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Alt 04.07.2024, 20:41   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Anni und Berti

Joschis Rücken schmerzte von den Prügeln, die ihm Bauer Köppke verpasst hatte. Weil er nach dem Melken der beiden Kühe mit dem vollen Eimer über die Holzschwelle gestolpert war, die den Stall vom Hof trennte, und die Milch bis auf einen mageren Rest verschüttet hatte. Schlaftrunken in einer Frühe, in der die Hühner noch mit gepetzten Augen auf ihren Stangen hockten und dem Hahn die Stunde für sein erstes Kikeriki noch fern war.

Diese vermaledeite Holzschwelle, die zu nichts gut war, und wenn sie einmal zu etwas gut gewesen sein sollte, erinnerte sich niemand mehr daran. Joschi hatte sich einmal getraut, Köppke danach zu fragen, wozu sie diene und ob man sie nicht entfernen könne, worauf er sich eine Ohrfeige einhandelte. "Wenn sie für meinen Vater und meinen Großvater gut und richtig war, stelle ich sie nicht in Frage. Also halte deine vorlaute Schnauze!" Und um jeder Gegenfrage Joschis gleich eine Absage zu erteilen, schlug er ihn nochmal auf die andere Wange und hieß ihn, die Schweine zu füttern.

Was Joschi ohnehin getan hätte. Denn er liebte Anni und Berti, die, kaum dass die Sonne aufgegangen war und ihnen durch die schmalen Ritzen ihres Kobens ein wenig Licht spendete, sehnsüchtig nach den Abfällen aus der Küche der Bäuerin quiekten. Joschi hob den Deckel hoch und lachte, als Anni und Berti wie immer erwartungsvoll ihre Schnuten in die Höhe reckten. "Für euch habe ich die Kartoffeln extra dicker abgeschält als notwendig, da ist noch ordentlich Kraft drin", frohlockte er, als er den Inhalt des Eimers in den Trog kippte, "und die Äpfel für den Kompott auch. Ein paar Karotten habe ich noch stehlen können. Und ein bisschen altes Brot. Wohl bekomm's!"

Wenn Anni und Berti zu ihm grunzten, hatte Joschi das Gefühl, verstanden zu werden. Sie waren Gefangene wie er und alle drei dazu verdammt, ausgebeutet zu werden. "Der Bauer denkt, ihr seid dumm", sagte Joschi zu ihnen, "aber ihr wisst, was ihr für ihn seid." Anni unterbrach das Fressen und hob kurz ihr Haupt wie zur Bestätigung. Aber Berti fraß stoisch weiter, als sei es weise, den Moment zu genießen, wenn sich das grässliche Ende sowieso nicht abwenden ließ. Sie wissen nichts, aber sie ahnen etwas, ging es Joschi durch den Kopf, und wie vom Himmel gefallen hatte er eine Eingebung. "Wir müssen hier weg!"

In der folgenden Nacht, als der Bauer und die Bäuerin schliefen, schlich Joschi über den Hof zum Koben und ließ die Holzklappe herunter, die den Tieren als Zugang diente. "Kommt schnell raus, aber leise!"

Anni und Berti grunzten vor Überraschung und Aufregung, aber zu Joschis Erleichterung nur tief und brummig. Wenn sie bloß nicht quieken, flehte er in Gedanken zu Gott, denn wenn sie quieken, wird die Bäuerin wach, und dann bin ich geliefert. Er trieb die beiden Schweine vor sich her, runter vom Hof. Dabei musste er an Jago vorbei, der in seiner Hütte ruhte, aber angekettet war. Joschi hatte es bedacht, und als der Labrador herausgeschossen kam, warf er ihm eine Kette von Dauerwürstchen vor die Pfoten, die er aus der Vorratskammer des Bauern entwendet hatte. Jago, für den Joschi kein Fremder war, schluckte den Trick und unterließ das Bellen.

Die Menschen im Dorf schliefen, niemand sah, wie Joschi mit Anni und Berti die Hauptstraße entlang in Richtung der Felder und Wälder liefen. Es hätte Joschi auch keine Bauchschmerzen bereitet, wenn er gesehen worden wäre, denn niemand, da war er sicher, hätte Alarm geschlagen. Im Gegenteil: Recht geschieht dem Köppke, würden die Dorfbewohner sagen, endlich mal einer, der ihm zeigt, dass er nicht mit jedem alles machen kann. Denn Köppke war unbeliebt, seit er unter dem Vorwand, sich für die Belange der Bauern einzusetzen, zu ihrem Fürsprecher gewählt worden war, sich aber nur noch für seine eigenen Interessen breitmachte.

