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Alt 21.03.2023, 18:43   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Anita

"Entweder, ihr lasst mich nach Amerika, oder ich gehe als Au-pair nach England. Dafür brauche ich eure Einwilligung nicht." Anita presste die Lippen aufeinander, ehe sie weitersprach. "Aber seid euch darüber klar: Wenn ihr mir den Weg nach Amerika verbaut, seht ihr mich nie mehr wieder!"

Ihre Eltern waren einen Moment lang sprachlos. Von den sechs Kindern, die sie hatten, war Anita das willensstärkste. Sie hatte sich immer durchgesetzt, aber sie mit siebzehn Jahren in ein fremdes Land zu ziehen zu lassen, ging ihnen zu weit. "Du bist zu jung und weißt noch nicht, wie das Leben ist", versuchte ihr Vater sie zu überzeugen. "Wir kennen Charles kaum. Er hat dir viel versprochen, aber was ist, wenn er dich fallenlässt?"

"Ich liebe Charles. Und er liebt mich. Er wird mich nicht fallenlassen."

"Und was ist mit deiner Ausbildung?"

"Die kann ich in Amerika weitermachen."

Die Eltern waren stolz gewesen auf die Tochter, die eine Lehre zur Röntgenassistentin begonnen hatte. Aber das sie sich in einen Arzt verliebte, der ihretwegen seine Verlobung platzen ließ und nach Amerika auswandern wollte, hatten sie nicht gerechnet. "Sie hat ihren Kopf", sagte der Vater zur Mutter. "Lass sie gehen."

Als Anita auf dem Flughafen jenseits des Atlantiks ankam, empfing Charles sie mit seinem amerikanischen Schlitten, einer knallroten Limousine mit Weißbandreifen. Sie stieg ein und fühlte sich wie eine Königin. Die zwei Stunden lange Fahrt zu der Kleinstadt, in der er ein kleines Haus im Kolonialstil gemietet hatte, kam ihr endlos vor. Die Weite des Landes faszinierte sie, und sie wusste sofort: "Hier bin ich zu Hause."

So hatte es mir Anita, meine Tante und älteste Schwester meiner Mutter, mit leuchtenden Augen erzählt.

Die ersten Jahre verbrachten Anita und Charles in Florida und lebten von dem Geld, das er als Assistenzarzt in einer Klinik verdiente. Anita brachte ihre Ausbildung als Röntgenassistentin zu Ende und lernte eifrig Englisch, indem sie sich abends vor das Fernsehgerät setzte und die Commercials nachplapperte. Sie lernte schnell, was sie aber nicht vor Fettnäpfchen bewahrte. Einmal bei Bekannten zum Essen eingeladen, die als Beilage Maiskolben servierten und fragten, ob man das in Deutschland kenne, antwortete Anita unbedarft: "Na klar. Wir füttern damit das Vieh." Charles wäre am liebsten im Erdboden versunken.

Nach ihrer Heirat zogen Charles und Anita nach Tennessee. Von hier aus machten sie Reisen in verschiedene Staaten und sahen sich um, denn sie wollten sich auf Dauer niederlassen und eine Familie gründen. Sie entschieden sich für Lancaster in Pennsylvania. "It's neat", meinte Anita, und sie erwarben ein Grundstück mit Haus und Swimming Pool in der Marietta Avenue. Charles fand eine Anstellung in der Praxis eines etablierten Arztes, und alles schien wie geplant zu laufen. Aber Kinder wollten sich nicht einstellen.

Nach wenigen Monaten starb der Arzt, dem Charles assistiert hatte. Sein Tod kam überraschend, und über Nacht blieben die Patienten aus, denn niemand kannte den jungen Assistenten, der obendrein ein Ausländer war. Wochenlang stand das Wartezimmer leer. Anita und Charles ging das Geld aus. "Das wird hier nichts mehr", folgerte Charles, "wir müssen weiterziehen."

Noch am selben Abend, als Charles aufzugeben bereit gewesen war, klingelte das Telefon. Durch die Leitung klang die aufgeregte und verzweifelte Stimme einer Frau. "Mein Vater hatte einen Unfall. Die Chirurgen wollen seinen Arm amputieren. Ich habe gehört, Sie seien ein guter Arzt …"

Charles hörte sich den Hergang des Unfalls an. Der Arm des Unglücklichen war in eine Maschine für Landarbeiten geraten und hing nur noch an einem Fleischfetzen. Charles versprach, sich den Patienten anzusehen.

