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Alt 30.04.2023, 09:47   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Kochlöffel

Ein Kochlöffel bezieht seine Daseinsberechtigung nicht allein daraus, im Eintopf zu rühren. Er ist ein Züchtigungsinstrument. Zumindest war er das in meiner Kindheit.

Ich war schon eine Weile draußen, in unserem Hof, und dabei, die Welt zu entdecken. "Komm rauf!" Ich schaute zum Küchenfenster hinauf, aus dem sich meine Mutter beugte, und schüttelte den Kopf. Ich war noch zu beschäftigt mit den Ameisengängen und dem geschäftigen Treiben dieser Krabbeltiere, die ich nach dem Aufheben eines Backsteins entdeckt hatte. Meine wissenschaftlichen Beobachten waren wichtiger als der Befehl meiner Mutter.

"Komm sofort rauf! Sonst …"

Dieses "sonst" löste in mir Alarm aus. Ich schaute wieder zum Küchenfenster hinauf, und da wedelte mir der von Mutter handgeführte und sinnentfremdete Kochlöffel entgegen. Mein Kopf ersetzte den Rest der Drohung: "Sonst setzt es was!"

Ich ließ die Ameisen sein und wetzte los, hinein in den Hauseingang und die Treppen hoch. In der Wohnungstür stand Mutter, den Kochlöffel in erhobener Hand. Ich schloss die Augen.

Aber sie schlug nicht zu, sondern begann zu schimpfen: "Du hast nicht den Kopf zu schütteln, sondern zu gehorchen. Was sollen die Nachbarn sonst von uns denken?"

Wieder dieses "sonst". Ich nahm ihren Tadel entgegen, ohne ihn zu verstehen. Was ich verstand, war, dass alle Nachbarn böse waren und man sich vor ihnen keine Blöße geben durfte. Erst als ich den Kinderschuhen entwachsen war, wurde mir klar, was meine Mutter umtrieb. Ein "Flüchtlingsmensch" wie sie war im Westen nicht willkommen. Wer aus Pommern stammte, musste "Gesocks" sein. Mutter stand unter permanenter Beobachtung und Bewertung, was sie nicht an ich abtropfen lassen konnte. Sie erwies sich als tüchtig und zuverlässig, reichte immer den Waschküchenschlüssel pünktlich weiter und wienerte die Holzstufen im Treppenhaus. Trotz unserer bescheidenen finanziellen Mittel war sie immer adrett gekleidet. Aber die Nachbarn zerrissen sich wegen ihr trotzdem das Maul: "Die Madam da oben … Die glaubt, etwas Besseres zu sein … trägt die Nase hoch … und wie die spricht …"

Mutter achtete streng darauf, dass ich mir das Hessische nicht zur Gewohnheit machte. Ich hätte auf Südhessisch babbele können, wie auch Mutter auf Pommersch, aber das hätten die Hinterhofweiber in ihren geblümten Kitteln nicht verstanden. Schuldeutsch blieb ihnen allerdings auch in der Kehle stecken.

Mutter konnte machen, was sie wollte, sie war und blieb ein "Misfit". Was sie brauchte, war die Loyalität ihrer Familie. Und wer dazu den Kopf schüttelte, dem wedelte der Kochlöffel.
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Workshop "Kreatives Schreiben":
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