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24.05.2017, 11:22 | #1 |
Dabei seit: 05/2017
Ort: FFM
Beiträge: 1
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Neunzehneinhalb Minuten
Mein erster Beitrag hier ist eine Geschichte, die ich vor ein paar Jahren geschrieben habe. Ich habe sie bewusst nicht überarbeitet, obwohl mir ein paar stilistische und stimmungsbedingte (kann man dem so sagen?) Änderungen förmlich unter den Nägeln brennen. Aber vielleicht kann ich ja so in Zukunft eine Verbesserung meines Schreibstils ausmachen...
„Was tue ich hier eigentlich?“ fragte er sich zum wiederholten Male während er seinen Blick zwanglos durch den Raum schweifen ließ. Er nahm einen Schluck des dampfenden Cappuccinos und zählte innerlich bis fünf bevor er diesen schluckte. Ihn schauderte. Erneut ärgerte er sich darüber, dass er, entgegen seiner jahrelangen Gewohnheit, einen Kaffee bestellt hatte. Normalerweise trank er nur Tee. Schwarz: Ohne Milch. Ohne Zucker. Vier Mal täglich kochte er drei gefüllte Löffel des traditionellen Ceylon Tees auf, ließ ihn exakt vier Minuten stehen und benötigte dann weitere vier Minuten um eine mittelgroße Tasse mit dem heißen Tee zu leeren. Er mochte das Gefühl wenn es seine brennende Fährte durch Hals und Brust in Richtung Magen legte. Kaffee trank er nur wenn es sich nicht vermeiden ließ. Und trotzdem saß er nun schon zum siebten Mal in diesem Lokal, das er eigentlich gar nicht mochte und trank Kaffee, den er noch weniger mochte. Sieben Mal. Sieben Donnerstage. Sieben Wochen. Sie war sich sehr wohl bewusst, dass sie sich nicht beklagen durfte. Genau darum tat sie es auch nur in Gedanken. Gedanken, die sie niemals würde auszusprechen wagen. Sie wusste, dass der Großteil der Menschen um sie herum, sofort mit diesem, ihrem, ruhigen und ausgeglichenen Leben getauscht hätten. Ja,“ ruhig und ausgeglichen“, genau so hätten es die meisten Menschen genannt. Sie selbst nannte es langweilig. Extrem langweilig. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als etwas Drama und Spannung in ihrem Leben, etwas das wissen liess, dass sie am Leben war. Streit mit dem Chef, den Eltern oder einem Partner, zum Beispiel. Wenn sie dann, schlaflos und übernächtigt, bei der Arbeit erscheinen würde und ihre Arbeitskollegen besorgt fragen würden ob es ihr nicht gut gehe, könnte sie dramatisch aufseufzen und „Ach, es geht schon irgendwie!“ sagen während sie von allen Seiten aufmunternde „Du arme! Das kommt schon wieder!“ – Worte bekäme. Aber so war ihr Leben nicht. So war sie nicht. Keine Dramaqueen, keine Spannungen; nur ein ruhiges, ausgeglichenes, liebenswert langweiliges Mädchen. Sie sah sich in dem gemütlichen Café um. Seit Wochen kam sie nun schon hierhin. Sie mochte die Atmosphäre. Mochte die in warmen Tönen gehaltenen Wände und die fröhlich wirkenden Bilder daran. Sie mochte die Musik - der leichte Jazz, der sie jedes Mal in eine andere Welt zu versetzen schien. Allem voran mochte sie aber die verschiedenen Leute, die sich hier jeweils trafen und deren Leben sie sich auszumalen liebte. Die hübsch angezogenen jungen Mädchen zum Beispiel, die sie in letzter Zeit öfters gesehen hatte. Sie stellte sich vor, wie sie sich über Jungs unterhielten, über den Sportlehrer, in den sie sich unsterblich verliebt hatten oder den französischsprachigen Austauschschüler. Sie lächelte. Resigniert betrachtete er die Wand ihm gegenüber, die mit erdigen Rot – und Brauntönen verzweifelt versuchte, den Eindruck von Gemütlichkeit zu erzeugen. Er zählte 13 kitschige, in sepia und schwarz-weiß gehaltene Fotos daran und überschlug kurz im Kopf wie lange es gedauert haben musste, die Bilder an die Wand zu hängen. Er