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Alt 24.05.2022, 16:36   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Onkel Egon

Wieviel Jahre ist es her, seit Onkel Egon beerdigt wurde und ich während der Trauerfeier Episoden aus seinem Leben erfuhr, die ich bis dahin nicht kannte?

Aber wer kann schon alles aus dem Leben eines Menschen wissen? Onkel Egon wusste, als er alt war, vieles aus seinem eigenen Leben selbst nicht mehr.

In seinen letzten Jahren war er in einem Heim. Dort hatte ich ihn zusammen mit seiner Schwester, meiner Mutter, zweimal besucht. Wir waren mit ihm in das Café gegangen, das dem Heim angeschlossen war, haben dort Kuchen gegessen und von alten Zeiten erzählt. Onkel Egon genoss die Abwechslung, schien aber von allem, was wir erzählten, entrückt zu sein. Er hatte keinen Reim darauf, wer wir waren, und seinen Augen war anzusehen, dass er in seinem Gedächtnis vergeblich nach uns suchte. Einmal blickte er meiner Mutter lange ins Gesicht und sagte: „Du siehst wie meine Schwester aus.“ Sie musste sich beherrschen, nicht in Tränen auszubrechen.

An manche Dinge konnte sich Onkel Egon lebhaft erinnern. In seinem Zimmer hing ein Bild, das ihn beim Fahren in einem Amphibienfahrzeug durch ein Gewässer zeigt. Damals hatte er bei den amerikanischen Besatzern angeheuert und der Familie damit Geld eingebracht. Darauf war er besonders stolz. Er war ein Macher. Morgens früh, wenn die Großteil der Menschheit noch schlief, arbeitete er in einer Bäckerei, tagsüber war er bei den Amis, und nebenbei machte er die Prüfung zum Busfahrer. Die Familie, aus Pommern vertrieben, musste durchkommen, und als Ältester übernahm er die Rolle des Vaters, der als Kriegsgefangener Frankreich festsaß.

Es gibt ein Foto von mir, das mich auf einem Motorrad zeigt. Da war ich drei oder vier Jahre alt. Onkel Egon hatte mich auf den Sattel gesetzt und fotografiert. Das Motorrad gehörte natürlich den Amis.

Als das Wirtschaftswunder Deutschland überrollte, bekam Onkel Egon einen Job beim öffentlichen Verkehr. Er fuhr die Buslinie zwischen Frankfurt und Offenbach. Es war außerdem die Zeit des Poussierens. In der Freizeit trafen sich die jungen Leute am Main oder in den Milchbars (so genannt, weil es dort keinen Alkohol gab), oder sie gingen ins eins der zahlreichen Kinos. Onkel Egon lernte zwei Mädchen kennen, von denen er das eine liebte, aber das andere heiratete, weil es so clever war, ihm eine Schwangerschaft vorzutäuschen.

Die Ehe gründete auf Betrug, aber sie wurde trotzdem glücklich. Sex ist ein Elixier. Das Paar bekam drei Kinder, einen Jungen und zwei Mädchen. Onkel Egon fuhr seinen Linienbus, um seiner Familie die Brötchen zu verdienen, und die Welt schien in Ordnung zu sein. Bis zu dem Tag, an dem er von zwei alten Vetteln der Beleidigung angezeigt wurde. Er war sich den Vorwürfen nicht bewusst, aber da zwei Aussagen gegen eine standen, verknackte ihn der Richter zu drei Monaten Haft auf Bewährung. Doch seine Frau versäumte, den Antrag auf Bewährung fristgerecht einzureichen, und so musste Onkel Egon drei Monate lang hinter Gittern brummen. Das war innerhalb der Familie ein Skandal, denn Onkel Egons jüngerer Bruder wohnte bei ihm, ein jenseits von Gut und Böse angesiedelter und gutaussehender Bursche, den eine erfahrende Frau leicht in die Geheimnisse himmlischer Genüsse einweihen konnte Er musste danach nur die Klappe halten, was er auch tat.

Als Onkel Egon aus dem Knast raus war, sattelte er auf Reisebus um und erzählte seinen Fahrgästen das Blaue vom Himmel. Er bugsierte sie durch ganz Europa, und so erfuhren sie, wie tief der Wolfgangsee war und aus welcher Zeit der spanische Stierkampf stammte. Niemand widersprach, was darauf schließen ließ, dass die Urlauber auf das Ziel ihrer Reise genauso wenig vorbereitet waren wie er selbst, der wahrscheinlich auch einen guten Entertainer für das Fernsehen abgegeben hätte.