Das Unmögliche reizte ihn. Es dauerte über vier Stunden, den Arm anzunähen, wobei Charles den Knochen außen vor ließ. Seine Aufmerksamkeit gehörte den Sehnen und Blutbahnen. Erst als der Patient wieder seinen Arm und drei seiner fünf Finger bewegen konnte, brach er ihm den Armknochen und schiente ihn.

Er hatte eine neue Methode entwickelt. Die Nachricht darüber machte die "tour du monde". Alle Zeitungen berichteten darüber, von der New York Times bis zur Prawda.

Charles' chirurgisches Meisterstück war in aller Munde. Als er am Tag nach der Berichterstattung in die Praxis kam, war das Wartezimmer voll. Niemandem war klar, welches Risiko er auf sich genommen hatte, denn wäre er mit seinem Versuch gescheitert, hätte er seine Reputation für immer in den Sand gesetzt.

Doch von nun an ging es steil aufwärts. Und auch der gewünschte Nachwuchs stellte sich ein: vier Töchter und ein Sohn.

Anita hatte früh gewusst, was sie wollte, aber auch auf Vertrauen gesetzt. Gehörte Glück dazu? Vielleicht – aber nicht nur. Sie hatte hart gearbeitet und mit Charles zusammen ein Krankenhaus hochgezogen, das sie Colonial Hall nannten.

Sie wurde durch und durch Amerikanerin, die allmählich ihre deutsche Sprache vergaß und wenn sie deutsch sprach, ihren amerikanischen Akzent nicht unterdrückte. Als sie einmal zu Besuch bei mir war und ich sie zum Essen in einem Restaurant eingeladen hatte, sagte sie am nächsten Tag zu mir: "Danke, dass du mich gestern ausgenommen hast."

Ich musste lachen. "Es heißt, 'dass du mich ausgeführt hast'. Warum sprichst du nicht englisch mit mir?"

Sie lachte auch. "Thank you for taking me out."
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Alt 22.03.2023, 11:32   #2
Friedrich
 
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Hallo Ilka-Maria,

Dein Report über den Lebenslauf Deiner Tante Anita hat mich gestern die halbe Nacht über im Bett beschäftigt, allerdings nicht deswegen, weil mir die Geschichte Deiner Verwandten so zu Herzen gegangen wäre. Ich nenne Deine Geschichte "Report", weil es sich um eine Darstellung von Ereignissen handelt, die der Verfasser selbst nicht gesehen hat.

In Nr. 10 des Fadens zu Hölderlin am Krankenbett berichtest Du, daß Du zwei Romane, einen Krimi und einen Gedichtband veröffentlicht hast, dazu liegen noch drei Drehbücher in der Schublade und harren der Überarbeitung. Also habe ich es mit Dir mit einem literarischen Profi zu tun, während ich, der bislang noch nie etwas veröffentlicht hat, als Amateur klein in Deinem mächtigen Schatten stehe. Wenn nun so ein Profi sagt, meine Geschichte sei mittelmäßig und nur des Stils wegen - wenn überhaupt - lesenswert, und dabei unmittelbar danach selbst eine Geschichte in das Forum einstellt, dann muß der Amateur doch denken, daß er vom Profi lernen kann, wie man richtig Literatur verfaßt. Und was nun das literarisch Vorbildhafte an dieser Geschichte ist, darüber denke ich die ganze Zeit nach.

Sind 50 Jahre Report über das Leben einer Tante in den USA besser als 16 Stunden eigene Erfahrung in einer prekären Lebenssituation eines LI?

Ist das Leben Deiner Tante überhaupt so ein aufregender Stoff, das man ihn anderen nicht vorenthalten sollte? Ist es das hunderttausendfach abgenudelte Thema von from rags to riches was die Geschichte erzählenswert macht? Wobei zu bemerken ist, daß es nicht die Tante, sondern der Onkel war, der die Familie zu Reichtum verhalf. Und warum wird man in den USA als Arzt oder Krankenhausbetreiber überhaupt so reich? Ich denke, Du weißt es.

Ich habe einen Onkel Franz, der in Regensburg im Jahre 2012 verstorben ist. Lohnt es sich, seine Lebensgeschichte als Reportage hier einzustellen, auch wenn er nicht zu Reichtum gekommen ist?

Das alles sind Fragen, die mir bescheidenen Amateur durch den Sinn gehen und mich nachts nicht schlafen lassen. Ich hoffe, Du hilfst mir weiter.

Lieber Gruß

Friedrich
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Alt 22.03.2023, 17:08   #3
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Nein, Friedrich, ich bin kein Profi. Das wäre ich erst, wenn ich im Geschäft Fuß gefasst hätte. Du kennst den Film "Einer flog über das Kuckucksnest"? Das Drehbuch lag über zehn Jahre lang bei Kirk Douglas in der Schublade, bis sein Sohn Michael es entdeckte. "Unverfilmbar!" Michael nahm es an sich und schuf ein Stück Filmgeschichte.

