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07.10.2024, 21:01 | #1 |
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ABC, die Katze lief im Schnee
Als ich nach den Osterferien des Jahres 1957 eingeschult wurde, begannen der Lese- und Schreibunterricht und das einfache Rechnen mit den Grundzahlen. Damals schrieb man noch mit Griffeln auf Schiefertafeln, die auf der einen Seite Linien hatten, um die Klein- und Großbuchstaben gleichmäßig schreiben zu lernen, auf der Rückseite Kästchen zum Eintragen der Zahlen. Diese Tafeln waren praktisch und, im Vergleich zu Papier, preiswert, denn nach Erledigung der Übungen konnte man sie sauberwischen und neu beschriften. Dazu befand sich an einer Kordel, damit es nicht verloren ging, ein orange-rotes, grobporiges Schwämmchen, das unangenehm nach einem Gemisch aus altem Gummi und muffigen Kreideresten roch, wenn man die Nase reinsteckte.
Das erste Schuljahr war, was den Unterricht betraf, für mich langweilig, denn lesen konnte ich bereits, und das einfache Rechnen, also das Addieren und Subtrahieren von Zahlen, hatte mir mein Großvater längst beigebracht. Umso interessanter waren für mich die Bilder in unserem Leselernbuch, das den Titel "Meine Welt" trug und Szenen aus dem Alltag schilderte. Diese Bilder könnte man, was ihren Stil und ihre Inhalte betrifft, Kindern heute kaum noch vorsetzen, weil sie teils naiv, teils überdramatisiert anmuteten, gleichzeitig aber altersgerecht sein sollten. Dabei besaßen die bunten Zeichnungen durchaus künstlerischen Wert, vor allem durch ihren Reichtum an Details, die Kinderaugen viel zu entdecken boten. Man könnte die Bilder durchaus dem Stil der naiven Malerei zuordnen. Und viele davon sind mir bis heute in Erinnerung geblieben, wie auch die dazugehörigen Texte, so die Geschichte vom Riesen Timpetu, der versehentlich eine Maus verschluckte, oder das Gedicht "Auf der Straße", das wir auswendig zu lernen hatten. Viele Jahre später, als mein Sohn ungefähr fünf Jahre alt war, kam ich durch Zufall in den Besitz eines Exemplars jenes alten Leselernbuchs. Ich war davon fasziniert, dass Menschen für wert befunden hatten, diese aus der Mode gekommene Fibel zu bewahren, anstatt sie einstampfen und zu Neupapier verarbeiten zu lassen. Und ich war neugierig, wie mein Sohn auf sie reagieren würde. Nun war mein Sohn ein lebhaftes, schwer zu bändigendes Kind, das stets auf Entdeckungsreise war, die Welt mit all seinen Sinnen aufsog und von allem angezogen wurde, das mit viel Tamtam verbunden war, solange er nicht selber davon in Mitleidenschaft gezogen wurde. Denn wann immer er in der Patsche saß, ertönte die Ausrede: "Ich war's nicht!" Wenn er nicht sowieso rechtzeitig das Kunststück gemeistert hatte, sich aus der Schusslinie jeglicher Verdächtigungen zu retten. Als ich ihm das Lesebuch aus dem Anfang meiner Schulzeit aufblätterte und er die Bilder betrachtete, zeigte er sofort starke Aufmerksamkeit, obwohl die Abbildungen längst nicht mehr seiner Zeit entsprachen. Aber was nahm ihn am meisten gefangen? Drei Bilder, drei Geschichten.: Nummer eins war das brennende Dachgeschoss eines Fachwerkhauses, die aufgeregte Rennerei von Leuten und Tieren über den Hof und ein junger Mann auf einer Leiter beim Versuch, den Brand mit Wasser aus einem Eimer zu löschen … Nummer zwei: Ein Junge mit einem Ranzen auf dem Rücken scheint auf dem Weg von der Schule nach Hause gestürzt zu sein. Aus seiner Nase tropft Blut. Kinder laufen an ihm vorbei, aber ein Mädchen wendet sich ihm zu und will helfen. Nummer drei: Der Riese Timpetu hat im Schlaf eine Maus verschluckt. Er geht zum Arzt. Und was rät dieser? "Verschluck noch eine Katze, dann hast du Ruhe." Die Augen meines Sohnes hingen wie in Magie gefangen an diesen Bildern, und ich wüsste gerne, was dabei in seinem Kopf vorging. Wahrscheinlich könnte er sich nicht mehr erinnern, wenn ich ihn danach fragte. Allen anderen Geschichten gegenüber blieb er gleichgültig. Allenfalls sprach noch "die Katze im Schnee" seine Emotionen an. Hm … vielleicht lege ich ihm die Fibel nochmal vor die Nase und frage ihn nach seinen Erinnerungen. Und ob er noch fühlt, was damals in ihm vorging. Zwar existiert das Buch nicht mehr, denn es war abgegriffen, und einige eingerissene Seiten wurden von Klebestreifen zusammengehalten, die mit der Zeit hässlich braun geworden waren, so dass ich es zum Altpapier gab. Aber vorher hatte ich es mit dem Scanner Seite für Seite kopiert und als PDF-Dokument gespeichert. Denn wer trennt sich schon völlig von einem liebgewordenen Stück seiner Lebensgeschichte? 07.10.2024 Anhang: Die vier Seiten, auf deren Bilder und Geschichten sich der Text bezieht. |