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Alt 05.10.2024, 17:40   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Kinder denken anders

Ich mochte etwa zwölf Jahre alt gewesen sein und hatte eine beste Freundin. Sie hieß Marianne und wohnte mit ihren Eltern im obersten Stock eines Hinterhauses in der Haupteinkaufsstraße unserer Stadt. Meistens ging ich zu ihr und holte sie ab, um gemeinsam etwas zu unternehmen. Denn im Gegensatz zu mir, einem Schlüsselkind, das nach der Schule bis zum Abend allein blieb, war Mariannes Mutter zu Hause. Sie nähte in Heimarbeit für eine feste Kundschaft, unterbrach aber die Arbeit, um für ihre Tochter zu kochen, und wenn ich früh genug nach der Schule anklopfte, durfte ich mitessen.

Der Tag war trüb und wenig einladend, sich draußen lange aufzuhalten, als ich wie verabredet um zwei Uhr anklopfte. "Und? Darfst du mit ins Kino?" Strahlend vor Glück öffnete sie die Faust und zeigte mir die Münzen für die Kinokarte. "Mama hat es erlaubt und mir Geld gegeben."

Bis zur Erstvorstellung um drei Uhr hatten wir noch eine Stunde Zeit. "Ich muss aber vorher etwas für meine Mutter erledigen. Sie will was vom Bäcker haben."

Zusammen gingen wir zur Bäckerei, und ich kaufte eine Tüte voller verschiedener süßer Stückchen, zehn an der Zahl. Damit gingen wir zum Laden, in dem meine Mutter arbeitete, eine Schusterei, in der sie am Ladentisch reparaturbedürftige Schuhe entgegennahm und fertige Schuhe an die Kundschaft herausgab. Sie öffnete die Tüte, sah hinein und hielt sie uns hin. "Greift hinein! Jede darf sich eins nehmen."

Ich zog ein saftiges Puddingstückchen mit Zuckerglasur heraus, Marianne aber ein trockenes Rosinenbrötchen. Die Enttäuschung stand ihr im Gesicht geschrieben: Sie hatte eine Niete gezogen. "Tauschst du mit mir?", fragte sie, als wir zur Ladentür hinausgingen. Sie tat mir leid, und ein bisschen schämte ich mich auch, besser als sie weggekommen zu sein. Also willigte ich ein und tauschte mit ihr.

Das bekam meine Mutter mit und pfiff mich zurück. "Warum bist du so dumm?", giftete sie mich an, konnte es aber nicht mehr ändern. Schuldbewusst, weil ich den Segen meiner Mutter nicht zu würdigen gewusst hatte, vertilgte ich das Rosinenbrötchen, während Marianne mein Puddingstückchen genoss.

Noch heute frage ich mich, was ich damals falsch gemacht hatte, dass meine Mutter so verärgert war. Hatte ich denn nicht die Pflicht, Marianne das Stückchen zu geben, das ihr begehrlicher erschien als ihres, wo sie doch quasi nicht nur meine beste Freundin, sondern auch unser Gast war? Wäre es nicht sogar eine gute Lösung gewesen, wenn meine Mutter ihr die zweite Chance gegeben hätte, nochmal in die Tüte zu greifen? War ich nicht verwöhnt und verhätschelt genug, um Marianne, die von ihren Eltern wesentlich strenger gehalten wurde als ich, von meinem Überfluss etwas abzugeben?

Kam nicht meine Oma zu Besuch, ohne Bonbons, Lakritze und Schokolade für mich in der Tasche zu haben? Oder einen Becher Speiseeis vom Italiener, das schon halb geschmolzen war und mir beim gierigen Schaufeln auf die Zunge über das Kinn lief?

Als Marianne und ich zehn Minuten vor drei an der Kinokasse die Eintrittskarten kauften, war alles vergessen. Ein Sandalenfilm. "Die Rache des Herkules." Es ging zur Sache, mit Süße im Bauch und Spannung im Kopf. Was kümmerte uns die Denkart der Großen, die wir eh nicht verstanden?

05.10.2024
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Alt 06.10.2024, 14:27   #2
weiblich Inka
 
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Standard Erinnerungen

Liebe Ilka-Maria,

also, in Deine Lage konnte ich mich gut hineinversetzen und hätte genauso gehandelt, nämlich getauscht. Ich bin auch der Meinung, dass Deine Mutter Euch hätte zurückpfeifen sollen, denn in der Tüte hätte es sicher noch weitere saftige Kuchenstückchen gegeben.

