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Gefühlte Momente und Emotionen Gedichte über Stimmungen und was euch innerlich bewegt. |
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17.09.2017, 23:59 | #1 |
Requiem III
Zum ersten Todestag
meiner Großmutter Helga Gebauer Bist du jetzt wirklich fort? Ich kann zuweilen noch deine Stimme in den Räumen hören, bloß stark gedämpft und wie durch viele Wände. Es wundert mich, dass keine Kerzen flackern und alle Bücher im Regal verweilen: So sehr verspür ich manchmal deine Nähe! Bleib hier, ich möchte dir ein Denkmal schreiben und wie ein Künstler aus der Renaissance sein Liebesleid in harten Marmor bannte, dein Antlitz in gerechte Worte meißeln. Vielleicht kann jemand dann in hundert Jahren, wenn alle Menschen tot sind, die dich kannten, noch vage ahnen, wie dein Lächeln wirkte und welchen Einfluss du auf alles hattest. Für mich warst du der starke Mutterboden, in den sich blindlings meine Wurzeln gruben. Du warst das Licht auf meinen jungen Blättern und auch der Regen, der die Triebe nährte. Du gabst wie selbstverständlich beinah alles und bist für mein Gedeihen die Bedingung. An deinem Sterbebett erschien der Vollmond und streichelte aus deinen alten Zügen die Falten eines langen Menschenlebens. Du wurdest wieder jung vor meinen Augen und warst schon halb in einer neuen Kindheit, als ich dir übermannt die Hände reichte. Nur selten noch brach durch die trübe Iris der scharfe Falkenblick vergangner Zeiten. Am nächsten Tag war nur dein Atem übrig. Kein Leben schwelte mehr in deinen Augen, die wie verletzte Tiere vor dem Ende in ihren tiefen Höhlen Frieden suchten. Am Abend ließest du die Welt dann fahren und kehrtest in die Leere heim. Es muss schon seltsam sein, nicht mehr zu leben; nicht länger eine Zukunft zu beschwören und keiner Spielart menschlicher Verblendung mehr eifrig winkend hinterherzulaufen. Ich glaube nicht an Leben nach dem Tode. Du kannst auf niemanden hinunterschauen und wanderst nicht durch deine alten Räume. Dein Wesen bleibt allein in uns bestehen. Du wurdest älter als die meisten Menschen und trotzdem schmeckt dein Tod so bitter, als wärest du, voll Zukunft, jung gestorben. Kein Tag verging je ohne Leid und Unheil, kein Leben ohne ständige Verluste: Ich werde wachsam sein und Rilke lesen. |
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18.09.2017, 18:52 | #2 |
Dabei seit: 10/2016
Ort: in einem sagenhaften Haus
Alter: 42
Beiträge: 5.271
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Lieber Glasbleistift,
dein Text berührt mich sehr.
Die Zeilen sind treffend formuliert und tragen Charakter. Sicher den Charakter der Verstorbenen, aber auch deine eigenen Gedanken, über Tod und Leben. Der letzte Satz ist ganz wunderbar gesetzt. Ich habe dein Werk gern und mehrfach gelesen. Ein Unargruß. |
19.09.2017, 20:42 | #3 |
Liebe Unar,
danke für deinen Kommentar! Es freut mich, dass dir das Gedicht gefällt und es mir aus deiner Sicht gelungen zu sein scheint, meine Großmutter etwas durch die Zeilen schimmern zu lassen. Ich wünsche dir einen schönen Abend! |
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08.05.2018, 15:11 | #4 |
abgemeldet
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Hallo Glasbleistift,
habe deinen Text eben zufällig entdeckt. Sehr berührend hast du ihn geschrieben, ich werde ihn noch oft lesen. Danke, dafür! LG Letreo |
08.05.2018, 16:49 | #5 |
abgemeldet
Dabei seit: 04/2018
Ort: Zwischen den Gedanken
Alter: 57
Beiträge: 697
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Ich bin tief beeindruckt.
Verneigende Grüsse, S |
09.05.2018, 15:39 | #6 |
Super, Letreo, dass Du diesen Text ausgegraben hast - der für mich zu den besten gehört...die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Da passt einfach alles.
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09.05.2018, 16:06 | #7 |
abgemeldet
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09.05.2018, 19:18 | #8 |
Dieser Text für sich ist ein kleines Kunstwerk, ja - das alleine macht den Verfasser aber noch nicht zum Künstler. Das Handwerk lässt sich objekt bewerten, da darf man Können und Geschick gerne attestieren. Das Gedicht hat aber auch über das Handwerk hinaus etwas zu bieten: In jeder Zeile liegt sehr viel Gefühl. Das ist nichts klitschig. Hier wird nicht "nur" an eine geliebte Person gedacht...das schwingt noch viel mehr in den Zeilen mit. Auch die Balance ist sehr gut -obwohl eine sehr nahstehende Person...ist da auch der Raum...den der Respekt einnimmt...zu spüren. Ja, dieser Text verkörpert Kunst. Wie er zustande kam...das wissen wir nicht.
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13.05.2018, 13:33 | #9 |
Liebe Leute,
habt vielen Dank für eure Kommentare und Rezeptionen. Es freut mich, wenn euch das Gedicht gefällt und etwas geben kann.
Zur Entstehung: Ich begann mit dem Schreiben schon kurz nach dem Tod meiner Großmutter, allerdings dauerte es ein Jahr, um das fertige Gedicht aus mir herauszuschälen. Ob das nun Kunst ist, möchte ich nicht beurteilen. Für mich war es einfach der Weg zur Bewältigung meiner Gefühle und zum Begreifen der Situation. Es war mir einfach ein Bedürfnis, diesen Text zu schreiben. Was darüber hinaus mit ihm geschieht und wie er beurteilt wird, liegt außerhalb meines Wirkens. Natürlich ist es trotzdem schön, wenn er positiv aufgenommen wird und es vielleicht sogar manchmal schafft, mehr als der Inhalt seiner Zeilen zu sein und eine gewisse Allgemeingültigkeit zu erreichen. Grüße vom Glasbleistift! |
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13.05.2018, 17:46 | #10 | |
abgemeldet
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Zitat:
Ich war und bin begeistert von deiner Arbeit. LG |
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14.05.2018, 07:06 | #11 | |
Hallo Glasbleistift,
ich kann mich den anderen Kommentaren nur anschließen: Ein sehr beeindruckendes, berührendes Gedicht. Bei diesen Zeilen hier bekam ich Gänsehaut und ein Schauer lief mir über den Rücken: Zitat:
DieSilbermöwe |
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