.
Liebe Ottilie,
meine erklärte Liebe zum Blankvers hat sicher mit Gedichten zu tun, die sich auf Teufel komm raus am Ende reimen sollen. Da werden Inversionen und Wortamputationen in Kauf genommen.
Es ist ja nicht so, dass der Blankvers weniger Mühe kostet. Dass die beiden Großen (Shakespeare, Goethe) wunderschöne Texte reimlos und in fünfhebigen Jamben geschrieben haben, genieße ich immer wieder. Ein Shakespearbespiel habe ich in mein Gedicht eingebaut, aus Goethes Iphigenie stammt dieses Beispiel:
"Heraus in eure Schatten, rege Wipfel
des alten, heil'gen dichtbelaubten Haines,
wie in der Göttin stilles Heilgtum,
tret ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl,
..."

Ich freue mich, wenn meine blanken Verse
euch Anreiz sind, in dieser Art zu dichten.
Homer hätt seine Ilias gewiss,
wär er ein deutscher Dichterling gewesen,
in Jamben, fünf pro Vers geschrieben.

Seid gegrüßt!
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.05.2023, 20:06   #12
männlich Heinz
 
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Lieber Cornelius,
beinnahe hätte ich Deinen Beitrag übersehen.
Sehr gefreut habe ich mich über
"deine Verse fließen so melodiös dahin, dass man wie beim zitierten Vorbild auf den ersten Blick gar nicht bemerkt, dass sie sich nicht reimen."
Danke!
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.05.2023, 20:27   #13
männlich Faber
 
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Beiträge: 384

Da schließe ich mich Cornelius gleich an. Es ist schon eine Kunst, so zu schreiben, lieber Heiz.
Faber ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.05.2023, 20:53   #14
männlich Heinz
 
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Lieber Faber,
aber die Mühe lohnt sich!

Liebe Grüße,
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
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