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Fantasy, Magie und Religion Gedichte über Religion, Mythologie, Magie, Zauber und Fantasy.

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Alt 12.01.2025, 11:31   #1
Stachel
 
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Standard So wartest du

Ich habe dich im Niemandsland getroffen,
der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit.
Dort wartest du, die beiden Arme offen,
den Blick gen Himmel, stolz, doch voller Leid.

Auf deinem Haupte trägst du eine Krone,
aus Zweigen eines Dornenbuschs gedreht,
darunter nur ein Tuch am Leib, der ohne
das Holz im Rücken nicht alleine steht.

Du murmelst: Lasst die Kinder zu mir bringen
und lasst sie sehen, was man jenen tut,
die Frieden und Gerechtigkeit erstreben:

Verräter trachten ihnen nach dem Leben.
Sie sollen wissen: Wahrheit kostet Mut.
Zum Lohn hörst du alsbald die Englein singen.
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Alt 12.01.2025, 22:03   #2
männlich Marinus Chordo
 
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Hallo Stachel,

ein sehr schönes Sonett, mit vielen mal mehr mal weniger subtilen Bibelbezügen. Mir ist es vielleicht ein bisschen zu pessimistisch. Am Ende führt jede Ungerechtigkeit wieder zur Gerechtigkeit – meist über Umwege...

Grüße
Marinus
Marinus Chordo ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.01.2025, 10:22   #3
männlich dunkler Traum
 
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Standard wow Stachel

... ja, bedauerlich, aber wahr. Die Menschheit hat sich im Kopf nicht weiter entwickelt. Wir würden ihn heute nicht ans Kreuz schlagen, nein, aber als rechten Querdenker bezeichnen, ihn nach Guantanamo bringen oder gleich im Gaza Streifen aussetzen.

wsT
dT
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.01.2025, 14:49   #4
Stachel
 
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Zitat:
Zitat von Marinus Chordo Beitrag anzeigen
Hallo Stachel,

ein sehr schönes Sonett, mit vielen mal mehr mal weniger subtilen Bibelbezügen. Mir ist es vielleicht ein bisschen zu pessimistisch. Am Ende führt jede Ungerechtigkeit wieder zur Gerechtigkeit – meist über Umwege...

Grüße
Marinus
Hallo Marinus,

ich kenne diese Hoffnung, dass doch bitte alles im Universum sich irgendwie ausgleichen möge und dass aller Ungerechtigkeit irgendwo Gerechtigkeit entgegenstehen muss. Ich fürchte aber, dem ist nicht so. Es sind doch allzu menschliche Konzepte. Die Natur kennt keine Gerechtigkeit. Kein Wesen fragt sich, was es geben kann oder soll. Es nimmt, was es benötigt und bekommt und gibt sich dem Kreislauf her, wenn es stirbt (natürlich sehr verkürzt dargestellt). Diese Hoffnung ist natürlich zutiefst spirituell und religiös, lernen wir doch, dass irgendwo ein höheres Wesen namens Gott "sitzt", über uns wacht und alles gut für uns richtet (sofern wir nur ...).

Genau an dieser Stelle setzt der Text an, legt den von dir aufgespürten Pessimismus dem "Sohn Gottes" selbst in den Mund.

Danke für dein Lob und deinen Beitrag.

Zitat:
Zitat von dunkler Traum Beitrag anzeigen
... ja, bedauerlich, aber wahr. Die Menschheit hat sich im Kopf nicht weiter entwickelt. Wir würden ihn heute nicht ans Kreuz schlagen, nein, aber als rechten Querdenker bezeichnen, ihn nach Guantanamo bringen oder gleich im Gaza Streifen aussetzen.

wsT
dT
Wir würden ihn heute, wie damals, nicht erkennen. Aber wer wäre er ohnehin? Würde sich ein Erkennen lohnen? Warum sollte man ihm folgen?

"wsT"? wassn super Text?
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Alt 16.01.2025, 06:38   #5
weiblich DieSilbermöwe
 
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Beiträge: 7.056

Hallo Stachel.

auch ich finde das Sonett wunderschön und eigentümlich (aber nicht im negativen Sinn) berührend.
Für mich klingt es gar nicht pessimistisch. Es ist eine Beschreibung eines Ereignisses.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.01.2025, 12:29   #6
Stachel
 
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Vielen Dank, liebe Silbermöwe.
Stachel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.01.2025, 21:57   #7
männlich Flocke
 
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Standard fünfhebiger Jambus -> Vorschrift oder Vorschag !

Hallo German Sting!


Ich wollte gerne noch ein paar Bemerkungen zu deinem Metrum und zum Metrum des Sonetts und zu den Grenzen unserer Sprache ganz allgemein machen!