Aber er kam immer mit Geschichten nach Hause, die außerordentlich und dennoch wahr waren. Da war zum Beispiel die Fahrt durch ein spanisches Dorf, in dem es einen Stau gab, so dass Onkel Egon mit seinem Bus in einer Straße steckenblieb und der auf einem Fahrrad herbeigeilte Polizist zwar mit herrischem Armwedeln den Stau lösen konnte, dann aber dem Dieb seines Fahrrads hinterher rennen musste. Und da war der voll besetzte Parkplatz eines Hotels in Österreich, so dass Onkel Egon missgelaunt den Bus außerhalb parken musste und seine Touristen ihre Koffer einige hundert Meter weit zu schleppen hatten. Er konnte nicht ahnen, dass zwanzig Minuten nach seiner Ankunft vom nahegelegenen Berg eine Lawine abging, die den gesamten Parkplatz unter Tonnen von Schnee begrub.

In seinen letzten Berufsjahren fuhr Onkel Egon wieder Linie, und nachdem er in Rente gegangen war, zog er mit seiner Frau aufs Land, weil dort die Miete bezahlbar war. Als sie starb – sie fiel nach einer Operation ins Koma und kam nicht mehr zurück – ging es mit ihm bergab. Seine Kinder waren groß, die Enkelkinder gingen ihren Weg, die Amerikaner waren längst abgezogen, und die Touristen reisten nicht mehr mit dem Bus nach Österreich oder Italien, sondern mit dem Flugzeug nach New York, Rio, Mexiko City, Istanbul oder Peking.

Es gab für ihn nichts mehr zu tun.

Morgen jährt sich sein Todestag.
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Alt 24.05.2022, 17:22   #2
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Liebe Ilka-Maria,

der Name Egon zog mich an und das hat einen besonderen Grund. Vielleicht mache ich auch mal eine Geschichte daraus. Jedenfalls gefällt mir deine Geschichte sehr und ich bedaure, dass mir Onkels in meiner Kindheit immer gefehlt haben.

In einem Amphibienfahrzeug saß ich auch schon mal. Das war 2005 in Island.

Und welch ein Glück, dass der Parkplatz in Österreich voll besetzt war, ansonsten… Vielleicht hatte der Onkel seither sein Leben bewusster und dankbarer gelebt?

LG von Inka
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Alt 25.05.2022, 01:46   #3
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Zitat:
Zitat von Inka Beitrag anzeigen
der Name Egon zog mich an und das hat einen besonderen Grund. Vielleicht mache ich auch mal eine Geschichte daraus.
Na klar! In jedem Leben gibt es etwas, das einzigartig und aufregend ist. Diese Geschichten wandern in der Familie als Anekdoten von Mund zu Mund. Also warum sie nicht aufschreiben?
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Alt 25.05.2022, 06:45   #4
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Zitat:
Er hatte keinen Reim darauf, wer wir waren, und seinen Augen war anzusehen, dass er in seinem Gedächtnis vergeblich nach uns suchte
Hallo Ilka,

korrekt müsste es heißen: „Er konnte sich keinen Reim darauf machen".

Zitat:
Das war innerhalb der Familie ein Skandal, denn Onkel Egons jüngerer Bruder wohnte bei ihm, ein jenseits von Gut und Böse angesiedelter und gutaussehender Bursche, den eine erfahrende Frau leicht in die Geheimnisse himmlischer Genüsse einweihen konnte Er musste danach nur die Klappe halten, was er auch tat.
Woher weiß man es dann? :) Irgendwer hat die Klappe also nicht gehalten - oder die Sache ist ein Gerücht.

Insgesamt ist die Geschichte zwar nicht chronologisch erzählt und hüpft hin und her in der Handlung, aber trotz des eigentlich traurigen Anfangs unterhaltsam aufgebaut.

LG DieSilbermöwe
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Alt 25.05.2022, 08:29   #5
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Woher weiß man es dann? Irgendwer hat die Klappe also nicht gehalten - oder die Sache ist ein Gerücht.
Natürlich ist es ein Gerücht. Aber wie entstehen denn Gerüchte? Durch Konstellationen. Wie ist es möglich, einen Antrag "zu vergessen", der dem Ehemann die Haft erspart hätte? Wenn der jüngere und gutaussehende Bruder, noch grün hinter den Ohren, möglicherweise freundlich dazu aufgefordert werden kann, seine Untermeite "in naturalis" abzuleisten? Den Ehemann ohne Not brummen zu lassen, zumal seine Schuld nicht einwandfrei feststeht, ist ein ziemlich dicker Hund, der die Synapsen in den Köpfen der Familie durchaus auf Trab bringen kann.

Völlig klar, dass gemunkelt wird. Setze ein Plus zwischen zwei ausgedachte Zahlen, und du bekommst ein Ergebnis. Ich habe die Geschichte nicht frei erfunden, sondern sie hat einen wahren Hintergrund.
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Alt 25.05.2022, 13:10   #6
weiblich DieSilbermöwe
 
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Zitat:
Ich habe die Geschichte nicht frei erfunden, sondern sie hat einen wahren Hintergrund.
Das spielt für eine Geschichte doch gar keine Rolle.
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