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Alt 26.03.2023, 18:18   #1
Friedrich
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 237

Standard Eichendorff - Schläft ein Lied

Joseph Freiherr von Eichendorff
(1788-1857)

„Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.“

Eichendorffs Gedicht gibt uns eine Sicht der Sprache, die der gängigen Auffassung widerspricht. Normalerweise denken die Leute, sie bedienten sich der Sprache, um so ihre Gedanken auszudrücken. Sie sind die Subjekte und bedienen sich der Sprache als Mittel zur Versprachlichung dessen, was sie anderen sagen wollen.

Wir kennen hierzu eine entsprechende Theorie aus der Linguistik: das Sender-Empfänger-Modell. Wir als Sender kodieren unsere Gedanken mittels Sprache, senden das Kodierte, indem wir es sagen oder schreiben. Der Empfänger dekodiert das Verlautbarte und gelangt somit zu dem was der Sender ihm sagen will.

In Kriegszeiten, wenn Nachrichten über Funk gesendet werden die der Feind nicht wissen soll, geschieht das auch auf diese Weise: Nachrichten werden kodiert, gesendet und dekodiert. Bei Übersetzungen geschieht das ähnlich: Eine Aussage wird in eine Fremdsprache „kodiert“ und der Empfänger versteht den Sinn der Aussage, die vorher in einer anderen Sprache „kodiert“ war. Doch funktioniert so Sprache?

Stellen wir uns vor, wir gingen zu einem Buchdrucker und sagten zu ihm: Kodieren sie uns einen Satz. - Welchen? - Egal, irgendeinen, Hauptsache, er ist noch nicht kodiert. - Ich habe nur kodierte Sätze parat und sonst keine. - Und wer hat die kodiert? - Niemand.

Nun drehe ich den Spieß aber um, sagt darauf der Buchdrucker. Ihr befreit einen Satz von seinem Kode und sagt mir, was übrig bleibt. - Nichts.

Die Leute glauben, wenn man eine Aussage von einer Sprache in eine andere übersetzen kann, dann müßte es doch etwas geben, was unabhängig von der Sprache existiert und jeweils in einer gleichsam verpackt ist. Doch außerhalb der Sprache gibt es – nichts.

Eichendorff macht die dichterische Erfahrung, daß ihm die Lyrik aus den Dingen entgegenkommt, sie schläft gleichsam in diesen. Ein magisches Wort bedingt, daß die Poesie sich entfaltet, so daß die Welt zu singen beginnt.

Hier ist es also ganz anders, als daß ein Subjekt sich des Mittels Sprache bedient, um ein Objekt, die Aussage herzustellen. Sprache kommt gleichsam aus dem Objekt und das Subjekt, der Dichter, empfängt sie.

Eichendorffs Aussage gilt nicht nur für die Lyrik der Romantik, sondern auch für die Prosa und für unser Leben ganz allgemein. Als Beispiel dazu fällt mir etwas ein, das ich in meiner Erzählung Hölderlin am Krankenbett beschrieben habe. Der Protagonist wird wegen einer MRT in die entsprechende Röhre geschoben und er assoziiert dabei unwillkürlich das Krematorium. Dieses Wort wirkt dann wie das Eichendorffsche Zauberwort, denn in der Röhre fallen ihm Einzelheiten zu seinem toten Vater ein, der vier Jahre zuvor eingeäschert wurde. Wenn wir beim Anblick bestimmter Dinge Assoziationen haben, ist es dann nicht so, daß die Worte von dort auf uns zukommen?
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