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Sonstiges Gedichte und Experimentelles Diverse Gedichte mit unklarem Thema sowie Experimentelles. |
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01.06.2024, 20:31 | #1 |
Der Misanthr-Opa
Menschen, die trotz ihres jungen Alters schon einiges im Leben durchgemacht haben, gewidmet
Er war eine Ewigkeit nicht in der Innenstadt. Wo die Menschen irgend ominöse Scheiße kaufen. Viele streunen herum, sich vermischend, irrend durchs Getöse. Manche sitzen an den Tischen vor den Cafés, fischen im Fett schwimmende Pommes, trinken Kaffee. Und zum Dessert schlemmen sie pompöse Eise, die am natürlichen Schmuck der Männer herablaufen. Das sind die Gesunden und Starken wie Wikinger, die, sich fürstlich zurücklehnend, in den Schänken relaxen und, statt zu danken, Trinkgelder schenken. Während die Kranken von Entspannung nicht mal mehr träumen können. Sie müssen gleich Mammutbäumen verwachsen mit der Arbeit, einziger Ablenkung von ihren Wunden. Ständig auf Achse, in Sorge um die Fahrtzeit, oder auch eingepfercht in wie Särge, wie eine Raumkapsel ohne Bemannung kleinen Räumen. In günstig zusammengewürfelten Gruppen dagegen die Entspannten, in Cliquen, hirschbrünstig am Tisch, ohne Hilfe auskommend, sprechen mit fließenden Übergängen, ohne zu stottern, schlürfen aus vom coolen Wirt servierten kultiviert kleinen Tassen Bonzentypen-, nicht Bohnensuppen, während sie sich zu Wichtigkeiten durchklicken und sich beim richtig heiteren Selfie nicht schämen wie er für sein krummes Lächeln mit rissigen Zähnen eines Untoten. Help me! Er fühlt sich angestarrt, angegafft von der Meute, Hunderten makellosen Mienen, Mutjungen, Aktiven, die – immer am Start, immer mit Kraft und Freude – sich, weiß Gott, wann zuletzt ehrlich über etwas wunderten. Diese Zeiten sterben kläglich in ungelesenen Büchern mit Erinnerungen in Archiven. Ältere Zechkameraden heilen sich mit Bieren nüchtern an der Blechbalustrade der Nordbrücke – Hürden, die nach einem Umweg schreien. Denn, mit Muße, scrollen sie nicht nur vor Langeweile mit den Augen – sie kommentieren ihn. Ihre Wortkrücken (wie „jungesund“ = jung, also gesund) bei auch beileibe nicht Biblischem ihres Alters tun weh. Bleiernen Fußes, bleibt ihm bösewicht-bübisches Vorbeizombieren. Schier weiter. Dreizöpfige Floristin zwischen Töpfen stimmt ein in ihr Grölen und Gackern, das ein unerschöpflicher Chor ist, durch einen Kunden und das nicht für ihn dekorierte Blumenladenfenster hindurch. Bei einem Meeting von delegierten Pfeffersäcken in fein gebügelten Anzügen fürs Betrügen verstummt man deswegen, verliert den Faden; das Treffen gerät aus den Fugen – so ein Mistding! Er indessen: von der gangsterfürchterlichen Augenprothese über das Bypass-Gerät bis zum Knieimplantat mit dessen (muss man ölen) Tackern zitternd, fast inkontinent in diesem Stuhlgewitter. Das Gesicht – wie eine Laugenkäsebrezel, mit gelblichen Fetzen – versinkt voller Gram in der Scham wie einst ein Inselkontinent versank. Mobbing ist oft eine simple Tat mit komplexen Folgen. Der Treibsand des Asphalts lähmt seine protestierenden Schorfbeine, die bald mitprothesiert werden. Doch der konvulsive Angstreflex enthemmt kurz, lässt ihn hilflos mit den Armen rudern, ein wenig wie wenn ein impulsives Luder mit der Hand entrüstet ausholt zur Ohrfeige. Lässt ihn zappeln mit der Hand auf der Brust gefühlt in einem Ozean ohne Oberfläche, wo mit Gleichgültigkeit vergiftete Passantenhaie, die mit Moder über ihren Herzen, ohne Erbarmen gleich Sülze kalte Fleischhappen vom Hinzurichtenden abbeißen. So schwimmt er, sich die Hoden verscherzend an Hydranten, in die pfaubunten Reihen der alles – vom Gully bis zu einem modischen Hut – filmenden Shopper in der Maltesergasse. Auch dort walten sie, die Mobber. In der klaren Überzahl wie moderne