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01.04.2023, 11:24 | #1 |
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Das letzte Eigenheim
Oscar stellte sein Einkaufsnetz ab, fummelte in seiner Sacco-Tasche zwischen Mundschutz und zerknülltem Papiertaschentuch herum und fluchte, als er sein Schlüsselbund hervorzog, das sich in einem der beiden Gummibänder des Mundschutzes verfangen hatte. Er zog an dem Gummiband, bis es riss, suchte den kleinsten Schlüssel heraus und schloss den Briefkasten auf. Außer dem Werbeprospekt einer Bank für günstige Kreditbedingungen fischte er einen gelben Umschlag heraus, auf den der Postbote das Datum des Einwurfs gekritzelt hatte. Das Schreiben kam vom Gericht.
Verwundert riss Oscar den Umschlag auf und überflog den Text. Vor seinen Augen verschwammen Wörter und Satzfetzen wie "Klage" und "… wird Ihnen vorgeworfen …" sowie der Termin zu einer Vorladung zwecks Anhörung. Das letzte Blatt enthielt eine Rechtsbehelfsbelehrung. Oscar, leicht benommen, faltete das Schreiben zusammen, knickte den Umschlag und stopfte beides in seine Sacco-Tasche. Er verstand Bahnhof und musste das ganze erst in Ruhe und mit Aufmerksamkeit lesen. Nicht dass er sich für dumm hielt, aber er hatte noch nie mit der Justiz zu tun gehabt, allenfalls mal einen Bußgeldbescheid für widerrechtliches Parken erhalten, und deshalb befand er sich in diesem Fall auf ungewohntem Terrain. Auch war es sich keiner Tat bewusst, die ihm eine Klage hätte plausibel erscheinen lassen. Zum Glück hatte er sich bei seinem Streifzug durch den Supermarkt dazu entschlossen gehabt, eine Flasche Brandwein in seinen Einkaufswagen zu packen, obwohl er nur selten Alkohol trank. Jetzt kam er ihm recht, denn ein Doppelter sollte seine Nerven beruhigen. Mit einem gut gefüllten Glas setzte er sich an den Küchentisch, zog das Schreiben aus der Sacco-Tasche und las es nochmal ganz von vorn. Als ihm klar wurde, weswegen man in angeklagt hatte, verstand er die Welt nicht mehr. Vor drei Monaten war Klara verstorben, mit der er dreißig Jahre lang glücklich zusammengelebt hatte, bis ein Herzinfarkt sie dahinraffte. Zu früh, zu jung, haderte er angesichts der Tatsache, dass der Mensch unserer Tage locker über achtzig Jahre alt werden kann. Und er haderte, weil er auf einen derartigen Schicksalsschlag nicht vorbereitet gewesen war. Er war ein kleines Licht, ein Lkw-Fahrer für eine Klitsche, die nur Mindestlöhne zahlen konnte, und somit hatte Oscar die Vorsorge für das Rentenalter auf die lange Bank geschoben, wenn nicht gar ignoriert. Kurz gesagt: Der Bestatter, als Erfüllungsgehilfe der Friedhofsverwaltung, des Zimmermanns, Bestatters, Blumenhändlers und Pfarrers, wollte Geld von ihm sehen, das er nicht hatte. Er verpfändete Klaras Familienschmuck und verkaufte die paar Goldmünzen, die ihm seine Eltern hinterlassen hatten. Dazu sein Fahrrad, seine Briefmarkensammlung und einen Satz Bierkrüge aus Zinn, die er von seinen Paten geerbt hatte. Mit Ach und Krach bekam er genügend Geld zusammen, um Klaras Begräbnis bezahlen zu können. Bar auf den Tisch und vom Bestatter quittiert. Jetzt lautete die Begründung für die Anlage sinngemäß: "… darf nach dem neuen Gesetz keine Immobilie mehr bar bezahlt werden, sondern muss die Bezahlung nachweislich über ein Bankkonto erfolgen, ansonsten die Anerkennung des Besitzes – z.B. durch einen Grundbucheintrag – verweigert wird. Zuwiderhandlungen sind strafbewehrt …" usw. usf. Oscar rieb sich die Augen. Eine Immobilie? Ein Grab? Ein Flurstück auf einem Friedhof, nicht mehr als Länge mal Breite eines durchschnittlich großen Menschen? Er rief seinen Schwager an, der – Oscar pries insgeheim seine Schwester Jutta, sich so gut verheiratet zu haben – Rechtsanwalt war. Was, zum Teufel, wollen die von mir, Siggi? Was habe ich falsch gemacht?" "Das Gesetz ist neu, und über seine Konsequenzen bin ich mir auch noch nicht ganz klar. Wie es aussieht, gilt alles, was Grund und Boden ist und was drauf steht, als 'Immobilie'." "Und das heißt?" "Das heißt, dass du nicht einmal ein Rosenbeet, das dein eigen ist, für hundert Euro bar verkaufen dürftest. Du könntest nicht einmal ein völlig wertloses Land, ein Stück Steinwüste, für einen symbolischen Wert von einem Euro bar verkaufen, sondern du müsstest den Betrag per Bank überweisen." "Das ist doch krank!" Siggi lachte spitz. "Na klar ist das krank. Unsere Regierung, die so etwas beschlossen hat, ist ein Sanatorium von Bekloppten, das lauter Bekloppte wie uns bevormundet." "Das Grab meiner Klara ist also, weil sie dort ihre letzte Wohnstätte gefunden hat, sozusagen eine Immobilie, die ich nicht hätte bar bezahlen dürfen?" "Exakt!" "Weil ich mit dem Grab ein Stückchen Land …" "Eine Parzelle in einem Flur, grundrechtlich eingetragen … " "Also ein Fleckchen Erde, um ein paar Knochen eine letzte Wohnstatt zu geben … Und mein Vergehen ist, dafür bar bezahlt zu haben." "Exakt." "Also wird ab Inkrafttreten dieses neuen Gesetzes jeder Bundesbürger, der eine Immobilie wie z.B. ein Flurstück nebst einer letzten Wohnstätte wie einen Sarg in bar bezahlt, von vornherein unlauterer Machenschaften bezichtigt und der Geldwäsche bezichtigt?" "Das wäre harmlos, Oscar. Grundsätzlich wird jeder Bundesbürger ab Inkrafttreten dieses Gesetzes zu einem potentiellen Täter und damit kriminalisiert. Hüte dich künftig vor Bargeldgeschäften! Wer auch nur einen Euro noch in bar umdreht, ist verdächtig!" "Potentiell kriminell?" "Exakt!" "Und keine Proteste?" "Vergiss es!" |
03.04.2023, 10:06 | #2 |
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... herrlich, nirgendwo steht das Wort Bankenverschwörung, Bargeldabschaffung, Komplettüberwachung und trotzdem super auf den Punkt gebracht, gern gelesen.
