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Alt 21.03.2023, 19:41   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Mutter

Ich weiß nicht mehr, wie alt ich war, irgendwo zwischen acht und zehn Jahre, als ich zum Balkon hinunterschrie: "Meine Mutter ist eine alte Sau!"

Meine Freunde, zu denen ich nicht durfte, weil ich Stubenarrest hatte, feixten, aber meine Mutter kassierte mich ein, zog mir die Hosen runter und verwamschte mir den Hintern, bis er in voller Blüte stand und ich den Vorteil kennenlernte, stehen bleiben zu dürfen, statt mich hinsetzen zu müssen.

Ich hasste dieses Weib, das mir täglich einen vollen Teller unter die Nase schob und versuchte, mir Manieren beizubringen. Wie ich auch meine beiden Schwestern hasste, die nach mir gekommen waren und meinten, ich müsste nach ihrer Nase tanzen. Sie waren die Lieblinge meiner Mutter. Ich war ein Nichts.

Eine Weiberwirtschaft, in der ich nichts zu melden hatte.

Gestern wurde meine Mutter beerdigt. Ich stand vor der Grube, in der ihr Sarg gesenkt wurde, und heulte Rotz und Wasser.
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Alt 21.03.2023, 19:46   #2
Ex-Pennywise
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Moin Ilka,

den Text könnte ich jetzt so meiner Schwester schicken, die mit niemandem in der Familie auch nur noch ein Sterbenswörtchen spricht.
Hat mich allein schon dadurch angesprochen.

Gruß

Pennywise
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Alt 22.03.2023, 09:14   #3
weiblich DieSilbermöwe
 
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Hallo Ilka,

ohje, eine kurze Geschichte, die es auf die Formel bringt: „Ich liebte meine Mutter, weil sie mir Manieren beibrachte und egal, welche Differenzen wir auch hatten."

Nee, die Story ist mir zu platt.

LG DieSilbermöwe
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Alt 22.03.2023, 09:54   #4
männlich Heinz
 
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die Liebe zwischen Mutter und Kind oder umgekehrt, die Liebe des Kindes zur Mutter, spielt sich auf einer ganz anderen Ebene ab als die unterschiedlichsten Erlebnisse/Erfahrungen. Was uns so unverständlich scheint (die Tränen der Tochter bei der Beerdigung, trotz des warmgekloppten Hinterns), wird nur erahnbar, wenn - ja wenn?
Manches muss wohl im Rätselhaften bleiben.
Heinz
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Alt 22.03.2023, 10:19   #5
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Nee, die Story ist mir zu platt.
Mag sein, Silbermöwe. Aber zwischen den vor dir zitierten Wahrnehmungen steht noch ein bisschen mehr.

Tatsächlich habe ich es so erfahren: Als die Mutter meiner Mutter beerdigt wurde, die das Aschenputtel gewesen war und nie ein Fünkchen Liebe erfahren hatte, der man einen Lehrberuf versagt hatte und die nicht einmal ein Geschirrtuch als Ausssteuer in die Ehe einbringen konnte, während alle anderen Geschwister Häuser hingestellt bekamen (mein Großvater war Maurer) und für die Jüngste Geld genug für Ballettunterricht da war, heulte sie tatsächlich Rotz und Wasser. Und ich verstand es damals nicht.

Wieso weint eine Tochter um die Mutter, von der sie ausgenutzt wurde und nie Gutes zurückbekam?

Ich dachte lange darüber und kam zu dem Ergebnis: Weil es vorbei war und keine Chance mehr bestand, die Wunde zu heilen. Meine Mutter hatte sich ihr Leben lang angestrengt, ein bisschen Liebe von der eigenen Mutter zu erhalten, aber vergeblich. Und mit deren Tod war jedes Bemühen abgewürgt - aus und vorbei.

Es ist diese Endgültigkeit, die zum Weinen bringt. Da bleibt man waffenlos zurück, und es gibt keine Mauer mehr zu erstürmen.

Ja, es ist ein launischer, kleiner Text, über den man die Nase rümpfen kann. Für mich steckt aber eine Menge drin, denn ich auch war mit meiner Mutter nie eins. Und doch fürchte ich den Tag, an dem sie für immer geht. Sie war ein guter Teufel.
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Alt 22.03.2023, 10:56   #6
weiblich DieSilbermöwe
 
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Zitat:
. Wieso weint eine Tochter um die Mutter, von der sie ausgenutzt wurde und nie Gutes zurückbekam?
Vielleicht hat sie gar nicht um ihre tote Mutter geweint, sondern um das Wissen, dass sie nie von ihr geliebt wurde. Und das tut weh und man versteht es nicht. So würde ich das interpretieren, aber okay, ich kenne sie ja nicht. Und natürlich kommt es mit der Endgültigkeit auch aufs Gleiche hinaus.

Ich konnte bei den Beerdigungen meiner Eltern gar nicht weinen. Selbst bei der meines verstorbenen Lebensgefährten nicht. Ich hatte einfach schon vorher geweint.
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.03.2023, 20:30   #7
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Ich konnte bei den Beerdigungen meiner Eltern gar nicht weinen.
Ich auch nicht. Bei der Großmutter und beim Vater nicht. Das kam immer erst zwei Jahre später raus.
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