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Alt 19.05.2023, 17:00   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Küchenbomben

Es gab ein großes Hallo, als Rosie und Eddie zur Tür hereinkamen, denn meine Eltern hatten die beiden seit einigen Jahren nicht mehr gesehen. Dabei hatten sie ihr Domizil nur wenige Kilometer Luftlinie von uns in Frankfurt-Sachsenhausen, mit dem Auto vom Offenbacher Nordend in fünfzehn Minuten zu erreichen. Die Crux war, dass meine Eltern sich damals noch kein Auto leisten konnten.

Aber Rosie und Eddie hatten seit einigen Wochen ein Auto, einen javagrünen VW-Käfer mit Brezel-Fenster und Weißbandreifen, tod-chic und ihr ganzer Stolz. Und jetzt waren sie da.

Mutter hatte Schnittchen vorbereitet, die reichlich mit Schinken, Käse und Lachs belegt und mit Mayonnaise und Trauben verziert waren. Dazu flossen Bier und Eierlikör, die Insignien eines keimenden Wohlstands, die für Ludwig Erhards Parole des "Maßhaltens" nur ein Schulterzucken übrig hatten.

Nach all den Jahren, in denen eine Kommunikation nur per Brief möglich gewesen wäre, denn Telefon hatten die Privathaushalte noch nicht, Mutter und Vater jedoch als Teil der Fabrikarbeiterschaft kaum die Muße zum Schreiben, gab es viel zu erzählen. Während sich die Männer über Autos und Politik austauschten, wärmten Rosie und Mutter Erinnerungen an ihre Heimatstadt Stettin auf: Rollschuhlaufen auf der Hakenterrasse, Zuwinken den Überseedampfern, wenn sie im Haff auftauchten, in den Hafen einliefen und am Kai anlegten, Bewunderung der Schiffskapitäne in ihren schmucken Uniformen.

Der Abend verging wie im Flug. Die Platten mit Mutters Schnittchen waren blankgeputzt, aber, obwohl gut gegessen worden war, schlug der Alkohol mit Hungerattacken erbarmungslos zu: Er wollte mehr. Mutter wusste Rat: "Ich koche schnell ein paar Eier ab." Sie eilte in die Küche, ließ Wasser aufkochen und legte so viele Eier hinein, wie auf den Boden des Topfes nebeneinander passten. Es mochten mindestens acht gewesen sein, zwei pro Person, denn ich als Dreikäsehoch und mangels Alkoholkonsum nicht mehr hungrig, zählte in meiner Rolle als Zaungast nicht mit.

Die Aktion in Gang gesetzt kam Mutter wieder zu uns, und das fröhliche Geschwätz wurde fortgesetzt. Dabei floss nach wie vor das Bier. Damals machte sich niemand Gedanken über Fahrtüchtigkeit, denn der Autoverkehr war so sporadisch, dass man einen anderen Verkehrsteilnehmer ins Visier hätte nehmen müssen, um einen Unfall zu provozieren. Die wenigen gravierenden, gar tödlichen Unfälle, hatten weniger mit aufeinanderprallendem Blecht als vielmehr mit der Wehrhaftigkeit von Bäumen zu tun. Deshalb machten wir uns auch keine Gedanken, wie Rosie und Eddie ihren javagrünen VW-Käfer nach Hause zu bugsieren gedachten.

Die Erzählungen und das Gelächter nahmen kein Ende, und ich lachte mit, obwohl ich als Kind nicht alles verstand, was der Grund der Heiterkeit war. Bis die erste Detonation uns verstummen ließ. Dann folgte die zweite. Dann die dritte. Mutter schrie auf: "Die Eier!"

Wir hatten sie vergessen. Über all das Geschwätz und die Albernheiten hatten wir die Eier vergessen. Und die gaben nicht nach: Nummer vier, fünf und immer so weiter. Am Ende waren es alle acht.

Das Wasser war runtergekocht, die Eier waren überhitzt und, vereinfacht ausgedrückt, in Verdichtung ihres Kohlenstoffs zu Sprengstoff geworden. Den chemischen Vorgang beiseite lassend, sah das Ergebnis so aus, dass zwei der verkohlten Eier an der Decke hingen und es sich die restlichen sechs an den Tapeten gemütlich gemacht hatten.

Was Mutter zum Weinen brachte, war die Tatsache, dass Vater die Küche erst eine Woche zuvor frisch tapeziert hatte.

Der Abend war gegessen. Rosie und Eddie schlingerten in ihrem VW-Käfer Richtung Sachsenhausen, nicht ohne die vorherige Versicherung, dann man sich bald wiedersehen wolle, und meine Eltern gingen am nächsten Tag neue Tapeten und ein Paket Leimpulver kaufen. Vater wusste, was er am nächsten Wochenende zu tun hatte. Keine Chance, auf "dumme Gedanken" zu kommen.

Ich legte mich nach dem Bombenabend selig in mein Bett, im Schatten meiner Kindertapete, die Vater einige Wochen zuvor für mich an die Wand geklebt hatte und auf der sich Wildwestmotive wiederholten: Berittene Cowboys, die ihre breitrandigen Hüte schwenkten, Indianer, die mit gekreuzten Beinen am Lagerfeuer saßen, und Coyoten, die ihre Schnauzen zum Himmel hoben und den Mond anheulten.

Eier hin, Eier her – Kinderschlaf ist ein Gottesgeschenk.
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