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Alt 31.05.2023, 10:22   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Das Fenster (anno 1978)

Ich nahm den Telefonhörer auf. Claudia. Ihre Stimme schwappte über. "Gabor ist tot."

Sie atmete schwer. Ich wusste, wer Gabor war – oder gewesen war -, konnte aber nicht sogleich die Dimension des Dramas erkennen, die Claudias Nachricht enthalten sollte. Längst war ich aus dem Unternehmen raus, hatte eine andere Stelle, und Claudia war die einzige Freundin, dich mich noch mit jenen Tagen, in denen wir ein Büro teilten, verband. Wir hielten Kontakt, telefonierten oft und trafen uns regelmäßig in der Stadt zum Klamottenkaufen und Kaffeetrinken.

"Was ist passiert?"

"Er hat sich aus dem Fenster gestürzt. Sagen sie."

"Was? Warum?" Eine geistreichere Reaktion fiel mir in diesem Augenblick nicht ein. Gabor, ein Deutscher ungarischer Herkunft, hatte auf mich einen ausgeglichenen Eindruck gemacht. Er war um die Vierzig, hatte keine familiären Verpflichtungen und schien mit seiner beruflichen Aufgabe als Techniker ausgefüllt zu sein. Das Unternehmen handelte mit medizinischen Messgeräten, die aus den U.S.A. importiert wurden, wozu der Nachweis erbracht werden musste, dass vergleichbare Geräte nirgendwo in Deutschland oder dessen Nachbarländern hergestellt wurden. Gabor erledigte den Papierkram mit den Behörden und testete die gelieferten Geräte auf ihre Funktionsfähigkeit, ehe die Kliniken sie bekamen.

"Niemand weiß, warum", erwiderte Claudia. "Alle reden von Selbstmord. Aber die Sache ist irgendwie seltsam."

"Wie 'irgendwie'?"

"Also … es war ungefähr halbacht, als ihn ein paar Leute aus dem Badezimmerfenster stürzen sahen. Er muss gerade seine Morgentoilette gemacht haben, denn er trug nur eine Unterhose. Seine Haare waren noch nass. Und auf seiner Haut fanden sich Reste von Body-Lotion."

"Woher weißt du das?"

"Seine Freundin hat es uns erzählt. Steht alles im Polizei-Protokoll."

Das hörte sich wirklich seltsam an. Wer, zur Hölle, legt Wert darauf, sich zu duschen, seine Haare zu waschen und Body-Lotion aufzulegen, wenn er die Absicht hat, wenige Minuten später Suizid zu begehen? Und ausgerechnet aus dem Badezimmerfenster zu springen, was sich nach einem spontanen Entschluss anhörte. Gabors Wohnung lag im neunten Stock, eine todsichere Sache.

"Hat jemand eine Vermutung, was sein Motiv hätte sein können?"

"Niemand. Nicht einmal seine Freundin. Sie war am Abend vor seinem Tod mit ihm zusammen, und er war gutgelaunt wie immer. Die Polizei war auch bei uns im Büro, aber keiner der Kollegen hatte eine Idee, auch der Jochen nicht, der mit Gabor eng befreundet war. Wir sind alle völlig neben uns, dass … Ich meine, er war noch so jung."

Meine Gedanken überschlugen sich. "Hat ihn jemand während des Sturzes schreien gehört?"

Claudia schien meine Frage verblüfft zu haben. "Was … wieso …? Keine Ahnung. Was meinst du damit?"

"Es ist ein Unterschied, ob jemand überraschend stürzt und dem Tod ins Gesicht sieht, oder ob jemand sich den Tod herbeiwünscht. Kommt er unerwartet, schreit man seine Angst heraus. Wählt man ihn freiwillig, ist es eine stille Angelegenheit."

"Du meinst, er könnte aus dem Fenster gestoßen worden sein?"

Aber von wem? Ich war mir sicher, dass diese Frage Claudia und mir gleichzeitig in den Kopf schoss. "Erzählte Gabor nicht zuweilen von seinen Ost-West-Verbindungen? Wie man, wenn man die richtigen Spediteure kannte, über die Grenze der DDR auf gewissen Umwegen und mit gefälschten Papieren Waren schmuggeln konnte? Ist seine Freundin nicht Österreicherin, die aus der Stadt stammt, die als Tummelplatz für Agenten bekannt ist?"

"Du glaubst doch nicht, dass …."

"Er schien immer viel auf Achse gewesen zu sein, auch wenn er nur in Andeutungen darüber sprach."

"Schon. Aber das hatten wir immer als Wichtigtuerei aufgefasst. Da kam ja nichts Konkretes von ihm. Und sonderlich reich schien er durch krumme Geschichten auch nicht geworden zu sein. Warum sonst wohnte er im Hochhaus eines Wohnparks, der als schmuddeliger Brennpunkt gilt?"

"Vielleicht, weil er dort relativ anonym bleiben konnte. Als Techniker war sein Einkommen hoch genug, um sich etwas Besseres leisten zu können."

"Hm … reine Spekulation. Vielleicht wollte er sein Geld lieber für andere Sachen ausgeben. Nicht jeder Mensch legt Wert auf Wohnkultur."

"Trotzdem hätte man das der Polizei mitteilen müssen. Habt ihr?"

"Ist doch albern. Und außerdem ist das Politik. Damit will ich nichts zu tun haben."

"Das ist keine Politik, sondern das sind Machenschaften."

Plötzlich hatte Claudia es eilig, das Gespräch zu beenden. "Himmel, ich muss an den Herd, sonst verkochen mir die Kartoffeln! Ich ruf dich wieder an, wenn es etwas Neues gibt."

Es gab nichts Neues. Wie Gabors Freundin mitteilte, gab der Gerichtsmediziner den Leichnam zur Beerdigung frei, da eine Fremdeinwirkung für die Todesursache nicht mit Sicherheit festgestellt werden konnte. An Gabors Körper fanden sich keinerlei Merkmale, die nicht auf die Verletzungen durch den Sturz zurückzuführen gewesen wären. Da die Spurenfahnder in der Wohnung keine Hinweise für die Anwesenheit anderer Personen als Gabor gefunden hatten, schlossen die Ermittler die Akte mit dem Ergebnis, es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit von Suizid auszugehen, Motiv unbekannt. Unfall jedoch nicht ausgeschlossen.
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