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Alt 08.07.2024, 18:24   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Nobi und der Bär

Die Gruppe zählte fünf und war seit Stunden auf der Jagd. Fensi, ihr Anführer, und seine Gefährten mussten sich beim Streifen durch den Wald lange gedulden, bis vor ihren Augen ein Wild aus dem Unterholz auftauchte, eine Hirschkuh, die am Rande einer Lichtung stand und an einer Baumrinde knabberte. Als sie die Jäger witterte und sich anschickte, in die Tiefe des Waldes zu flüchten, waren wertvolle Sekunden vertan. Fensis Speer traf die Hirschkuh in die Schulter, und wahnsinnig vor Schmerz verfing sie sich nach wenigen Sprüngen in einem Gebüsch. Bevor sie sich befreien konnte, senkte sich Nobis Speer in ihre Lende, und ihr Körper verfiel in ein wehrloses Zucken.

Fensi legte Nobi anerkennend die Hand auf die Schulter. Dann ging er zu der Hirschkuh und erlöste sie mit einem gezielten Stoß seines Messers in die Halsschlagader. Zufrieden mit sich und seinen Gefährten blickte er auf die Beute. Die Hirschkuh hatte es ihnen leicht gemacht. Es gab Tage, an denen sie weniger Glück hatten und viel Ausdauer aufbringen mussten, bis ein Wildtier den Schutz seines Rudels verließ und ihnen eine Chance bot. War es gesund, konnte passieren, dass sie es an der Rückkehr zum Rudel hindern und ihm lange nachlaufen mussten, bis es erschöpft war und aufgab.

Zusammen mit dem Büffelkalb, das sie vor drei Tagen erlegt hatten, weil es wegen einer Beinverletzung seiner Herde nicht mehr folgen konnte, hatten die Jäger für einen stattlichen Wintervorrat gesorgt. Noch ein paar Hasen, die sie regelmäßig in ihren Fallen vorfanden, und ihr Clan konnte die harten Monate sorglos überleben. Er war nicht groß, dreizehn Frauen, zehn Männer und acht Kinder, davon drei Säuglinge. Und solange der nahegelegene Fluss nicht vereiste, ergänzte Fisch das Nahrungsangebot.

"Ihr wisst, was ihr zu tun habt." Fensi hätte es nicht sagen brauchen, denn zwei der Jäger waren bereits auf der Suche nach einem stabilen Ast, der lang genug war, um die Beute an den Läufen daran festbinden und ihn auf zwei Schultern ins Lager tragen zu können. Nobi übernahm die Aufgabe, die beiden Speere aus dem Leib der Hirschkuh zu ziehen und ihre Spitzen mit Laub vom Blut zu reinigen.

Die Gruppe trat den Heimweg an. "Unsere Frauen werden uns feiern", frohlockte Nobi, nicht ohne Hintergedanken. Fensi grinste, denn er verstand, worauf sein Gefährte hinauswollte. "Meine Frau wird mich feiern, Nobi. Dich feiert noch keine." Er sah, wie Nobis Augen zu glänzen begannen. "Aber ich bin ein guter Jäger." Fensi nickte. "Ja, das bist du, sogar ein ausgezeichneter Jäger. Ich werde bei Jama ein Wort für dich einlegen, obwohl es dir, sollte sie dich erhören, nicht guttun wird."

Fensis jüngere Schwester war ein schwieriges Mitglied des Clans. Temperamentvoll, lustig, zickig, unterhaltsam, ungefügig und kratzbürstig. Kaum ein Mann traute sich an sie heran, und wer es dennoch wagte, wurde gnadenlos abgebürstet. "Sie ist etwas Besonderes", wandte Nobi ein. Fensi lachte auf. "Meine Frau ist etwas Besonderes. Sie näht mir die Jagdkleidung, macht Feuer und bereitet die Speisen zu. Sie kennt sich mit Kräutern aus, und wenn unser Kind krank ist, weiß sie, womit man es heilen und stärken kann. Jama kann das alles nicht. Für den Clan tut sie nichts. Sie isst, schläft und tanzt nur."

