Der Kuss

[Ilka-Maria]

"Mein Alter ist ein Scheusal."

Leo und ich hatten uns erst vor kurzem kennengelernt, aber er schien zu mir bereits genug Vertrauen zu haben, um mir seine Kümmernisse mitzuteilen. Sie drehten sich fast alle um das Verhältnis zu seinem Vater.

"Ich hatte Zeitungen ausgetragen, um Geld für eine Hose zu verdienen, wie alle sie damals trugen. So eine, die unten weit war …"

"Eine Schlaghose."

"Das gefiel ihm nicht. Er wollte nicht, dass ich in dieser Hose in seinem Schuhladen auftauchte und seine 'gediegene' Kundschaft verschreckte. 'Was hat der denn für einen Sohn?', hätten die alten Weiber gefragt, die eigens zu ihm kamen, weil er für sie sogenannte 'Bequemschuhe' für ihre verkrüppelten Füße verkaufte. Zum dreifachen Preis der schicken Italiener."

"Das hätte ihm doch egal sein können, solange er eine Nische ausfüllte und sich dieser verkrüppelten Füße sicher sein konnte."

"Von wegen! Es kam ihm sehr darauf an, was die Leute dachten. Deswegen nahm er sich immer viel Zeit für die Beratung, und wenn die Kundinnen gingen, machte er ihnen die Tür auf und verbeugte sich beim Abschiedsgruß. Er kroch ihnen in den Arsch."

"Na und? Das gehörte zum Geschäft."

"Aber nicht zum Geschäft gehörte, dass dieser Typ, der sich mein Vater nennt, meine Hose aus der Wäsche nahm, sie zerschnitt und die Fetzen in den Mülleimer warf. Meiner Mutter kamen die Tränen, und da herrschte er sie an, sie sei eine blöde Kuh und habe ihre Söhne nicht im Griff. Dabei habe ich dem Alten die Buchhaltung gemacht, weil er selbst dazu nicht fähig war."

Leo machte eine Pause. "Achim, mein Bruder, war schlauer als ich. Oder aufmüpfiger. Wenn der Alte ihn verdonnern wollte, die Reklamationspäckchen und die Korrespondenz zur Post zu bringen, ging er keine Diskussionen ein, sondern nahm stillschweigend den Kram, warf ihn in den Hof und verschwand bis nach Mitternacht, als der Alte schon seine tägliche Flasche Sekt intus hatte und selig in seinem Bett schnarchte und furzte."

"Und dann? Wer brachte den 'Kram' zur Post?"

"Na, ich Trottel. Am nächsten Tag."

Wie sich im weiteren Gespräch mit Leo herausstellte, nennt der "Alte" seine Söhne nicht beim Namen. Er spricht sie mit "Sohn" an, und wenn er sie nicht anspricht, sondern über sie spricht, sagt er "Sohn eins" und "Sohn zwei".

Seine beiden Söhne waren für ihn nicht Kinder, sondern Ausgeburten. Unfälle. Störfaktoren. Und Konkurrenz. Dessen wurde ich gewiss, als wir den Sechzigsten des Alten feierten und er, angetrunken, mich in den Arm nahm und küsste. Es war ein Zungenkuss, der an Verlangen nichts offen ließ. Er gönnte mich Leo nicht. Er war der Boss.

Es war ein Kuss, der mich erregte. Ein Kuss, der mich verwirrte, weil er erotischer war als alle Küsse, die ich bis dahin erfahren hatte. Ich fühlte mich begehrt wie nie zuvor.

Es war eine Botschaft, die ich dem Schredder meines Gehirns anheim gab. Es durfte nicht sein, denn ich hatte Prinzipien und war sehr treu. Was für ein Fehler! Nichts habe ich mehr bereut, als mich auf eine Affäre mit dem Alten nicht eingelassen zu haben. Mit allen Konsequenzen.

Wer schreibt gerne die verpassten Gelegenheiten in sein Tagebuch?

Als Leo mich mit seinen Kümmernissen bis zum Rand zugemüllt hatte, machte er einen Deckel drauf und suchte sich eine neue Abfalltonne.