Hollywood-Filmhelden. Aus den Brauereien mobbt man verbal mit beim Maischen. Bis alle Stricke nach oben reißen. Sein Bypass zerspringt vom Hassen. Er sinkt – singt seinen Misanth-Rap – mit Fanfaren … im glitschigen Versuch, noch zu kriechen. Ein Kamikaze von einem verflucht selbstsicheren, fiesen Radfahrer kann sich die Rechtsvorfahrt erkreischen und noch, eingeübt wie kitschige Perlen vor die Säue, die rote Möhre seines Stinkefingers in die lahme Fratze des Sinkenden-Sterbenden schmeißen. Und mal wieder, durchs eine getrübte Auge: vor einem Restaurant die Haizähne der Allesniederkäuer, mollige Kerle – umwerbende Hähne; mit Blicken – Rotzgören-Verschlingern … Alle mogeln, wem trauen? Paranoia umkrallt ihn von Gottes Oben herab omenhaft wie eine Raubvogelklaue ein Rättchen. Beugt ihn in den Staub und Smog des Asphalts, bis die Rädchen seines Rollators wegbersten wie niemals die Ketten eines Gladiators. Wie viele Leidensvetter noch, auch gerade erst volljährig, doch antik anticool und bereits gärig, pandemie-lockdown- wie punch-knockdown-gealterte nach zehn Monaten voll speichelig zerkauter Trosthalme (können im zehnten nicht mehr aufstehen weicheiig), mit Hasszungen hinter zähen Masken der Anpassung, erklettern wie er die Todespalme im Höllenpfuhl? Nähe zu Menschen lässt sich nicht wie eine Manschette schnell mal wieder annähen. Er wird erneut eine Ewigkeit nicht in der Innenstadt sein, dieser Irrenanstalt, trotz irgendwann Impfung in den Arm. 2021 (erstveröffentlicht auf www.textmanege.com, 5/2024) |
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10.06.2024, 14:06 | #2 |
Hallo!
Der Protagonist kommt mir ein bisschen zu kurz. "Er war eine Ewigkeit nicht in der Innenstadt." Da geht doch noch was. "Es ist ihm dort zu wuselig und überfüllt mit Menschen, diesen seltsamen Gestalten aus der Hölle" oder so. Man muss gleich seine Brille aufgesetzt bekommen. Dieser Mann fühlt sich minderwertig, er fühlt sich angestarrt, ist voller Hass, Neid und vor allem Selbstmitleid. Die anderen sehen besser aus und haben mehr Geld, darum muss er sie schlecht machen. Wie er das tut, ist aber sehr amüsant, nur stellenweise zu ausufernd. Die Gedanken springen noch zu sehr und müssen mehr fließen, daher würde ich in die Handlung einen zu bewältigenden Weg für ihn einbauen, zum Beispiel den Weg zu einer Behindertenwerkstatt, wo man für ganz umsonst unterdrückt und wie ein Kind behandelt wird. Darüber könnte er sich auch aufregen. Der Weg in der physikalischen Welt würde die zerfaserten Beobachtungen und Gedanken besser zusammenhalten. Ansonsten finde ich das ganz gut, interessante Formulierungen und Bilder. LG, lee |
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10.06.2024, 15:06 | #3 |
Hallo Lee,
danke für dein wertvolles und gut formuliertes Feedback! Mein Text ist weniger als eine Geschichte gedacht, sondern mehr als ein "Gedicht in Prosa". In etwas experimenteller Form mit sich fast reimenden Sätzen, zumindest Assonanzen. Hätte gar nicht gedacht, dass man da so etwas hineininterpretieren kann. Deine Überlegungen zu einer möglichen Handlung und sogar deren Erweiterung zeigen aber, dass es dich durchaus zum Nachdenken gebracht hat. LG Max |
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10.06.2024, 16:24 | #4 |
Hallo Max,
bei einem Gedicht in Prosa müsste das alles noch verdichteter sein, vier von fünf Sätzen müssten raus. Man müsste die Essenz aus jedem Absatz schälen. Eine Kurzgeschichte ist besser geeignet, um die Sicht des Helden auf die Welt einem Leser nahezubringen, der sich vielleicht nie Gedanken gemacht hat, wie es wohl wäre, behindert oder sonstwie anders zu sein. Ich würde darum die Lyrik sogar ein bisschen runterschrauben. Kürzere Sätze könnten das Verständnis der bizarren Wortgebilde erleichtern. LG, lee |
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