Brüder

[Ilka-Maria]

Jakob wischte sich die Salzkörner aus den Augen, die ihm der Sandmann am Abend zuvor gestreut hatte, und schälte sich aus der Bettdecke. Im Morgenmantel stieg er die Treppe runter ins Parterre und wunderte sich, dass in der Küche noch nicht die gewohnte Geschäftigkeit herrschte. Sobald es Tag wurde, klapperte Geschirr, klirrten Bestecke und schlugen Töpfe aneinander, wenn die älteste seiner Schwestern das Frühstück für die Familie vorbereitete.

Heute blieb in der Küche alles still, und keine Menschenseele war zu sehen.

Jakob zog den Kragen seines Morgenmantels enger, denn es war kalt. Dann trat er aus dem Haus, um einen kurzen Spaziergang zu machen, bis seine Schwester aufgewacht war und ihren Küchendienst angetreten hatte. Er hatte vor, über die letzten Geschichten nachzudenken, die er mit seinem Bruder Wilhelm im Hörensagen gesammelt hatte, und wie man sie für ein breites Publikum ins Wort fassen und drucken lassen konnte.

Verwundert sah er am Straßenrand eine Kutsche neuer Bauart stehen. Sie war flacher als die Kutschen, die er kannte, und aus einem seltsamen Material. Im Inneren befanden sich Sitze, also war es eindeutig eine Kutsche, in die man sich setzen konnte. Aber warum hatte es keinen Kutschbock? Und was war das für ein seltsames rundes Ding, wo Zügel in Händen liegen sollten? Wo überhaupt war die Deichsel? Wo spannte man die Pferde an, um dieses merkwürdige Ding zu ziehen?

Hier stimmte etwas nicht. Jakob rannte zurück ins Haus, stürmte in Wilhelms Zimmer und packte ihn an der Kehle, um ihn wachzurütteln. "Hör auf zu träumen und komm mit mir raus!" Wilhelm schlug die Augen auf. "Nicht schon wieder, Jakob. Warum arbeitest du nicht einfach an deinem Wörterbuch weiter und überlässt die Märchen mir?"

"Aber da draußen …"

"Schon gut. Ich komme mit." Er trat nach draußen und schaute sich um. "Wo sind denn diese komischen Kutschen, an die man keine Pferde anspannen kann?"

Jakob war irritiert. "Vor einer halbe Stunde waren sie noch da."

Wilhelm legte seinen Arm um den Bruder und zog ihn an sich. "Na und? Sie waren da, jetzt sind sie weg. Beruhige dich, Jakob. Die ganze Welt ist ein Märchen."