Nobi hob seine Stimme zu Jamas Verteidigung, da brach aus dem Dickicht ein Braunbär hervor und ließ ihn einhalten. Der Bär war noch jung, aufgerichtet erst knapp zwei Meter hoch, aber mit seiner grimmigen Mimik und seinen riesigen Tatzen furchteinflößend. "Lauft!", schrie Fensi und packte selber am Ast mit der Beute an, die nicht verloren gehen durfte. Von ihr hing das Überleben seines Clans ab. "Lauft!"

"Bleibt und wehrt euch!", stemmte sich Nobi gegen den Befehl. Doch die Jäger wichen vor dem gewaltigen Tier zurück, erst schrittweise, aber zu spurten bereit und notfalls auch ihre Beute zurückzulassen. Nobis sah indessen seine Gelegenheit, sich zu bewähren. Er riss dem letzten Gefährten, der noch hilfsbereit die Stellung gehalten hatte, sich aber jetzt ebenfalls zur Flucht anschickte, den Speer aus der Faust, um doppelt bewaffnet zu sein. Doch sein erster Wurf, zu hastig ausgeführt, traf schlecht. Der Speer streifte den Bär nur an der Schulter. Er war Nobi gefährlich nahe gekommen. Und er war schnell. Seine Tatze schlug Nobi so heftig gegen den Kopf, dass er fast die Besinnung verlor. Benommen und ohne klare Sicht taumelte er davon, das heisere Gebrüll des wütenden Tieres im Nacken. An ein Entkommen war nicht mehr zu denken. Instinktiv ließ sich Nobi auf den Rücken fallen und hielt die Spitze seines zweiten Speeres wie einen Schild nach oben. Im nächsten Moment fühlte er ein schweres Gewicht auf seinem Körper, das ihm die Luft nahm. Er konnte sich nicht mehr bewegen.

Nobi war ohnmächtig, als man ihm unter dem toten Bären hervorzog. Zu vollem Bewusstsein kam er erst, nachdem er mehrfach die Augen aufgeschlagen hatte und seine Verwirrung allmählich schwand. Er lag in einer Hütte und sah in Jamas Gesicht. Sie lächelte. "Bärenschinken", war ihr erstes Wort. Er richtete sich auf und sah sie verständnislos an. "Bärenschinken? Was meinst du?"

"Der Clan hat für den Winter Bärenschinken. Dank deiner Tapferkeit."

"Ich verstehe dich nicht."

"Dann werde ich dir eine Geschichte erzählen. Es war einmal ein junger, noch unerfahrener Jäger, der warb um die Schwester seines Freundes. Aber er musste sich erst als der tüchtigste Jäger seines Clans beweisen, um von ihr erhört zu werden. Er brachte ihr manches Wild und legte es ihr zu Füßen, doch das taten andere Jäger auch. Da ließ er sich auf einen Kampf mit einem Bären ein, den er bezwang. Aber dabei erlitt er Verletzungen, die ihn betäubten, und deshalb konnte er sich an seine Heldentat nicht mehr erinnern."

In Nobis Augen lag Skepsis. "Du meinst mich?"

Jama nickte und lachte. "Du bist ahnungslos wie ein frischgeborener Säugling."

"Bin ich schwer verletzt?"

"Ein paar tiefe Fleischwunden, schmerzhaft, aber nicht gefährlich. Du hattest Glück, dass der Sturz des Bären in deinen Speer ihn lange genug wehrlos machte, dass Fensi dir zu Hilfe eilen konnte."

"Ich spüre keine Schmerzen."

"Danke es der alten Muna, wenn sie vom Sammeln frischer Heilkräuter zurück ist."

