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Alt 27.03.2023, 21:24   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Candlelight Dinner

"Der Wein ist zu kalt." Thomas stellte die Flasche, nachdem er sie mit beiden Händen umfasst und die Temperatur des Cabernet mit Stirnrunzeln geprüft hatte, auf den Tisch zurück. "Wie immer. Kannst du dir nicht angewöhnen, ihn beizeiten aus dem Keller zu holen?"

Ich ignorierte die Frage, die ich hatte kommen sehen, nahm die Flasche und drehte den Schraubverschluss auf. "Bitte, reich mir dein Glas."

Thomas hob seinen Weinkelch an und hielt ihn gegen das Licht der schlanken Kerze, die das Arrangement des Tisches schmücken und unserem gemeinsamen Abendessen eine romantische Stimmung verleihen sollte. Ein "candlelight dinner", bei dem wir beide uns vom Stress des Alltags hoffentlich entspannten: ich, von den Beratungsterminen für ein bis über den Kopf verschuldetes Klientel, von zwei nervigen Sprösslingen in der Pubertät, von Haus und Garten und dem Rest der Familie; Thomas von seinen nie endenden Geschäftsreisen, um seiner Mandantschaft in Gesellschaftsrecht und in den Hauptversammlungen zur Seite zu stehen.

"Das Glas ist dreckig. Wieder die Spülmaschine, oder? Ich habe dir schon hundertmal gesagt, Gläser gehören von Hand gespült."

Ich nahm ihm das Glas aus der Hand und stellte es zu meinem. Dann füllte ich mein Glas und stellte es neben seinen Teller. "Nimm meins. Es ist sauber."

"Wie soll ich, wenn es voll ist, noch erkennen, ob es nicht genauso dreckig ist wie meins?"

Ich lächelte. "Glaub es einfach. Und halt es ein bisschen zwischen den Händen, damit der Wein wärmer wird." Dann füllte ich Spaghetti auf seinen Teller und goss die Soße Bolognese darüber, die ich nach Originalrezept gekochte hatte – mit allen Zutaten (an Gewürz nur Oregano, kein Basilikum und keine Mischung italienischer Kräuter) und mit wenig Öl fachmännisch angebraten, damit das Hackfleisch nicht klumpt. Die ich über zwei Stunden lang köcheln ließ, damit sie das volle Aroma entfalten konnte.

Thomas streute Parmesan über sein Gericht und nahm den ersten Happen. "Die Nudeln sind zu weich. Schon mal von 'al dente' gehört?" Ich nickte, hatte aber nicht die Absicht, mich damit zu rechtfertigen, dass ich beim Kochen von einem Mechaniker seiner Autowerkstatt ans Telefon gerufen worden war, um darüber zu verhandeln, ob die Beseitigung der bei seinem Porsche festgestellten Mängel in Auftrag gegeben werden sollen. Ich sagte ja, wenn es bis zum Wochenende zu erledigen sei, denn bis dahin habe mein Mann einen Geschäftswagen. Und weil das Gespräch eine Weile dauerte, konnte ich die Spaghetti nicht zeitig genug von der Herdplatte nehmen und abschütten.

"An der Soße fehlt auch etwas", nörgelte Thomas weiter. "Und der Parmesan schmeckt alt und muffig. Als hättest du ihn im Kühlschrank zu feucht gelagert."

Ich verkniff mir, nachzufragen, was denn fehle, wie ich es früher getan hätte, als ich mich noch leicht provozieren ließ. Statt dessen hievte ich mir eine gute Ladung soßengetränkter Spaghetti auf die Gabel und schob sie mir in den Mund, hoffend, ich gäbe das Bild eines Hamsters mit bis zum Platzen gedehnten Backen ab. Ich kaute und spülte den Brei mit einem kräftigen Schluck Cabernet runter.

Thomas geriet bei meiner Gelassenheit aus den Fugen. "Den Fraß kann man nicht runterkriegen, und der Wein ist zum Kotzen, aber dir scheint das nichts auszumachen!"

Ich legte meine Gabel beiseite und füllte mein Glas mit Wein, bis es wieder voll war. Dann erhob ich mich von meinem Stuhl, nahm das Glas und kippte Thomas den Inhalt ins Gesicht. Der Überraschungseffekt saß: Mit geweiteten Augen und aufgesperrten Mund sah er mich an, keines Wortes mehr mächtig. Ich nutzte den Augenblick der Lähmung, seinen Teller zu nehmen und ihm die Spaghetti à la Bolognese halb über den Kopf, halb über die Stirn zu drücken, so dass ihm die Soße über das ganze Gesicht hinunterlief.

Ich hätte auf ihn eingehen können wie in den Jahren, als ich noch nicht kapiert hatte, dass ich Thomas nie etwas hätte recht machen können, nie hätte perfekt werden können. Als wir endlose Debatten führten und ich in mich ging, was ich an mir noch verbessern könnte. Doch ich war nie gut genug, alles was ich tat, war niemals gut genug, und was ich versuchte, um Thomas' Erwartungen zu erfüllen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Es war eine Spirale ohne Ende.

Ich setzte mich wieder hin und aß seelenruhig meine Spaghetti weiter, während Thomas sich fassungslos mit seiner Serviette die Soße aus dem Gesicht wischte und die Nudeln mit spitzen Fingern aus seinem Haar klaubte. "Du hast ja nicht mehr alle Nadeln an der Tanne!", keuchte er.

"Doch, hab' ich", erwiderte ich und mampfte weiter. "Ich hab' sogar das volle Alphabet auf der Schriftrolle: Ab sofort holst du den Wein aus dem Keller, egal, wo und mit wem du es gerade zu tun hast. Du spülst die Gläser und trocknest sie mustergültig ab, bis sie wie Seifenblasen funkeln. Du kochst die Spaghetti, während du am Smartphone hängst, und wehe, sie kochen zu lang! Künftig kümmerst du dich selbst um dein Prestige auf vier Rädern, und ab und zu könntest du auch mal nach deinen Kindern fragen oder danach, wie ich auf das Geschenk für deine Mutter zu ihrem siebenundfünfzigsten Geburtstag gekommen war, damit du es ihr mit dem breiten Lächeln eines pflichtbewussten, aber völlig ideenlosen Sohnes überreichen konntest. Falls du überhaupt noch weißt, wie alt deine Mutter bei ihrem letzten Geburtstag geworden ist."

Thomas setzte eine trotzige Miene auf. "Du hast gut reden. Ich habe viel zu viel am Hals. Jeden Tag geht es um meinen Kopf. Was hättest du denn an meiner Stelle getan?"

"Ich hätte: 'Danke, Schatz', gesagt."
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
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