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Alt 13.03.2023, 15:24   #1
Friedrich
 
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Standard Schiller - Die Bürgschaft

Friedrich von Schiller
Die Bürgschaft

(1798)[/

Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Damon, den Dolch im Gewande:
Ihn schlugen die Häscher in Bande,
»Was wolltest du mit dem Dolche? sprich!«
Entgegnet ihm finster der Wüterich.
»Die Stadt vom Tyrannen befreien!«
»Das sollst du am Kreuze bereuen.«

»Ich bin«, spricht jener, »zu sterben bereit
Und bitte nicht um mein Leben:
Doch willst du Gnade mir geben,
Ich flehe dich um drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
Ich lasse den Freund dir als Bürgen,
Ihn magst du, entrinn' ich, erwürgen.«

Schillers „Die Bürgschaft“ zählt zu meinen Lieblingsgedichten; schon als Kind hat es mich nicht nur seiner schönen rhythmischen Sprache, sondern auch wegen seiner spannenden Handlung beeindruckt. Doch wenn ich bereits als Kind das Gedicht ohne weiteres verstehen konnte, warum mache ich mir dann heute im gereiften Mannesalter die Mühe, es für interessierte Leser dieses Forums zu „interpretieren“? Versteht es sich denn nicht von selbst? Ich tue dies, weil ich denke, daß in „Die Bürgschaft“ Schillers Idealismus sich besonders schön aufzeigen läßt. Dies deutlich zu machen und dazu noch die Tragweite dieses Denkens für unsere moderne Zeit aufzuzeigen, ist die Absicht dieser Interpretation.

Schiller hat die Geschichte von Damon und seinem in dem Gedicht ungenannten Freund sowie dem Tyrannen Dionys nicht erfunden, sondern weitgehend von der „Fabulae No. 257“ des Hyginus Mythographus (2. Jhdt Nach Chr.) übernommen. Dort heißen die beiden Freunde Möros und Selinuntius. (Interessierte können in wikipedia unter dem Eintrag Die Bürgschaft die Geschichte sowohl in Latein als auch in der Übersetzung von Friedrich Schmidt (1827) im Detail nachlesen).

Dionys (Dionysios I, 430 – 367 v. Chr.) ist ein Tyrann in Syrakus, der seine Gegner auf grausame Art und Weise hinrichten läßt. So auch Damon, der ihn vergeblich erdolchen wollte. Er soll dafür ans Kreuz genagelt werden. Damon möchte zuvor jedoch noch eine familiäre Pflicht erfüllen, seine Schwester nämlich zu verehelichen, und bittet den Tyrannen dafür um drei Tage Aufschub. Als Bürgen für seine versprochene Rückkehr bietet er ihm seinen Freund an. Dionys ist damit einverstanden, bedeutet Damon aber, daß der Freund den für ihn gedachten Kreuzestod sterben müsse, sollte er nicht rechtzeitig wiederkommen. Damon erledigt alsbald seine Aufgabe und macht sich auf den Weg zurück nach Syrakus, um den Freund auszulösen. Auf dem Weg dorthin hat er es mit extremen Widrigkeiten wie Sturm, Regen, Hitze und Räuberüberfällen zu tun. Im letzten Augenblick schafft er es dennoch, der Freund ist gerettet und Dionys, von der Treue Damons zutiefst beeindruckt, bittet die beiden Freunde, ihn als dritten in ihrem Bunde mitaufzunehmen.

Schillers Idealismus zeigt sich in dem Gedicht besonders deutlich an der Stelle, als Damon auf dem Weg nach Syrakus seinem Hausverwalter Philostratus begegnet und dieser zu ihm entgegenruft:
»Zurück! du rettest den Freund nicht mehr,
So rette das eigene Leben!
Den Tod erleidet er eben.
Von Stunde zu Stunde gewartet' er
Mit hoffender Seele der Wiederkehr,
Ihm konnte den mutigen Glauben
Der Hohn des Tyrannen nicht rauben.«
Darauf entgegnet ihm Damon unbeirrt:

»Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht,
Ein Retter, willkommen erscheinen,
So soll mich der Tod ihm vereinen.
Des rühme der blut'ge Tyrann sich nicht,
Daß der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht,
Er schlachte der Opfer zweie
Und glaube an Liebe und Treue!«

„Der Hohn des Tyrannen“: das erinnert an die dritte Strophe, in der es heißt:

Da lächelt der König mit arger List
Und spricht nach kurzem Bedenken:
»Drei Tage will ich dir schenken;

Der „König“ glaubt nicht an das Gute. Für ihn ist es das Geschwätz von Idealisten, das sich in der Realität aber niemals bewährt. Dort ist, so denkt er „arglistig“, jeder sich selbst der nächste. Damon will ihm den Triumph jedoch nicht gönnen. Kann er schon für den Freund nichts mehr tun, so möchte er doch für die Idee von „Liebe und Treue“ sterben. Nur wenn bewiesen wird, daß es diese Idee tatsächlich gibt und sie mehr gilt als das eigene Leben, kann man an sie glauben. Das vorgelebte Beispiel hat so erziehende Wirkung.

Und in der letzten Strophe gibt sich der „König“ in dem Wettstreit geschlagen:
Und blicket sie lange verwundert an.
Drauf spricht er:
»Es ist euch gelungen,
Ihr habt das Herz mir bezwungen;
Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn -
So nehmet auch mich zum Genossen an:
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
In eurem Bunde der dritte!«

Schiller hat persönlich einiges für seinen Idealismus riskiert, hat konsequent nach ihm gelebt und gehandelt und ist damit nach wie vor ein großes Vorbild. Dies war auch der Grund, weshalb er von seinen Zeitgenossen wie ein „Superstar“ gefeiert wurde; die mysteriösen Umstände seines Todes, zusammen mit den späteren aus seiner Familie lassen jedoch vermuten, daß er sich damit nicht nur Freunde geschaffen hat.

Der Lebensauffassung des Tyrannen Dionys steht diejenige Damons gegenüber. Dionys glaubt an die Macht und ist davon überzeugt, daß letztendlich nichts stärker ist als die Angst vor dem Tode. Man kann sein Leben riskieren, um an die Macht zu kommen, nicht aber um ein Versprechen einzulösen bzw. für die Idee der Treue Damon hingegen denkt, daß der Glaube an das Gute (Liebe und Treue) die bessere oder höhere Lebensweise ist, die, wenn sie konsequent vorgelebt wird, die Menschen zu ihr bekehrt. Dies geschieht auch deshalb, weil die Idee des Guten gottgewollt und somit ein Weg zu einem höheren Menschsein ist. In Schillers Gedicht – im Gegensatz zur historischen Quelle – zeigt sich dies bei der Stelle, als Damon in Strophe 9 sich verzweifelt in die Fluten des Flusses wirft, um ihn bei Todesgefahr zu durchschwimmen:

Da treibt ihn die Angst, da faßt er sich Mut
Und wirft sich hinein in die brausende Flut
Und teilt mit gewaltigen Armen
Den Strom, und ein Gott hat Erbarmen.

In Strophen 12 und 13 betet Damon, bei glühender Hitze dem Verdursten nahe, zu Gott und bittet um Hilfe, und siehe, da hört er plötzlich in der Nähe eine Quelle rauschen und ist ein weiteres Mal durch „höhere Gewalt“ gerettet.

*

Wie sieht es heutzutage mit Schillers Idealismus aus? Können wir uns vorstellen, daß ein „Tyrann“ (heute heißt es „Schurke“) seinem gescheiterten Attentäter gegen das Pfand eines Freundes für einige Zeit freiläßt, nur um der Welt zu beweisen, daß es keinen Idealismus gibt? Die heutigen „Schurken“, welcher Couleur auch immer, denken viel zu pragmatisch, um sich für Fragen von Weltanschauungen und ihrer Glaubwürdigkeit zu interessieren.

Läßt sich des weiteren ein Schurke durch ein beeindruckendes Beispiel zum Guten bekehren? Unwahrscheinlich, zumal er, aufgebläht durch Ideologie und Propaganda, ohnehin denkt, daß er das Gute verkörpere.