Etwas veröffentlicht zu haben macht noch keinen Profi. Ich hatte zwar dreieinhalb Jahre lang diverse Kurse im Schreiben belegt, aber das allein macht nicht den Meister. Bei den heutigen self-publishern kannst du jeden Schrott veröffentlichen.

Bei "Anita" handelt es sich um einen Erinnerungssplitter. Es ist weder Report noch Reportage, sondern ein Teil meiner Familiengeschichte, ist also in keiner Weise journalistisch. Ein Eckpfeiler meiner Biografie.

Anita, die einen Arzt heiratete (und ihm schon mit fünfzehn, nicht mit siebzehn in die USA nachreiste), war der Star der Familie, so etwas wie ein exotisches Tier und mit Selbstwertgefühl voll bis zum Stehkragen. Als sie einmal mit zwei vom Flug übermüdeteten Kindern nach Deutschland kam und in einem voll besetzten Zug ein Abteil in Anspruch genommen hatte, der Schaffner ihr aber klarzumachen versuchte, sie könne dort nicht sitzen bleiben, sondern müsse sich ein ungebuchtes Abteil suchen, knallte sie ihm vor die Platte: "Dann gehen Sie mal die Waggons ab, und wenn sie einen freien Platz gefunden haben, können Sie uns hier abholen."

In den USA war sie gewöhnt, als Mutter first class behandelt zu werden, schon lange, bevor es in Deutschland die Erstausgabe der "Emma" gab.

Ich war einige Male bei meiner Tante zu Besuch gewesen, in jenem Amish County, das von Washington und Philly zwei Stunden Autofahrt entfernt lag. Wie ich auch fast zehn Urlaube in diesem fantastischen Land verbracht und im Mietwagen die Staaten durchquert hatte. Zweimal war ich in Atlanta gewesen, der "schwärzesten" Stadt der USA, ohne den geringsten Zwischenfall zu erleben.

Ich weiß, dass in den USA nicht alles Gold ist, was zu glänzen scheint. Aber ich weiß auch, dass wir auf Augenhöhe sein könnten, wenn wir wollten. Ohne Not machen wir uns klein und ducken uns weg, um niemanden zu verärgern.

Eine Strategie, die uns den Kopf kosten kann.
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Alt 22.03.2023, 18:29   #4
Friedrich
 
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Hallo Ilka-Maria

You don't get the drift.
Zitat:
Nein, Friedrich, ich bin kein Profi.
Du führst Dich aber so auf, daß der Eindruck entsteht, Du wärst einer. Ilka-Maria ist eine Instanz in poerty.de. Gibt sie aber auch gerechte Noten?
Zitat:
Zitat Ilka-Maria
Ich habe allerdings, da mir der Spannungsbogen fehlt und sich der Text weniger wie eine Story, sondern eher wie eine Reportage liest, nur die Hälfte gelesen.
Wo ist denn in Deiner Geschichte der "Spannungsbogen" Wo ist der Knalleffekt (surprise ending) damit sie den Kriterien seiner "Story" genügt? Ist Deine Geschichte nicht eine Art Reportage? Du berichtest zum größten Teil von Ereignissen, die Du selbst nicht gesehen hast, die Dir lediglich von Tante und Mutter berichtet wurden. Und meine Geschichte war ab der Hälfte deswegen schon nicht mehr lesenswert. Ich habe den Eindruck, daß Du deine Noten bzw. Dein Urteil recht parteiisch vergibst. Was für einen anderen von Nachteil sei, gilt für einen selbst als ganz in Ordnung. Und statt hierauf einzugehen, erzählst Du mir noch weitere Details aus der Familiengeschichte.

Lieber Gruß

Friedrich
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Alt 22.03.2023, 20:22   #5
weiblich Ilka-Maria
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Tut mir leid, Friedrich, dass du dich verletzt fühlst. Wie hätte ich damit rechnen können, dass dir mein Urteil so wichtig ist?

Ich finde es durchaus dramatisch, dass einem Mann droht, nach einem Unfall seinen Arm zu verlieren, er aber zu seinem Glück einen jungen Chirurgen findet, der mit einem bis dahin nicht gewagten Experiment ihm den Arm zu erhalten versucht. Da ist doch Pfeffer drin.

Das macht mich noch nicht zum Profi. Familiengeschichten kann ich bei jedem Kaffeekränzchen erzählen.
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