Vor dem Dorf grunzte Anni lauter und drehte eine Pirouette nach der anderen, als wollte sie sagen: "Wie frisch die Luft hier draußen ist. Und wie weit die Welt." Doch plötzlich hielt sie inne und schaute Joschi an, als wolle sie fragen, wie es weitergehe.

Joschi seufzte und zupfte sich am Ohr. "Ich habe keine Ahnung, wie es weitergeht." Er machte eine große Geste, die das nachtüberzogene Land einkreisen sollte. "Da draußen ist die Welt, und auf jedem Fleck, in jedem Winkel, in jedem Mausloch dieser Welt bin ich so fremd wie ihr. Wir müssen unseren Platz darin finden, jeder von uns dreien." Er massierte den Schweinen den Nacken. "Alles, was ich will, ist, dass ihr nicht früh sterben müsst und von Zweibeinern, wie ich einer bin, nicht gefressen werdet."

Sie konnten in kein anderes Dorf flüchten, denn dort hätte sie das gleiche Schicksal ereilt, dem entronnen zu sein sie glaubten. Also blieben sie im Wald versteckt, oder, wenn die Ährenhalme hoch standen, in den Feldern. Aber sie fanden nicht genügend Nahrung. Die Früchte des Waldes waren für andere Tiere gut, für Vögel, Eichhörnchen und Schmetterlinge, aber gegen die Früchte des Feldes, roh von der Ähre, rebellierte der Magen von Säugern wie Joschi und seine Schweine.

Joschi, Anni und Berti magerten rapide ab. Der Vorwurf, sie auf eine falsche Fährte gelockt zu haben, stand den beiden Schweinen in den Augen geschrieben, wann immer sie Joschi ansahen. Wo ist unser täglicher Abfall? Wo bleibt das Futter, das uns fett macht und für das wir unseren Namen verdienen? "Ich bring euch besser zurück", sagte er traurig. "Dorthin, wo ihr ihr zu essen habt."

Er trieb, wieder in einer mondlosen Nacht, Anni und Berti zurück zu Köppkes Hof, den er selber nicht betrat. Er hatte keine Wurst dabei, mit der er hätte Jago bestechen können. In einem Nachbardorf verdingte er sich neu als Stallbursche. Erst als nach einem halben Jahr die Kunde ging, Köppke habe geschlachtet und lade aus den umliegenden Dörfern zu Freibier und Gulaschsuppe ein, ging er wieder hin, und da sah er im Hof die vier ausgenommenen und weitgehend ausgebluteten Schweinehälften hängen. Anni und Berti.

04.07.2024
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Alt 05.07.2024, 08:54   #2
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Standard hallo Ilka

...traurig, aber nah an der Realität.

Der ersten Absatz scheint nicht so gelungen, den solltest Du umformulieren. Der Tempus mag richtig sein, aber "hatte, hatte, hatte, weil" folgen zu dicht und hinterlassen in mir kein gutes Gefühl.

beaux rêves
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Alt 05.07.2024, 09:12   #3
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Zitat:
Zitat von dunkler Traum Beitrag anzeigen
Der ersten Absatz scheint nicht so gelungen, den solltest Du umformulieren. Der Tempus mag richtig sein, aber "hatte, hatte, hatte, weil" folgen zu dicht und hinterlassen in mir kein gutes Gefühl.
Guten Morgen, dunkler Traum,

dein Gefühl ist richtig. Ich hatte mich daran auch gestört und war eine Weile geneigt gewesen, die Geschichte im Präsens zu schreiben. Daran kann man sehen, dass man bei einem Text jede Entscheidung darüber, wie und was man schreibt, sorgfältig überdenken sollte.

Danke und besten Gruß
Ilka

P.S.:
Ich habe den ersten Absatz leicht korrigiert. Zwar habe ich den Tempus beibehalten, aber einen Satz so gekürzt, dass einmal "hatte" rausgefallen ist. Liest sich in der Tat besser, vorher klang es etwas verschwurbelt. Hier zum Vergleich die alte Version:

Zitat:
Joschis Rücken schmerzte von den Prügeln, die ihm Bauer Köppke verpasst hatte. Weil er die Milch vergossen hatte, als er nach dem Melken der beiden Kühe mit dem vollen Eimer über die Holzschwelle gestolpert war, die den Stall vom Hof trennte, und die Ausbeute bis auf einen mageren Rest verschüttet hatte. Schlaftrunken in einer Frühe, in der die Hühner noch mit gepetzten Augen auf ihren Stangen hockten und dem Hahn die Stunde für sein erstes Kikeriki noch fern war.
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