Andererseits denke ich, daß sich nach wie vor die Menschen durch ein Beispiel der Standhaftigkeit und der Treue zum gegebenen Wort beeindrucken läßt und solche Menschen auch zu würdigen und zu schätzen weiß.

Als Beispiel fällt mir da der in unseren Breiten wenig bekannte Camillien Houde (1889 – 1958),ein,der viermalige Bürgermeister von Montréal, der sich vehement gegen die „Einführung der Wehrpflicht“ (= Zwangsrekrutierung) in Kanada (vor allem im Québec) aussprach und deshalb ohne Gerichtsurteil vier Jahre (1940 – 1944) in ein kanadisches Konzentratrionslager (camp de concentration à Patawawa) gesperrt wurde. Als er im August 1944 nach Montréal zurückkehrte, wurde er von der Menge jubelnd empfangen, man hieß ihn „Mr. Montréal“ und wenige Montate später war er wieder Bürgermeister.

Daß Kanada im 2. Weltkrieg von Anfang an mit von der Partie war, geschah weniger aus weltanschaulichen (Kreuzzug gegen das Böse), denn aus wirtschaftlichen Gründen. So stieg dank der Rüstungsaufträge das Wirtschaftswachstum in den vier Jahren von 1940 – 1944 um 500%, sank die Arbeitslosigkeit von 9 % (1939) auf 0,6 % (1944).

Kann man sich vorstellen, daß ein deutscher Politiker für seine Überzeugung oder für sein Versprechen in einem Lager in Sträflingskleidung vier Jahre Holz hacken würde, nur um deutsche Soldaten aus Kriegen herauszuhalten, die uns nichts angehen?

Angesichts der getöteten und verwundeten deutschen Soldaten in Afghanistan und anderswo kann man sich solch eine Frage doch durchaus einmal stellen, oder nicht?

Friedrich Schiller, und davon bin ich überzeugt, hätte aus seiner Überzeugung kein Hehl gemacht.
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Alt 13.03.2023, 15:31   #2
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Hallo, Friedich, der Beitrag ist doppelt gepostet. Ich habe den ersten gelöscht, aber reaktivierbar. Falls das ein Versehen war und die beiden Texte identisch sind, bitte kurz bestätigen, damit ich den einen endgültig löschen kann.
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Alt 13.03.2023, 16:42   #3
Friedrich
 
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Hallo Ilka-Maria,

ich habe den Text tatsächlich doppelt gepostet. Der obige Text ist der richtige. Er ist formatiert, der andere, soweit er beim Anklicken noch einmal auftaucht, ist es nicht. (keine mittig gesetzten Verszeilen). Diesen bitte löschen.

Sorry

Friedrich
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Alt 13.03.2023, 16:53   #4
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Zitat:
Zitat von Friedrich Beitrag anzeigen
Sorry
Kein Problem. Danke.

Zum Gedicht: Ich liebe Schillers Balladen, aber auch seine anderen Gedichte. Ihm stand ich immer viel näher als seinem Freund Goethe, der seine Leidenschaften zwar auch meisterlich in Verse fassen konnte, aber doch pragmatischer veranlagt war.

Die Schaffenskraft Schillers war enorm. Ich habe seine gesammelten Werke, weiß aber nicht, wie ich es schaffen soll, das alles zu lesen. Immerhin: Safranskis Schiller-Biografie habe ich gelesen, da hat man schon mal vieles "in a nut shell".

Meine Lieblingsballade ist "Die Kraniche des Ibykus" wegen der dämonischen und schicksalhaften Atmosphäre, die in krassem Gegensatz zu den erwarteten fröhlichen Dichtergesängen steht.

Übrigens: 1962 wurde der Stoff der "Bürgschaft" adaptiert und ein Sandalenfilm daraus gemacht, so ein richtig schöner Italo-Schinken mit Titel "Il tiranno di Siracusa". Hatte ich damals im Kino gesehen, englischer Titel: "Damon and Pythias". Es dauert aber eine geschlagene Stunde, ehe es gegenüber dem Tyrannen zum Angebot kommt, eine Geisel zu stellen.