Mitunter gehen einem ähnliche Gedanken durch den Kopf, was man im Leben hätte anders oder besser machen sollen. Vielleicht hatte auch Deine Mutter danach ein schlechtes Gewissen? Sicher trautest Du Dich nicht, sie darauf anzusprechen.

Als ich (1950) zwölf Jahre alt war und in der Ostzone lebte, gab es noch Lebensmittelkarten und ich hätte nicht einfach diese begehrlichen Dinge in einer Bäckerei kaufen können. Leider, denn ich war schon immer eine große Naschkatze.

Den bräunlichen Zucker konnte man lose kaufen – eben nur auf Marken - und bei uns stand hinter einem Sessel versteckt ein großer Blecheimer mit Deckel. Ich „bediente“ mich hin und wieder, wenn mir danach war, bis es meiner Mutter auffiel, dass der Bestand geschrumpft war.

Wer war das? Natürlich wollte ich es nicht zugeben, denn ich hatte ja noch zwei Geschwister. Meine Oma ahnte es und riet mir, es zuzugeben.

So stellte ich mich vor meine Mutter und sagte Folgendes: Oma sagt, ich soll sagen, dass ich es war. Ich denke, mit Schimpfe kam ich wohl davon, denn unsere Mutter schlug uns Kinder nie.

Viele Jahre später, als dann alles freiverkäuflich war, holte ich mir beim Bäcker Hempel mit Vorliebe „Schweinsohren“ oder „Eclairs“, auch Liebesknochen genannt. Ach ja, dann konnte man ja auch jede Menge „Stundenlutscher“ kaufen.

Das waren noch Zeiten, als man die Schuhe zum Schuster bringen konnte / musste und er sie jahrelang immer wieder besohlte. Hier gibt es weit und breit keinen Schuster mehr.

Ich habe Deine Geschichte sehr gerne gelesen. Danke!

Liebe Grüße von Inka
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Alt 06.10.2024, 19:13   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Inka Beitrag anzeigen
Das waren noch Zeiten, als man die Schuhe zum Schuster bringen konnte / musste und er sie jahrelang immer wieder besohlte. Hier gibt es weit und breit keinen Schuster mehr.
Wir haben, obwohl Kleinstadt, noch einen Schuster in unserer Einkaufsstraße. Auch in Offenbach gibt es in einer Mall, genannt "Ringcenter", einen Schuster. Aber wer lässt sich heute noch die Schuhe besohlen? Höchstens Leute, die sich den Luxus hochwertiger, sehr teurer Schuhe leisten. Jung und Alt tragen vorwiegend Sportschuhe von Adidas, Puma, Nike, Sketcher etc., die brauchen keine neue Besohlung. Außerdem sind sie praktisch, denn wenn sie dreckig sind, wirft man sie einfach in die Waschmaschine.

Sachen, die zu lange reparabel bleiben, wirken dem Prinzip des Kapitalismus entgegen. Das wird von der Wirtschaft nicht gewünscht. Die Leute sollen Umsatz bringen.

Gilt auch für die Bäckereien. Sie sind meist Franchise-Läden, die ihre Backwaren aus Großbetrieben erhalten, und diese produzieren mit minderwertigen Teigen, die sie in riesigen Kübeln beziehen. Schnell, viel und billig ... so funktioniert der Kapitalismus. Qualität und Geschmack werden allenfalls mit chemischen Mitteln vorgetäuscht.

Als Kind gab es für mich keinen Mangel an Süßwaren aller Art, von der Wundertüte über Schokolade bis zur Cremetorte. Heute kann ich das Zeug nicht mehr sehen. Zucker habe ich seit vielen Jahren nicht mehr gekauft, und das minderwertige Zeug, das heutzutage in den Bäckereien angeboten wird, kann mir gestohlen bleiben. Ebenso übrigens Wurstwaren und alle Fertignahrungsmittel, die sog. Convenient Food. Die Leute, die dieses Zeug essen, wissen gar nicht, was sie ihrem Körper antun. Für mich ist das alles Dreck.

LG
Ilka
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