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21.06.2024, 17:01 | #1 |
Forumsleitung
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Blanca
Lukas hatte Martina den Arm um die Taille gelegt, während er mit ihr den Waldweg entlang bummelte. Er war frisch verliebt und genoss die Ruhe des Werktags, an dem in den Vormittagsstunden kein einziger Spaziergänger anzutreffen war. Lediglich ein Radfahrer hatte sie vor einer halben Stunde in dieser Idylle überholt.
Vor Lukas lagen noch drei Urlaubstage, nicht mehr viel Zeit, in der er mit Martina tagsüber etwas unternehmen konnte. Danach blieben ihm dafür nur noch die Abende und die Wochenenden. Umso intensiver richtete er seine Aufmerksamkeit auf diesen Moment des Glücks, sog die milde Frühsommerluft ein und erfreute sich an dem satten Grün der Bäume, den gelben, roten und blauen Blüten am Wegrand und den vorbeiflatternden Zitronenfaltern, Kohlweißlingen und Tagpfauenaugen. Aus der Ferne drang das Hämmern eines Spechts an Lukas' Ohr. Er stutzte. Da war noch ein anderer Laut, ungewöhnlich und unpassend für diese Umgebung. Er blieb stehen. "Hörst du das, Tina?" "Klingt wie ein Wimmern." "Aber nicht von einem Menschen. Lass uns nachsehen, woher es kommt." Sie drangen in das Unterholz ein und gingen dem Wimmern nach. Je weiter sie vorankamen, umso stärker wurde es, als seien sie aufgefordert, nicht aufzugeben, sondern fündig zu werden. "Schau, da bewegt sich etwas!" Martina zeigte auf einen Strauch am Fuß einer Buche. Lukas sah etwas Weißes durch das dünne Gezweig leuchten. Vorsichtig näherten sich beide, gespannt, was sie entdecken würden. Wäre es ein wildes Tier in Not, müssten sie den Förster benachrichtigen. Lukas schob behutsam die Äste des Strauches auseinander. "Ein Welpe!" Er schaute sich um, konnte aber keinen Menschen sehen. "Jemand muss ihn ausgesetzt haben." "Was gibt es nur für Menschen! So ein kleines, hilfloses Wesen. Was machen wir mit ihm?" "Na, was schon, Tina?" Kurzentschlossen packte Lukas den Welpen und barg ihn in seinen Armen. Augenblicklich hörte der Hund auf zu wimmern. "Ich werde ihn behalten." "Du kennst dich doch gar nicht mit Hunden aus." "Dann werde ich's eben lernen." Wieder zu Hause, rief Lukas in der nächstgelegenen Tierklinik an und machte der Sprechstundenhilfe klar, dass er sofort einen Termin brauche. Martina schickte er in den Supermarkt, um Hundefutter zu besorgen. "Und wenn der Welpe noch die Mutter braucht und gar keine Fertignahrung zu sich nehmen kann? Wir wissen nicht, wie alt er ist." "Kauf einfach ein. Schau auf die Packungen, ob das Futter für Jungtiere richtig ist. Etwas Besseres weiß ich im Moment auch nicht. Der Arzt wird mir sagen können, wie alt der Welpe ist." Dr. Ross nahm den Winzling unter die Lupe. "Ein Canadian Alsatian, sechs bis acht Wochen alt. Machen Sie sich darauf gefasst, dass er ziemlich groß wird. Scheint gesund zu sein, soweit ich das auf den ersten Blick sagen kann. Wir machen eine Blutuntersuchung, dann wissen wir in ein paar Tagen mehr." "Kann man das Geschlecht schon erkennen?" Der Veterinär nickte. "Eine Hündin." Gemeinsam überlegten sich Lukas und Martina einen Namen, der für die Hündin perfekt sein sollte, und weil