Kann man hier in voller Länge sehen (in Englisch):
https://www.youtube.com/watch?v=maMD05pVrxU
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Alt 14.03.2023, 11:02   #5
Friedrich
 
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Hallo Ilka-Maria,

Schön, in Dir einen Schiller-Fan zu entdecken. Ich war von Schillers Bürgschaft schon immer angetan und habe es seinerzeit sogar mit Sechstklässlern zweimal auf einer improvisierten Bühne aufgeführt. Ein Schüler stand als Erzähler am Mikrophon, die anderen Sprachen die Rollen und spielten sie in Kostümen. Die Eltern waren beide Male recht angetan, nicht nur von der Leistung ihrer Sprößlinge, sondern auch von Schiller. (Darunter migrantische Eltern, die ihn noch gar nicht kannten).
Zitat:
Zitat Ilka-Maria
Goethe, der (...) aber doch pragmatischer veranlagt war.
Den Unterschied könnte man gut in der Bürgschaft aufzeigen. Während Damon/Schiller zweimal sein Leben riskiert, einmal um die Stadt vom Tyrannen zu befreien, das andere Mal, um Dionys an Liebe und Treue glauben zu lassen, hätte Damon/Goethe sich wohl mit dem Tyrannen arrangiert und sich einen Orden von ihm geben lassen so wie seinerzeit geschehen mit der Annahme eines Ordens von Napoleon Bonaparte. Schäbig ist auch, daß Goethe nicht einmal zur Beerdigung seiner Ehefrau Christiane erschienen ist.

Lieben Gruß

Friedrich
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Alt 14.03.2023, 14:59   #6
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Zitat:
Zitat von Friedrich Beitrag anzeigen
Während Damon/Schiller zweimal sein Leben riskiert, einmal um die Stadt vom Tyrannen zu befreien, das andere Mal, um Dionys an Liebe und Treue glauben zu lassen, hätte Damon/Goethe sich wohl mit dem Tyrannen arrangiert und sich einen Orden von ihm geben lassen so wie seinerzeit geschehen mit der Annahme eines Ordens von Napoleon Bonaparte. Schäbig ist auch, daß Goethe nicht einmal zur Beerdigung seiner Ehefrau Christiane erschienen ist.
Das sehe ich nicht so streng, Friedrich. Ich finde, dass Sloterdijk recht hat mit dem Satz: "Es gibt keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung."

Napoleon wurde von vielen Menschen verehrt, man denke an die "Eroica", die Beethoven ihm widmen wollte, davon aber Abstand nahm, nachdem sich der Feldherr selber zum Kaiser gekrönt hatte. Goethe hatte, wenn ich den Berichten über sein Treffen mit Napoleon glauben kann, keine andere Wahl gehabt, als den Orden anzunehmen. Er empfing ihn nicht als Privatperson, sondern in seiner Funktion als Geheimrat und deshalb für das Land und den Herzog, denen er diente. Das Treffen schien jedenfalls ziemlich eisig vonstatten gegangen zu sein. Goethe musste dazu überredet werden, überhaupt hinzugehen.

Seine Scheu vor kranken Menschen und Sterbenden wurde ihm oft als Herzlosigkeit ausgelegt. Es spricht aber vieles dafür, dass der wahre Grund eine tiefgründige Angst war, selber krank werden zu können. Er weigerte sich deshalb auch, einer Verwandten, die sich bei einem Sturz vom Pferd verletzt hatte, einen Krankenbesuch abzustatten, denn der Anblick von Hilflosigkeit hätte ihn beunruhigt. Verletzbarkeit und Sterblichkeit durfte es für Goethe nicht geben.

Augenzeugenberichten zufolge soll er, als er selbst im Sterben lag, ein von Todesangst gezeichnetes Gesicht gehabt haben. Was Christiane anging, war sie seit längerer Zeit krank und betäubte ihre Schmerzen mit Alkohol. Goethe konnte den Gedanken, sie zu verlieren, nicht ertragen. Angeblich soll er bei der Nachricht ihres Todes ausgerufen haben: "Christiane, Christiane, warum hast du mich verlassen?"