beschloss, dass er die Bilder nicht mochte. Er mochte auch die großen Sessel nicht, da sie ihm abgewetzt und altmodisch erschienen. Er mochte das Geschirr nicht weil es im krassen Gegensatz zu dem Mobiliar zu modern wirkte. Er mochte die langweilige Aussicht auf den Stadtpark nicht. Am allerwenigsten mochte er jedoch die Menschen, die in dem Raum saßen. Das etwas zu offensichtlich verliebte Pärchen, das Kaffee und Gebäck unangetastet auf dem Tisch stehen ließ, da sie sowieso nur Augen füreinander hatten. Die laut tratschenden Hausfrauen, die sich unpassenderweise über viel zu private Dinge in der Öffentlichkeit unterhielten. Das langweilige alte Ehepaar, das sich über koffeinfreiem Milchkaffee und einem Stück Schwarzwälder Torte anschwieg. Er mochte sie alle nicht. Je länger er sie beobachtete, desto schlimmer erschien es ihm, dass er unter ihnen sitzen musste. Sie gehörten und passten nicht in seine Welt, eine Welt, die er sich über die Jahre fein säuberlich zusammengebastelt hatte. Eine Welt, die nur aus ihm und seinen Zahlen bestand. Er mochte Zahlen. Sie waren weder laut noch unanständig, sie blieben, was sie waren. Zahlen gaben ihm Sicherheit. „Nur einmal im Leben!“, dachte sie „Nur einmal im Leben möchte ich schön sein. Atemberaubend schön. Und intelligent. Und interessant. Einmal im Leben möchte ich, dass ein attraktiver Mann den Raum betritt, mich ansieht und sich vor lauter Faszination nicht mehr von mir losreißen kann.“ Seufzend führte sie ihre Tasse zum Mund, blies kurz über den flockigen Schaum ihres Cappuccinos und nahm mit beinahe geschlossenen Augen einen kleinen Schluck davon. Sie mochte das Gefühl, wenn der heiße Kaffee durch ihre Speiseröhre in den Magen floss - mochte das leichte Brennen im Hals und in der Brust. Sie machte sich keine Illusionen was ihr Aussehen betraf, niemals würde ihr Traumprinz sie einfach so ansprechen. Nein, sie müsste zu anderen Mitteln greifen. Sie kramte in ihrer zu großen Tasche, die sie neben sich auf dem Boden stehen hatte und fand schließlich das Buch, das sie soeben gekauft hatte. Natürlich würde sie nicht darin lesen, ebenso wenig wie in der Tageszeitung, die sie sich beim Eingang vom Tisch genommen hatte. Sie redete sich allerdings ein, dass sie beides etwas intelligenter würde wirken lassen, als sie in Wirklichkeit war. Intelligenter und interessanter. Sie stellte sich gerne vor, wie eines Tages ein junger Mann das Café betreten und sehen würde was sie las; wie er sich schüchtern auf den Platz ihr gegenüber setzen und ihr schließlich sagen würde, dass er das Buch toll fände. Sie würden einen weiteren Cappuccino bestellen und sich über Literatur und Politik und Kunst und andere Dinge unterhalten, von denen sie keine Ahnung hatte, bis eine der äußerst netten Angestellten vorbeikommen würde um sie zu informieren, dass das Lokal gleich schließe. Sie würden gemeinsam durch die Tür in die eisige Kälte der Nacht treten, sich vielleicht mit drei Küsschen verabschieden und sich am Tag darauf wiedersehen und am Tag darauf und an fast allen Tagen, die folgen würden. Lautes Gelächter riss ihn aus seinen Gedanken; irritiert blickte er auf. Sechs junge Mädchen hatten sich an einen Tisch ganz in der Nähe gesetzt. Sie alle trugen zu kurze Röcke und waren für ihr Alter zu grell geschminkt. Zwar konnte er nicht genau einschätzen, wie alt sie sein mochten aber er wusste, hätte er eine Tochter gehabt, er hätte ihr nie erlaubt, das Haus so zu verlassen. Kopfschüttelnd nahm einen weiteren Schluck von seinem Kaffee und versuchte, die immer grässlicher werdende Musik zu ignorieren. Es war nicht so, dass er außerordentlich asozial gewesen wäre. Alle 10 Wochen trank er mit