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Humorvolles und Verborgenes Humorvolle oder rätselhafte Gedichte zum Schmunzeln oder Grübeln.

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Alt 03.05.2023, 17:25   #1
männlich Cornelius
 
Dabei seit: 05/2023
Ort: Lampertheim
Alter: 49
Beiträge: 394

Standard Re(h)quiem

Früher pflegte ich auf Reisen
ein Stück Wildbret zu verspeisen,
denn beim Schweifen in die Ferne
gönnt man sich bisweilen gerne,
was im heimatlichen Nest
meistens man links liegen lässt.

Auch an jenem Frühlingstag
bin zur Mittagszeit in Prag
ahnungslos und unbeschwert
ich ins Wirtshaus eingekehrt,
hab mein Reisegeld gezählt
und Filet vom Reh gewählt.

Das Besteck war schon gewetzt
und das Messer angesetzt,
doch schon vor dem ersten Bissen
schlug mir plötzlich das Gewissen:
Ich sei ohne Federlesens
schuld am Tod des edlen Wesens,
welches wohl noch gestern Abend
auf beschwingten Hufen trabend
spielend über Gräben hüpfte
und grazil durchs Dickicht schlüpfte,
bis der Waidmann die beliebte
Beute mit dem Schrot durchsiebte.

Einen Augenblick danach
eine andre Stimme sprach:
"Deine kummervolle Seele
wegen dieses Tiers nicht quäle!
Denk auch nicht mehr an den Jäger,
kleinlicher Bedenkenträger!
Hätt' er's nicht für dich erschossen,
hätt's ein andrer nun genossen.
Darum lächle und sei froh!
Es wär tot jetzt sowieso."

Leider konnt' ich nicht entscheiden,
wer im Recht war von den beiden,
also hielt ich für geraten,
nicht mehr anzurühr'n den Braten,
meine Zeche zu begleichen
und mich still davonzuschleichen.

Grad noch konnte ich im Gehen
aus dem Augenwinkel sehen,
wie - die Stirn gelegt in Falten -
rasch der Kellner den schon kalten
Festtagsbraten abservierte,
der die leere Tafel zierte.
Indigniert hat er gehustet
und die Kerze ausgepustet,
welche für das unbekannte
Opfer traurig rußend brannte.

Draußen höre ich beim Lauschen
unter mir die Moldau rauschen,
während mitten auf der Brücke
vor dem Standbild ich mich bücke,
heftig meine Hände knete
und aus tiefstem Herzen bete:
"Gib doch, heil'ger Nepomuk,
meinem Herzen einen Ruck,
dass dies Rehlein, unverzehrt,
nicht mehr mein Gemüt beschwert!
Denn den Glanz der goldnen Stadt
hätte sonst ich gründlich satt.
Dieses wäre wirklich schade.
Darum bitte ich um Gnade."

Und der Himmel hat den frommen
Herzenswunsch sogleich vernommen,
und ich habe unbeschwert
drauf die Moldau überquert.

Seitdem pflege ich auf Reisen
niemals Wildbret mehr zu speisen.
Cornelius ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.05.2023, 11:14   #2
männlich dunkler Traum
 
Benutzerbild von dunkler Traum
 
Dabei seit: 02/2021
Ort: mit beiden Beinen in den Wolken
Alter: 60
Beiträge: 1.614

... dieses Requiem verputzte ich wie eine Haxe, Stück für Stück, gern gelesen. Der ideale Lebenszweck ist Borstenvieh und Schweinespeck.

wünsche schöne Träume
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.05.2023, 19:21   #3
männlich Faber
 
Benutzerbild von Faber
 
Dabei seit: 10/2022
Beiträge: 384

Ein köstliches Gedicht. Häufig schlagen mir zu lange Gedichte auf den Magen, aber hier macht jeder Vers Spaß. Sehr gelungen.

LG
Faber
Faber ist offline   Mit Zitat antworten
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Stichworte
alltag, kulinarik, reisen




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