Goethe war nicht herzlos, sondern befand sich in einer ständigen Haltung des Verdrängens, um die Schrecklichkeit von Verlusten nicht an sich heranzulassen. Niemand stand ihm so nahe wie Christiane, sonst hätte er sie nach vielen Jahren "wilder Ehe" nicht doch noch, um sie gesellschaftlich zu schützen, geheiratet und die gemeinsamen Kinder legitimiert. Und sicherlich hätte er ihr nicht, während er auf Reisen war, am laufenden Band Briefe geschrieben und ihre Meinung zu seinen Weltanschauungen und seinen Werken wertgeschätzt. Es war ihm auch egal, dass sie kein gutes Deutsch schrieb, sondern so formulierte, wie sie sprach und auf Rechtschreibfehler keine Rücksicht nahm. Sie war die erste, die seine Arbeiten zu lesen bekam, und er nahm ihre Kritik ernst. Er war ihr dankbar, dass sie den Haushalt gewissenhaft führte, sparsam war, ihm den Rücken freihielt und ihn mit resolutem Eingreifen vor der Erschießung durch französische Soldaten bewahrt hatte, mit denen er in Streit geraten war. Pragmatisch zu sein muss nicht heißen, dass man arm an Emotionen ist, die in besonderen Fällen auch mal überschießen können.

LG
Ilka
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Alt 14.03.2023, 19:49   #7
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Hallo Ilka-Maria,
Zitat:
Zitat Philostratos
»Zurück! du rettest den Freund nicht mehr,
So rette das eigene Leben!
Was hätte denn Sloterdijk darauf geantwortet?
Vielleicht: okay. Das eigene Leben ist immer mehr wert als Idealismus. Und der Tyrann Dionys hätte ihm geantwortet: "Eben, wußte ich doch schon immer".

Vielen Dank für die Information zu den Umständen, in denen Goethe Napoleons Orden entgegennahm.
Mir war bekannt, daß Goethe Angst vor Krankheit und dem Sterben hatte. Schiller hätte dazu sagen können: Soldaten in einer Schlacht haben auch Angst und das angesichts der Bedrohung mit noch viel mehr Grund, und trotzdem laufen sie nicht davon oder drücken sich.
Wenn Goethe seine Angst nicht überwinden kann, ist er dann zu einem Idealismus à la Schiller überhaupt in der Lage?

Lieben Gruß

Friedrich
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Alt 14.03.2023, 20:40   #8
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Zitat:
Zitat von Friedrich Beitrag anzeigen
Hallo Ilka-Maria,
Was hätte denn Sloterdijk darauf geantwortet?
Vielleicht: okay. Das eigene Leben ist immer mehr wert als Idealismus. Und der Tyrann Dionys hätte ihm geantwortet: "Eben, wußte ich doch schon immer".

Vielen Dank für die Information zu den Umständen, in denen Goethe Napoleons Orden entgegennahm.
Mir war bekannt, daß Goethe Angst vor Krankheit und dem Sterben hatte. Schiller hätte dazu sagen können: Soldaten in einer Schlacht haben auch Angst und das angesichts der Bedrohung mit noch viel mehr Grund, und trotzdem laufen sie nicht davon oder drücken sich.
Wenn Goethe seine Angst nicht überwinden kann, ist er dann zu einem Idealismus à la Schiller überhaupt in der Lage?
Gute Fragen, Friedrich. Man hätte sie Schülern zur Diskussion stellen sollen. Zu meiner Zeit gab es das nicht, wir hatten den sogenannten "Frontalunterricht". Nicht schlecht, aber wie ich heute weiß, nicht genug.

Sloterdijk. Doch, ich glaube, er hat recht. Wenn mir mein eigenes Leben nicht wert genug wäre, könnte ich kaum das anderer Menschen hochhalten. Außerdem sagte er, es sei nicht die moralische Pflicht usw. Er sagte ja nicht, dass ein Mensch auch anders entscheiden könnte = die freie Entscheidung spricht Sloderdijk niemandem ab. Moralische Pflicht kommt für ihn offensichtlich immer von außen, also unter Druck, nicht aus eigener Überzeugung.

