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Alt 03.06.2023, 16:00   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Das Ende der Niedlichkeit

Melchior lief der Schweiß von der Stirn und tropfte ihm auf Nase und Kinn. Er hielt einen Moment mit dem Mähen inne und schaute zum Himmel, der in wolkenlosem Aquamarin strahlte wie frischgewaschenes Tuch. Die Sonne näherte sich dem Zenit und brannte erbarmungslos auf die Erde herab. Melchior schob seinen Strohhut etwas höher, fuchtelte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Zum fünften Mal, seit er mit dem Mähen begonnen hatte.

Zeit für die Vesper, aber Melchior wollte erst ins Brot beißen und seinen Rotwein trinken, wenn die Wiese restlos abgemäht war. Er beklagte sich nicht über diese Plackerei. Er fand, dass sie seinen Tieren, den Milchkühen Betty und Klara und dem Ziehochsen Jockel, angemessen war. Nicht, dass Melchior so weit gegangen wäre, eine emotionale Bindung zu seinem Vieh aufzubauen, denn er wusste um den Weg, der den Kühen und dem Ochsen vorgezeichnet war. Aber er sah sich dafür verantwortlich, dass es ihnen zu Lebzeiten gut ging und sie das beste Futter bekamen, das er ihnen bieten konnte.

Nach einer Verschnaufpause schwang Melchior wieder die Sense. Die andere Bauern lachten ihn aus, dass er noch immer nach althergebrachter Methode mähte. Sie fuhren auf Traktoren, die Geräte zogen und in null-komma-nix Wiesen und Getreidefelder abmähten.

Doch Melchior war schon zu alt gewesen, als er Hof und Land erbte, um sich mit Getreide und technischen Bewirtschaftungsmöglichkeiten befassen zu wollen. Sein Grundsatz war, niemals Schulden zu machen, doch ohne einen Kredit hätte er die Anschaffung eines modernen Großgeräts finanziell nicht stemmen können. Deshalb hatte er die Weizenfelder seiner Vorfahren verkauft und nur das Vieh, ein paar Hennen, den Hahn Cicero und die Blumenwiese behalten. Den Ertrag der Milchkühe verkaufte er einer Genossenschaft, den sanften Jockel lieh er gegen Gebühr aus, gerne für den lukrativen Einsatz zum Pfingstfest, und die Hühnereier bekam Hilde, Melchiors Frau, auf dem Wochenmarkt los. Mit diesen Erlösen kam das Ehepaar einigermaßen über die Runden.

Während Melchior vor Hitze und Anstrengung weiterschwitzte und darüber sinnierte, welch ein Glück er hatte, mit fast siebzig Jahren noch fit und gesund zu sein und seinem stabilen Rücken Schwerarbeit zumuten zu können, sah er etwa Braunes im Gras sitzen, umrahmt von gelben, weißen, blauen und roten Blumen, an deren Blütenkelchen Bienen und Hummeln ihren Daseinszweck erfüllten.

Ein Kitz. "Großer Gott!" Melchior ließ die Sense sinken. "Fast hätte ich dir den Kopf abgesäbelt, du kleines Ding." Er schaute sich um, aber weit und breit konnte er keine Ricke sehen, auch trotz angestrengten Lauschens keinen Lockruf an das Kitz vernehmen. Ratlos fasste er sich ans Kinn. "Hm … was mache ich jetzt mit dir?"

Er wusste, dass man ein Kitz nicht anfassen durfte, weil es dann den Geruch des Menschen annahm und von der Mutter nicht mehr angenommen wurde. Also versuchte er, das Tier mit Gebrüll aufzuscheuchen und zu vertreiben. Aber es blieb sitzen und rührte sich nicht. "Du sturer Bock!", schrie Melchior das Rehlein an, ließ die Schultern sinken, wischte sich ein letztes Mal den Schweiß von der Stirn und wandte sich dem Rucksack zu, den er auf der verwitterten Holzbank am Rand der Wiese deponiert hatte und der seinen Proviant enthielt: zwei halbe, mit Schinken und Käse belegte Doppellagen Roggenbrot und eine halbvolle Flasche Rotwein.

