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Alt 08.03.2023, 12:30   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Wie Kinder denken ...

Als Markus neun Jahre alt war, lebte ich von seinem Vater getrennt, musste nach einer langen Periode des Hausfrauendaseins in meinem Job wieder Fuß fassen und mich, da ich zunächst in Teilzeit arbeitete, nach der Decke strecken. Um das Finanzielle hatte ich mich bis dahin nicht kümmern müssen und stand deshalb jetzt vor einem neuen Erfahrungsfeld, auf dem ich mich vorsichtig bewegte.

Markus wuchs in eine Zeit hinein, in der es unter Gleichaltrigen en vogue war, Kleidung und Schuhe namhafter Marken zu tragen. Deshalb wünschte er sich Sportschuhe von Adidas und hatte auch eine Vorstellung, welche genau es sein sollten. Damals keine preiswerte Angelegenheit. "Dafür habe ich kein Geld", bügelte ich ihm die Illusion aus dem Kopf, worauf er das schlagende Argument vorbrachte: "Dann hol dir doch welches von der Bank."

Ich war für ein paar Minuten perplex. Aber nach einiger Überlegung wurde mir klar: Markus kannte es nicht anders. Brauchte man Geld, ging man einfach zum Bankautomaten, gab seine Wünsche ein, und schon spuckte er die Scheine aus. So hatte es Markus jahrelang beobachtet. Auf die Idee, nachzufragen, weshalb ich einem Job nachging, war er nie gekommen, denn das war für ihn so normal wie sein täglicher Gang zur Schule. Zwischen Leistung und Geld bestand für ihn kein Zusammenhang.

Also erklärte ich Markus, woher das Geld kam und dass man von der Bank nur das abheben konnte, was man selber zuvor verdient und hineingetan hatte. Er schien das System verstanden zu haben, denn als wir uns eines Tages beim Italiener, unsere Pizzen mampfend, über seinen Alltag und insbesondere über die Schule unterhielten, stieß er hervor: "Ich würde ja gerne zur Schule gehen, wenn ich dafür bezahlt würde." Zunächst dachte ich, mich verhört zu haben. "Hat du sie noch alle?", brachte ich schließlich heraus. "Es ist ein Privileg, dass du zur Schule gehen darfst." Ich hatte eine scharfe Betonung auf "darfst" gelegt, ehe ich fortfuhr: "Dafür haben deine Vorväter Barrikaden gebaut, Steine aus den Straßen gerissen und gekämpft. Bis dahin bekamen nämlich nur die Kinder des Adels und des reichen Bürgertums Unterricht. Die Armen konnten sich das nicht leisten, sondern schickten ihre Kinder zum Schuften aufs Feld und in die Fabriken. Und zwar länger als nur acht Stunden am Tag."

Markus traten bei meiner Apologie beinahe die Augen aus den Höhlen. Kinder bei der Ernte oder an Maschinen? Von morgens früh bis abends spät? Das war für ihn eine völlig neue, aber schwer zu akzeptierende Vorstellung. Kinder in seinem Alter streunten nach den Hausaufgaben in der Gegend umher, klauten Äpfel in Nachbars Garten, düsten mit den Fahrrädern über Schotterwege, erkundeten zum Abriss stehende Fabrikgebäude und provozierten Müllmänner mit frechen Sprüchen wie: "Hurtig, hurtig, olle Stinker, an die Tonnen etwas flinker!", ehe sie in wilder Flucht davonradelten.

Ich war wohl etwas zu laut gewesen, denn die Blicke der nächstsitzenden Restaurantgäste richteten sich auf mich. Auf ihren Gesichtern lag ein breites Grinsen, und ich konnte nur spekulieren, ob diese Leute auf meiner Seite oder auf derjenigen meines Sohnes standen.

Markus war still geworden. In seinem Kopf schien etwas zu arbeiten, das ihm riet, das Thema lieber nicht weiterzuführen. Jedenfalls beklagte er sich seit dieser Unterhaltung nie wieder über die Anforderungen der Schule, ließ sich vielmehr von mir Tipps geben, wie man sich Lernstoff, insbesondere Vokabeln, am effizientesten einprägen konnte, und erfüllte alle Aufgaben ohne sonderliche Schwierigkeiten.

Natürlich bekam er seine Adidas-Schleicher, nachdem ich einen Discounter, am Stadtrand gelegen, empfohlen bekommen hatte, der sie etwas günstiger verkaufte. Ich sehe meinen Sohn noch heute neben mir, wie er mit leuchtenden Augen die Plastiktüte mit der Schuhschachtel nach Hause trug und sagte: "Danke, Mama, danke."

08.03.2023
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