In Schillers Bürgschaft geht es gewiss um Freiwilligkeit und Vertrauen. In aller Kürze geschildert geht es darum: Der eine Freund ist bereit, für seine Tat zu sterben, hat aber noch eine Mission zu erfüllen und bittet dafür um Freigang. Sein Ehrenwort ist dem Tyrannen nicht genug. Ein anderer Freund stellt sich als Geisel, weil er vertraut. Man verlacht ihn, aber die Sache wird für den Tyrannen ein Spiel: Er will beweisen, wie schwach jeder Mensch ist und dass der Freund den Freund fallen lassen wird. Wäre Schillers Geschichte wahr gewesen, hätte jeder Spekulant auf den Kopf des Freigängers gesetzt: "Der kommt nicht zurück."

Schiller war ein Idealist und Moralist. Deshalb kommt bei ihm der Freund zurück. Das ist jedoch "wishful thinking". Menschen fürchen sich vor dem Tod, und ganz besonders vor einem gewaltsamen Tod, und wenn er dann auch noch von dem Gefühl einer Ungerechtigkeit begleitet wird, ist der Gedanke an den Tod ganz übel. Menschen haben außerdem die Tendenz, moralisch umzudenken, wenn ihnen das Feuer unter den Füßen zu heiß wird. Dann beginnt ein neues Abwägen und Umsortieren. Das ist Psychologie, und das ist ein so weites Feld, das ich das hier nicht vertiefen will. Der Wille, zu überleben, ist der stärkste Trieb im Menschen und hat einen biologischen Sinn. Da steht Moral schnell am Ende.

War Goethe ein Idealist wie Schiller? Klares Nein! Deshalb ergänzten sie sich so gut.

Goethe sah die Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen in ihrer ganzen Komplexität, wie er sie ja auch im Faust und in den Wahlverwandtschaften festgehalten hat. Er hat die Dinge gezeigt, wie sie sind.

Schiller hingegen hat die Welt dargestellt, wie sie sein sollte. Er war der Weltverbesserer seiner Zeit. Weshalb sonst schrieb er Gedichte wie "Die Worte des Glaubens" oder einen Aufsatz über die Bühne als Besserungsanstalt? Kennt heute kein Mensch mehr. Würde auch niemand lesen wollen, geschweige denn etwas damit anfangen können. Hier könnte ich auch einen Querverweis zu Kleists "Marionettentheather" anbringen.

Friedrich, die Zeiten, in denen die Worte von der Feder auf Papier und das Blei im Setzkasten Gewicht hatten, sind seit Jahrzehnten vorbei. Einen Lehrer alter Schule wie dich muss das unendlich schmerzen. Finde dich damit ab. Du, ich und noch ein paar alte Knochen hier sind Schuppenwesen, die man einmal in historischer Erweiterung der Kreidezeit anrechnen wird.

Das ist überspitzt, ich weiß. Aber mein Voltaire kommt halt immer wieder aus mir durch und verlangt nach Futter.

Liebe Grüße. Und den Optimismus nicht verlieren.

Ilka
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Alt 15.03.2023, 12:24   #9
Friedrich
 
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Liebe Ilka-Maria,

Du hast ja so recht und dennoch ... wollen wir "alte Knochen" von Schulmeistern so ganz den Gedanken an Erziehung aufgeben? Wollen wir darauf verzichten, Schiller, Shakespeare oder auch George Orwell zu lesen? Letzterer mit dem Gedanken, daß der "Last Man of Europe" (so der ursprünglich gedachte Titel von 1984) die gute Alternative zur stalinistisch geprägten Gesellschaft von Oceania ist? Gut, am Ende unterliegt Winston Smith aber für den Leser - auch Schüler - bleibt sein Beispiel doch bestehen.