seinen Arbeitskollegen ein Feierabendbier, alle 14 Wochen lud er seine Eltern und seine Geschwister zum Italiener um die Ecke ein und alle 16 Wochen traf er sich mit seiner besten – und einzigen – Freundin auf einen Tee. Dem Feierabendbier und dem Tee-Trinken räumte er jeweils genau 40 Minuten ein während die Sache mit seinen Eltern meist etwas länger dauerte und die Zeitplanung schwierig war, wollten sie doch alles Mögliche aus seinem Leben wissen und löcherten ihn so lange mit Fragen bis er klein beigeben musste. Und jetzt musste er seit sieben Wochen dem Besuch dieses außerordentlich schäbigen Cafés wöchentlich weitere 20 Minuten einräumen. Denn vor exakt sieben Wochen um 14.00 Uhr hatte er hier vergeblich auf seine gute Freundin gewartet. 20 Minuten lang. Zuerst hatte er sich grün und blau geärgert, hatte seine Freundin innerlich aufs wüsteste beleidigt und sich geschworen, sich nie mehr mit ihr zu treffen – mit ihr ebenso wenig wie mit allen anderen Frauen dieser Welt. Schon viel zu viel Zeit hatte er damit verbraucht, sich zu überlegen, was er tun könnte um interessanter zu wirken. Er hatte nächtelang wachgelegen, hatte gegrübelt und überlegt und sogar heimlich Frauenzeitschriften gelesen. Doch damit hatte er nun endgültig abgeschlossen. Jetzt, wo sogar seine einzige weibliche Freundin ihn sitzen gelassen hatte – in diesem heruntergekommenen Lokal. Sie ließ ihren Blick ein wenig durch den Raum schweifen. Über das süße ältere Paar, dass sich ein Stück Schwarzwälder Torte teilte. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sich die beiden kennengelernt hatten, wie sie sich verliebt hatten und wie sie auch nach all den Jahren immer noch schätzen, in der Nähe des anderen zu sein. Die Gruppe Hausfrauen, die ihren einzigen freien Nachmittag mit einer guten Tasse Kaffee und Erzählungen aus dem Alltag genossen. Das junge Pärchen, das vom Blick in die Augen des Gegenübers soweit leben konnte, dass Kaffee und Kuchen überflüssig wurden. Allen voran aber faszinierte sie der etwas griesgrämig blickende Mann an dem kleinen Tisch links von ihr. Schon öfters hatte sie ihn hier gesehen. Immer Donnerstagnachmittags. Er war ihr gleich aufgefallen, als er vor sieben Wochen das erste Mal den Raum betreten hatte. Damals hatte er offensichtlich auf jemanden gewartet, der nicht aufgetaucht war. Ein Blind Date vielleicht. Oder die langjährige Freundin. Vielleicht auch der langjährige Freund. Jedenfalls schien er ein interessantes Leben zu führen. Außerdem sah er intelligent aus und etwas traurig, nein, nicht traurig, melancholisch. Je genauer sie ihn betrachtet hatte, desto besser hatte er ihr gefallen. Gerne hätte sie erfahren, warum er so melancholisch war, wer oder was der Grund dafür war. Sie hätte ihn gerne über sein Leben ausgefragt, was er arbeitete, wen er liebte, was sein Lieblingsessen war, ob er gerne in die Oper ging. Sie seufzte. Vor sieben Wochen um 14.08 Uhr hatte er sie das erste Mal gesehen. Tief eingesunken war sie in einem der zerschlissenen, dunkelgrünen Sessel gesessen und hatte ihren Kaffee geschlürft. Er würde nicht so weit gehen, sie als Schönheit zu bezeichnen und doch hatte sie etwas an sich. Ihre langen, blonden, etwas strähnigen Haare, die wachsamen und aufgeweckten blauen Augen und die attraktiven Lachfältchen darum. Er fand, dass ihre beinahe ungeschminkten Augen intelligent wirkten. Intelligent und interessant. Die Augen einer Frau, die er gerne näher kennengelernt hätte, mit der er gerne gesprochen hätte, sie gefragt hätte was sie gerne aß, was ihr Lieblingsbuch sei, ob sie gerne in dir Oper ging. Er hätte gerne mit ihr über das Buch gesprochen, das auf ihrem Schoss lag, so lange bis eine