Ich weiß, dass diese Idee schon lange umher schwirrt. Du schriebest hoffentlich von einer Fiktion, also dieses Gesetz existiert so noch nicht? PS.: Gräber werden aber nur gepachtet, oder? beaux rêves |
03.04.2023, 10:40 | #3 |
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Keine Ahnung, ob das in Pacht geht. Meine Mutter hatte das Grab meines Vaters gekauft, dort ist noch Platz für drei weitere Urnen. Ich müsste mal in die Grab-Urkunde schauen, was genau drinsteht.
Ist aber egal, denn meine Story sollte ohnehin eine Überspitzung sein, deshalb die Idee mit dem Grab als "Immobilie". Das Gesetz gibt es, aber ich weiß nicht, ob es bereits ratifiziert ist. Wer künftig beim Erwerb einer Immobilie bar bezahlt, bekommt keinen Eintrag ins Grundbuch. Das gilt sogar dann, wenn man ein Grundstück mit Bruchbude für den Symbolwert von nur 1 Euro verkauft: Ohne Banknachweis läuft beim Grundbuchamt nichts mehr. Hinrter dem Gesetz steckt aber noch etwas anderes als "nur" eine Maßnahme gegen illegale Geschäfte und Geldwäsche, nämlich die sukzessive Abschaffung des Bargelds. Ich weigere mich, das mitzumachen, fahre immer brav zur Bank und hebe Bargeld ab. Solange ich nicht muss, werde ich den Teufel tun und meine Daten per elektronischer Zahlung preisgeben. |
03.04.2023, 14:11 | #4 |
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... na wunderbar, laut Haufe.de tritt das neue Geldwäschegesetz §59 Abs.11 GWG ab 01.04.2023 in Kraft. Cash, Gold, Krypto und Diamanten werden bei Immobilienerwerb nicht mehr zugelassen, Notar muss prüfen. Wird mich vermutlich nicht betreffen, doch erscheint mir dies wie vieles andere doch sehr befremdlich.
Bei Grabstellen gibt es in Deutschland zumeist nur eine zeitlich begrenzte Nutzungsgebühr. |
03.04.2023, 15:10 | #5 | |
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Zitat:
Was das neue Gesetz - oder besser gesagt: die Gesetzeserweiterung - angeht, bin ich auf unterschiedliche Reaktionen gestoßen. Soweit das überhaupt jemand mitgekriegt hat. Einerseits wird es begrüßt, damit endlich eine Kontrolle bezüglich illegaler Transaktionen vorhanden ist; andererseits greift das Gesetz dermaßen strikt durch, dass sich jeder Bürger dieses Landes als grundsätzlich kriminalisiert ansehen muss. Denn ein Zuwiderhandeln ist kein Bußgelddelikt, sondern strafbewehrt. Mir geht das zu weit. Es ist ein Unterschied, ob jemand einen Obstgarten für ein paar tausend Euro erwirbt, wie früher meine Großmutter, die das völlig unbürokratisch abgewickelt hat, oder ein Grundstück mit Luxusvilla in einem Nobelviertel, dessen Käufer - natürlich ein Investor - nur über eine Briefkastenadresse verfügt. |
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03.04.2023, 15:33 | #6 |
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... GWG §16a "gelten nicht, wenn die geschuldete Gegenleistung einen Betrag von 10 000 Euro nicht übersteigt" ... falls ich es richtig verstanden habe.
Ein Verstoß ist eine OWi, die aber die meisten finanziell ruiniert. Soweit ich weiß, wird in der BRD noch mehr Geld gewaschen, als im "mafiösen" Italien. Ich glaube, die EU hatte teuer mit uns geschimpft. Ich halte auch dieses Gesetz für einen Schnellschuss, können wir (unsere Regierung) gut. Nutzungsdauer zumeist auf 25 Jahre angelegt, verlängerbar. |
03.04.2023, 16:02 | #7 |
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Das war bisher. Bei der Neufassung geht gar nichts mehr. So habe ich es gelesen und in Kommentaren gehört.
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05.04.2023, 10:30 | #8 |
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... hören tue ich auch viel. Das Zitat stammt aus dem Gesetz von der Seite des Bundesministeriums für Justiz, sollte ein verlässliche Quelle sein.
dT |
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