Fensi betrat die Hütte. Als er sah, dass sein Gefährte wieder bei Bewusstsein war, setzte er sich an sein Lager und drückte ihm eine Bärenkralle in die rechte Hand. "Das Fell bekommst du, sobald die Frauen es hergerichtet haben. Es gehört dem Sieger." Er stand auf und ging zum Ausgang der Hütte, drehte sich aber nochmal um. "Und es wird keine andere als Jama sein, die dir das Fell um die Schultern legt. Sie will es so."

08.07.2024
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.07.2024, 08:56   #2
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Standard hallo Ilka

... der letzte Satz scheint darauf hinzuweisen, dass ein echtes Patriarchat niemals bestanden haben kann.
Nette Story, wieder einmal gut geschrieben, ohne Zeigefinger, trotzdem zum Denken anregend.

beaux rêves
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Alt 11.07.2024, 09:40   #3
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Zitat:
Zitat von dunkler Traum Beitrag anzeigen
... der letzte Satz scheint darauf hinzuweisen, dass ein echtes Patriarchat niemals bestanden haben kann.
Wenn jede Frau und jeder Mann das tut, was sie und er am besten können, ist alles gut.

Danke fürs Lesen und Kommentieren.

LG
Ilka
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.07.2024, 14:14   #4
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Standard Ist alles gut?

Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Wenn jede Frau und jeder Mann das tut, was sie und er am besten können, ist alles gut.
Aber die Frauen haben sich weiterentwickelt, sind in Domänen der Männer eingedrungen, haben sogar das Wahlrecht bekommen und dürfen frei einen Beruf wählen, sind Kanzlerinnen, Innen-und Außenministerinnen vertreten die Partei mit dem Wahlspruch "Frieden schaffen ohne Waffen" und.. und..
Daher bezweifle ich den Satz: Wenn jede Frau und jeder Mann das tut, was sie und er am besten können, ist alles gut.

Einen nachdenklichen Gruß aus der Marzipanstadt.
curd belesos ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.07.2024, 14:28   #5
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von curd belesos Beitrag anzeigen
Aber die Frauen haben sich weiterentwickelt, sind in Domänen der Männer eingedrungen, haben sogar das Wahlrecht bekommen und dürfen frei einen Beruf wählen, sind Kanzlerinnen, Innen-und Außenministerinnen vertreten die Partei mit dem Wahlspruch "Frieden schaffen ohne Waffen" und.. und...
Was beweist das? Ein Amt zu führen ist eine Sache, es gut und verantwortungsvoll zu führen ist eine andere Geschichte und hängt nicht vom Geschlecht ab. Warum sollen nur politische Ämter als Beispiele gelten (von denen fast alle suboptimal besetzt sind, jedenfalls in Deutschland)? Es gibt gute und schlechte Ärzte und Ärztinnen. Es gibt auch gute und schlechte Erzieher und Erzieherinnen, nur dass die Männer nach wie vor mehrheitlich auf die hochdotierten Posten des Rektors kommen. Ich behaupte nach wie vor - und bin den Beweis noch nie schuldig geblieben - dass ich ein Herrenoberhemd zehnmal schneller perfekt bügeln kann als ein Mann.

Meine Aussage zielte nicht darauf ab, welche Funktionen ein Mann oder eine Frau einnehmen, sondern ob sie ihre Aufgaben gut oder schlecht machen. Welche Aufgaben das sind, ist wurst.

Dass Frauen etwas "dürfen", was ihnen zuvor verweigert wurde, sehe ich nicht gerade als "Weiterentwicklung" an. Hände, um mit einem Bleistift ein Kreuzchen auf dem Wahlzettel zu machen, hatten sie schon immer.
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.07.2024, 16:03   #6
männlich curd belesos
 
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Standard Warum?

Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Was beweist das?
Die Frauen haben sich weiterentwickelt, obwohl Männer eine stärker entwickelte Muskulatur und ein größeres Gehirn haben. Äh, warum also ? ....
curd belesos ist offline   Mit Zitat antworten
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