der unfreundlichen Angestellten sie angeschnauzt hätte, dass sie das Lokal verlassen müssten. Natürlich bildete er sich nicht ein, dass sich sie sich darüber gefreut hätte. Eine interessante Frau wie diese würde wohl kaum mit ihm über ihr Buch sprechen wollen. Wahrscheinlich würde sie um des Anstandes willen ein paar nette Worte mit ihm wechseln um nach einer passenden Entschuldigung zu suchen und zu gehen. Und dann würde er sie nie wieder sehen. Schon alleine der Gedanke daran versetzte ihm einen Stich. Er wusste, dass er sich als erwachsener Mann nicht Hals über Kopf in eine Fremde verlieben dürfte, dass dies alle Regeln seiner kleinen, heilen Welt brechen würde. Und trotzdem war es passiert. Er war verliebt. In die Frau am Ecktisch, die Frau mit den interessanten Büchern und den wunderschönen, ungeschminkten Augen. Erneut wünschte sie sich, jemand anderes zu sein. Jemand anderes hätte den Mut gehabt ihn anzulächeln. Vielleicht würde er zurücklächeln. Der Mann mit der aufkeimenden Lebensfreude in den Augen. Sie wünschte sich, sie könnte der Grund für diese Lebensfreude sein. Sie wünschte sich, sie könnte ihn mit ihren Augen dazu auffordern, sich zu ihr zu setzen. Sie wünschte sich, er würde es tun: würde sich ihr gegenübersetzen und ihr etwas aus seinem Leben erzählen. Bestimmt hatte er schon viel erlebt, war viel gereist und hatte manches Abenteuer überstanden. Ganz egal was, sie wollte alles wissen. Schüchtern blickte sie auf – und ihm direkt in die Augen. Sofort wandte sie den Blick ab; wie hatte sie nur jemals so etwas Absurdes denken können? Wieso sollte sie ihn auch anlächeln wollen? Bevor er das Café damals ein zweites Mal aufgesucht hatte, hatte er lange mit sich gerungen. Eigentlich hatte er den Frauen abgeschworen, hatte sich vorgenommen, niemals mehr länger als ein paar Minuten über eine bestimmte Frau nachzudenken. Sich niemals seinen Gefühlen hinzugeben und sich zu verlieben. Niemals. „20 Minuten“, hatte er gedacht. Ein Drittel eines Eishockeyspiels. Die Länge seiner Nachmittagspause. Die Zeit, die er aufwandte um die Nachrichten zu schauen. Soviel würde er ihr wöchentlich schenken. 20 Minuten und keine Sekunde länger. Hatte sie ihn gerade angesehen? Er hätte schwören können, dass ihre Augen den Bruchteil einer Sekunde zu ihm gesagt haben: Setz dich zu mir! Sprich mit mir! Natürlich würde er es nie tun. Es wagte noch nicht einmal, daran zu denken. Er blickte auf seine Uhr, trank den Rest seins ungeliebten Cappuccinos in einem Zug leer und griff nach seiner alten, abgewetzten Jacke. Sie sah wie er seinen stilvollen Trenchcoat anzog, die Handschuhe aus der Mappe holte und den Hut aufsetzte. In ein paar Sekunden würde er das Café verlassen haben ohne auch nur einen Blick auf sie geworfen zu haben, was natürlich nicht allzu überraschend kam. Trotzdem war sie ein klein wenig enttäuscht, hoffte sie doch jedes Mal, dass ein Wunder geschehen möge. Er benötigte exakt 30 Sekunden um Mantel, Handschuhe und Hut anzuziehen und das Lokal zu verlassen. An diesem Tag sogar etwas weniger und so zeigte seine Uhr immer noch 14.19h als er durch die schwere Glastür in das windige Herbstwetter nach draußen trat. 19einhalb Minuten seiner Zeit hatte er ihr an diesem Tag geschenkt und, entgegen seiner Natur, wünschte er sich plötzlich, es wären mehr gewesen. „Nächste Woche, vielleicht!“, dachte er und musste ein wenig lächeln „Nächste Woche spreche ich sie an.“ |
24.05.2017, 21:40 | #2 |
Hallo nicaeli,
ich bin beeindruckt. Trotz einiger kleiner Längen eine fein skizzierte Momentaufnahme aus zwei verschiedenen Blickwinkeln. Sehr gerne gelesen. LG DieSilbermöwe |
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