Wie ich schon in der Interpretation beschrieb, hat Schiller die Geschichte von Damon und dem Tyrannen nicht erfunden, sondern nur neu bearbeitet. Der wesentliche Unterschied zum Originaltext ist, daß bei Mythographus die Bekehrung des Tyrannen sich "zufällig" ereignet, während sie bei Schiller beabsichtigt ist. (Deshalb ist die Stelle mit Philostratus auch so wichtig).
Zitat:
Aber mein Voltaire kommt halt immer wieder aus mir durch und verlangt nach Futter.
Da habe ich sogar noch etwas in petto, das ich demnächst hier einstellen werde. Schiller versus Voltaire.

Lieben Gruß

Friedrich
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Alt 15.03.2023, 13:09   #10
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Zitat:
Zitat von Friedrich Beitrag anzeigen
... wollen wir "alte Knochen" von Schulmeistern so ganz den Gedanken an Erziehung aufgeben? Wollen wir darauf verzichten, Schiller, Shakespeare oder auch George Orwell zu lesen?
Ich werde nie auf das Lesen verzichten, mein Wohnzimmer ist vollgestopft mit Büchern, die noch darauf warten, gelesen zu werden. Das ändert aber nichts daran, dass das Bildungsniveau in Deutschland im Keller ist. Lehrer sind mittlerweile verzweifelt, aber ihr mahnendes Rufen wird nicht gehört. An den Unis tummeln sich Studenten, die weder richtig schreiben noch eine einfache Prozentrechnung lösen können. Das ist keine neue Entwicklung, sondern sie fand schleichend statt und ist jetzt das Ergebnis einer fast 60 Jahre langen fatalen Bildungspolitik. In den späten 70er Jahren hatte ich guten Kontakt zu jungen Leuten, die in die Realschule gingen, neunte und zehnte Klasse. Auf meine Frage, was sie in Geschichte durchnähmen, hörte ich immer nur: Nationalsozialismus. Von allem, was davor war, von Charlemagne bis zu Bismack, hatte sie keinen blassen Schimmer. In Litereratur waren sie auch nicht fähig, bestimmte Werke ihrer Epoche zuzuordnen und mit den historischen Ereignissen in Verbindung zu bringen. Die hatten nie den "Meier Helmbrecht", den "Ackermann aus Böhmen" oder den "Schimmelreiter" gelesen, um nur drei Beispiele zu nennen. Gedichte wurden ohnehin nicht mehr auswendig gelernt, das konnte man diesen Schülern und Schülerinnen nicht mehr zumuten.

2013 erschien in der FAZ der Leserbrief eines Professors, der eine Latte an Beispielen falsch geschriebener Wörter präsentierte, bei denen man lange nachdenken musste, was sie bedeuten sollten. Seiner Aussage nach brauchte er bei den Arbeiten seiner Studenten deshalb unendlich viel Zeit, um herauszufinden, was sie ausdrücken wollten. Er hätte genausogut die Hieroglyphen lesen wollen. Wen es interessiert: Ich habe den Leserbrief noch.

Mein Sohn erzählt mir von seiner Arbeitsstelle, dass er ständig darum gebeten wird, von Kollegen mit abgeschlossenem Studium beim Ausrechnen simpelster Dreisatzrechnungen zu helfen, die freimütig zugeben, dass sie es nicht können. Das ist ihnen nicht einmal peinlich. Wie die Anforderungen am Gymnsasium sind, hat Josef Kraus, ehemaliger Schuldirektor, in einem Vortrag präsentiert. Wenn man ihm zuhört, wird einem um die Zukunft unseres Landes himmelangst. Übertreibt er vielleicht? Das kann ich nur hoffen.

Glaubst du ernsthaft, dass heute ein Schüler noch Goethe, Schiller, Orwell, Kleist (ein Meister des Ausdrucks!), Büchner oder andere Klassiker liest? Die interessieren sich nicht einmal für moderne Literatur. Als ich im Büro einen Roman von Houellebecq liegen hatte ("Elementarteilchen", damals meine S-Bahn-Literatur), bemerkte eine Rechtsanwältin: "Das ist das Buch, von dem jeder spricht, das aber keiner gelesen hat." No further comment.
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