sie ein weißes Fell hatte, entschieden sie sich für Blanca. Die Entbehrungen, während sie im Wald ausgesetzt gewesen war, hatten keine Spuren hinterlassen. Wie der Veterinär prophezeit hatte, wuchs sie auf eine stattliche Größe heran und stand mit einer Schulterhöhe von fünfundfünfzig Zentimetern einem deutschen Schäferhund ihres Geschlechts in nichts nach. Sie war von sanftem Wesen, gelehrig und deshalb leicht zu trainieren, gehorsam und umgänglich – ideal als Familienmitglied, aber untauglich als Wachhund. Lukas' Eltern, zu denen er sie manchmal brachte, wenn er ein paar Tage geschäftlich verreisen musste, hatten sie sofort ins Herz geschlossen. Zwei Jahre später. Knall auf Fall hatte Martina eine WhatsApp-Nachricht an Lukas geschickt, dass es aus sei zwischen ihnen: Sie habe sich in einen anderen Mann verliebt, dagegen könne sie nichts machen, und es tue ihr leid. Lukas fiel aus allen Wolken, aber statt wegen Martinas kaltschnäuziger Konsequenz in Trübsal zu verfallen, stieg Wut in ihm hoch, weil sie zu feige gewesen war, es ihm ins Gesicht zu sagen. Er fühlte sich abserviert wie ein Möbelstück, das nach kurzem Gebrauch nicht mehr gefiel und zum Sperrmüll gestellt wurde. "Geh zum Teufel!", schrieb er zurück. Doch zwei Tage danach stand Martina vor seiner Wohnungstür. Blanca lief auf sie zu, freudig mit dem Schwanz wedelnd, und ließ sich zur Begrüßung von ihr den Kopf streicheln. "Was willst du?" Lukas' Stimme war heiser, sein Ton barsch. Martina sah ihm dreist in die Augen. "Ich will Blanca holen. Mein Freund ist damit einverstanden, dass sie bei uns bleibt." Lukas sah sie an wie vom Donner gerührt. "Bist du bekloppt? Was bringt dich auf die Idee, du könntest Blanca mitnehmen?" "Sie ist genauso mein Hund wie deiner. Du hast sie nicht allein gefunden, sondern mit mir zusammen. Und ich habe mich um sie gekümmert, wenn du auf Reisen warst. Außerdem ich habe damals die Hälfte der Rechnung vom Tierarzt bezahlt." Lukas schlug ihr die Wohnungstür vor der Nase zu, dass es krachte. Sie klingelte Sturm. Als er die Tür wieder öffnete, hatte er ein paar Euro-Scheine in der Hand und warf sie Martina ins Gesicht. "Hier, dein Anteil. Mit Zinsen. Und jetzt hau ab!" Statt sich nach dem Geld zu bücken, das auf den Boden geglitten war, stellte sie einen Fuß in die Türöffnung. "Sei doch vernünftig, Lukas. Du bist dauernd geschäftlich unterwegs, und deine Eltern sind nicht mehr die Jüngsten. Blanca wäre bei mir gut aufgehoben. Jochen ist arbeitslos und hätte den ganzen Tag für sie Zeit. Ich kann ohne Blanca nicht leben!" "Stell dir vor, ich auch nicht. Und jetzt verschwinde endlich!", presste Lukas zwischen den Zähnen hervor und gab ihr mit beiden Händen einen Schubs. Sie taumelte rückwärts, stürzte auf den Marmorboden und schlug mit dem Hinterkopf auf. In ihrem Schrei lagen Überraschung, Empörung und Schmerz. Ungerührt schob ihr Lukas mit dem Fuß die Geldscheine nach und warf abermals die Tür zu. Wenig später hörte er Tumult im Treppenhaus, Nachbarn schienen von dem Streit aufgeschreckt worden und Martina zu Hilfe geeilt zu sein. Es war ihm egal. Noch im selben Monat flatterte ihm eine Kopie der Klageschrift von Martinas Rechtsanwalt ins Haus, Begründung: Tätlicher Angriff mit Körperverletzung und Anspruch auf Herausgabe des Hundes. Lukas nahm sich ebenfalls einen Rechtsanwalt, Herrn Dr. Hartmut Böhm, der ihm klarmachte, für den Angriff auf seine Ex-Freundin müsse er sich verantworten, aber bei den Chancen in Sachen Blanca sei der Ausgang des Falls schwer vorauszusagen. "Aber ich hatte damals entschieden, Blanca aus dem Gebüsch zu ziehen und mitzunehmen", argumentierte Lukas. "Martina war völlig ratlos gewesen, was sie in diesem Moment hätte tun sollen." Dr. Böhm zuckte die Schultern. "Aussage steht gegen Aussage, und wir wissen nicht, welche Geschütze die Gegenseite auffahren wird." Lukas stand die Verzweiflung im Gesicht geschrieben. Dr. Böhm schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln: "Nicht den Mut verlieren, Herr Franke. Ich werde mein Bestes tun. Wenn alle Stricke reißen, lassen sich solche Angelegenheiten unter Umständen auch mit Geld regeln. Wieviel wäre ihnen der Hund notfalls wert?" "Mein Leben." Der Kampf konnte beginnen. Dr. Böhm zog in seinem Schriftsatz als Erwiderung auf die Klage alle Register. Prompt kam von Martinas Rechtsanwalt ein Schriftsatz mit Gegenargumenten, die die Forderungen seiner Mandantin zu untermauern suchten. "Alles übertrieben und zum Teil erlogen und erstunken", empörte sich Lukas. "Dafür hat sie keine Beweise." "Dann werden wir sie entkräften", beruhige ihn Dr. Böhm und machte sich abermals an die Arbeit. Inzwischen hatte der Lokalteil der Tageszeitung in einer kurzen Meldung über den Streit berichtet, und nur einen Tag nach ihrem Erscheinen rief Dr. Böhm bei Lukas im Büro an. "Ich hatte gerade ein Gespräch mit einem Herrn Dankert, der den Bericht über unseren Fall in der Zeitung gelesen hat. Er behauptet, Blanca habe seinem Sohn gehört, und er selbst sei es gewesen, der den Welpen ausgesetzt hat, weil er das Viech, wie er sich ausdrückte, nicht in seiner Wohnung haben wollte." Lukas spitzte die Ohren. "Glaubhaft?" "Keine Ahnung. Aber seine Geschichte ergibt Sinn. Der Sohn hatte den Welpen von einem Freund geschenkt bekommen und seine Eltern vor vollendete Tatsachen gestellt. Der Freund hat ihn dann nicht mehr zurückgenommen. Im Tierheim wollten sie den Hund wegen Überfüllung auch nicht haben. Außerdem war Dankert zu dem Zeitpunkt nicht gut drauf: arbeitslos, Alkohol, Ärger mit der Ehefrau, das volle Programm. Da hat er den Welpen, als sein Sohn in der Schule war, einfach in den Wald gebracht." "Was bedeutet das für mich?" "Dass die Sache gut für Sie steht. Wir haben einen rechtmäßigen Eigentümer, der Blanca mit Sicherheit nicht zurückhaben will. Der Mann hat signalisiert, dass er in Geldnot ist. Sie hätten eine eventuelle Strafe für das Aussetzen des Hundes zu übernehmen und dem Mann eine Abfindung dafür zu zahlen, dass Blanca endgültig in Ihr Eigentum übergeht. Dafür ist er bereit, seine Aussage zu machen." Lukas grinste in sich hinein: Unverhofft kommt oft, dachte er. Martina würde vor Wut überkochen, wenn Dr. Böhm dem Richter diese Neuigkeiten unterbreitete. Ein tiefes Glücksgefühl durchströmte ihn, als das Gespräch mit Dr. Böhm beendet war. Er griff nach der Hundeleine. "Komm Blanca, Gassi gehen!" Der Drops war gelutscht |