Während er aß und trank, behielt er die Stelle im Blick, an der das Kitz sich verbarg. Er gönnte sich mehr als eine halbe Stunde für seine Brotzeit in der stillen Hoffnung, die Ricke möge auftauchen und ihr Kitz in ihren Schutz zurückrufen. Doch nichts geschah. Resigniert stopfte er seine Brotschatulle und die leere Weinflasche in den Rucksack, schnürte ihn zu, griff nach der Sense und setzte seine Arbeit fort. Er hatte nur noch den schmalen Streifen der Wiese zu mähen, in dem das Kitz saß, und in kleinen, vorsichtigen Bögen schnitt er die restlichen Halme rund um das Versteck. "Feierabend", nickte er dem Kitz zu, als meine er die Aufforderung, sich endlich zu erheben und zur Mutter zu laufen. So wie er jetzt zu Hause von Hilde mit gedecktem Tisch zu Kaffee und Kuchen erwartet wurde. Doch das Kitz saß da wie versteinert, mit nach innen gerichtetem Blick und für den Umgang mit der Welt noch nicht fertig. Seine Schönheit rührte Melchior zu Herzen. "Du niedliches Ding. Ich kann dich doch hier nicht allein lassen." Also setzte er sich wieder auf die alte Holzbank und harrte der Dinge, die geschehen mochten - oder auch nicht.

Er musste eingedöst sein, denn als er zu sich kam, waren die Schatten lang geworden. Ein Motorengeräusch hatte ihn aufgeschreckt. Auf dem Feldweg zur Wiese hielt ein Auto, aus dem eine Mann ausstieg. "Was zum Teufel!" Melchior stand auf und wappnete sich zu einem Disput, denn Autos hatten hier nichts zu suchen. Der Mann kam schnurstracks auf ihn zu. Er winkte ihm und rief: "Opa, gottseidank! Ist alles in Ordnung?"

"Ach, du bist's", erwiderte Melchior und ließ sich von seinem Enkel umarmen. "Wieso bist du hier?"

"Oma hat mich geschickt. Du bist nicht nach Hause gekommen, und da hat sie sich Sorgen gemacht und mir den Kopf heißgeredet, nach dir zu sehen."

"Typisch Hilde. Immer gleich das Schlimmste vermuten."

"Nee, nee, nee, Opa. Bei dieser Hitze muss man sich Sorgen machen, sie bringt einen um. Und wo du außerdem immer zu Fuß die Straße entlang gehst."

"Ach, das laufe ich doch in zwanzig Minuten. Und seit meiner Kindheit."

"Passieren kann aber immer etwas. Als ich herkam, lag ein Reh am Straßenrand. Muss von einem Auto erwischt worden sein. So etwas kann auch einem Menschen passieren."

"Ein Reh?" Melchior zeigte auf die runde Stelle auf seiner Wiese, wo die Halme noch hoch standen. "Komm mit, Udo, ich will dir was zeigen." Sie gingen zu dem Büschel, und mit Bedacht, das Kitz nicht zu berühren, drückte Melchior das Gras auseinander. "Heiliger Bimbam!", entfuhr es Udo. "Deswegen bist du auf der Wiese geblieben?" Melchior nickte. "Ich musste auf seine Mutter warten. Aber sie kam nicht. Sie konnte nicht kommen."

"Und jetzt?"

Melchior bückte sich, hob das wehrlose Kitz aus dem Gras und wiegte es auf seinen Arm. "Ich nehme es mit. Es wird uns schlaflose Nächte kosten, aber es braucht Nahrung und Wasser. Dringend."

"Dieses Böckchen ist kein Haustier. Es wird dir den Hof auseinandernehmen."

"Ich weiß. Trotzdem. Das Böckchen war vor den Haustieren da. Sein Recht auf Leben ist nicht verwirkt, weil es weder Milch noch Fleisch gibt."

"Milch nicht. Aber irgendwann Fleisch."

Udo hatte recht.

03.06.2023
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Workshop "Kreatives Schreiben":
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