Du hast dich mit allen 14 Zeilen, über die ein Sonett verfügt, in eine Tradition eingereiht von Sprachkünstlern, die Orginelles, Wissenswertes, Kluges und manches mehr in genau 14 Versen sagen und mitteilen wollen, und die dieses Unterfangen trotz einer strengen Regelung der Gestaltung bewerkstellen wollen, wovon der Zwang, jeden Vers auf der Basis eines klassischen, fünfhebigen Jambus zu gestalten, nur einer unter mehreren ist.
8 mal enden deine Verse mit einer unbetonten Silbe", also mit einer sog. "weiblichen" = einer klingenden Kadenz:

x X x X x X x X x X (x)
Ich habe dich im Niemandsland getroffen.
In diesen Versen finden sich genau 10 Silben.

und 6 mal hast du das Ende der Zeile mit einer betonten Silbe bedacht, mithin hast du hier eine stumpfe (= männliche) Kadenz gewählt und 11 Silben verarbeitet:

x X x X x X x X x X
der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit.

Du hast also den fünf-hebigen Iambus über das gesamte Gedicht durchgezogen, formal also ist dein Sonett richtig abgestimmt und alles korrekt.*
* (fünfhebiger Jambus klingt recht altertümelnd!")

Viele Menschen, die sich berufsmäßig oder als Laie für Sonette interessieren, fahren eine harte Linie. Sie leben in einer Traditon der Reinheit, für sie darf es keine Abweichung von diesem Fünfermetrum geben. Eine kleine Variante oder eine sog. Unsauberkeit würde den Wert des Sonettes mindern; es wäre nicht "ganz" gelungen, heißt es wohlwollend oder böser: es hätte eben nicht den reinen Reim oder das korrekte Metrum, es wäre KEIN Sonett!**

** (Es lohnt sich, Sonette von z.B. Rilke in Hinblick auf ein gleich bleibenden Versfuß zu lesen).

Dennoch will ich eine Änderung zur Diskussion stellen. Sie betrifft die letzte Zeile in der 2. Strophe (S 2; Z 4):
Zitat:
Auf deinem Haupte trägst du eine Krone,
aus Zweigen eines Dornenbuschs gedreht,
darunter nur ein Tuch am Leib, der ohne
das Holz im Rücken nicht alleine steht
.
Ich schlage vor, diesen vierten Vers:
(1)" ... darunter nur ein Tuch am Leib, der ohne /das Holz im Rücken nicht alleine steht."
anders zu formulieren und in die vierte Zeile um den Artikel „das“ zu kürzen;
(2) ... darunter nur ein Tuch am Leib, der ohne / Holz im Rücken nicht alleine steht." (vielleicht auch Holz am Rücken ?)

Damit ändert sich der Versfuß in der vierten Zeile zu einem Trochäus mit stumpfer Kadenz
X x X x X x X x X
Doch zumindest für mich klingt der Vers dann nach der Änderung flüssiger und im guten Sinne eingänger. Bei der "korrekten" Form verspüre ich beim Lesen etwas Geholpere.
Ein Grund für meine Beobachtung mag es sein, dass bei dieser konventionellen Weise zwei unbetonte Silben aufeinander folgen, die also den gewöhnlichen Jambusgang störten.
ohne das Holz“ (X x x X)
wird
„ohne Holz“ (X x X) .

Nun ist es so, dass in Strophen mit einem durchgängigen Iambus regelmäßig auf eine weibliche Kadenz (auf ein Ende mit unbetonter Silbe) die folgenden Zeile im Sinne des durchregierenden Iambus ebenfalls mit einer unbetonten Silbe beginnen soll.

Es gibt auch in diesem Gedicht mehrere Zeilen, die unbetont enden.
Aber warum stört es mich an diesen Stellen nicht, dass in der ersten Zeile der Text unbetont endet und der folgende Vers ebenfalls unbetont beginnt?
Weil es bei allen anderen Versen nach der weiblichen Kadenz zu einer kleinen Sprechpause kommt und zwar deswegen, weil an diesen Orten jeweils neue Sätze oder neue Satzteile akkurat mit der neuen Zeile beginnen (man kann das bei einer genauen Artikulation hören.)
Hier zwei Beispiele, die auf diese kleine Pause verweisen. Ihnen stelle ich dann meine Variation mit dem "ohne" Pause-Übbergang entgegen.

"Ich habe dich im Niemandsland getroffen, ←- Pause
der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit."
"Verräter trachten ihnen nach dem Leben. <-->[U] Pause[/U]
Sie sollen wissen ..."

Aber:
"darunter nur ein Tuch am Leib, der ohne <--> KEINE Pause
das Holz im Rücken nicht alleine steht."

Nur einmal in diesem Sonett (eben hier!) gebraucht der Autor ein Enjambement, das die angesprochenen 7. und der 8. Zeilen miteinander verbindet. Das Enjambement hier vernichtet jeden Impuls einer noch so kleinen Pause - im Gegenteil: es hebt die Pause auf!
Deswegen wirkt der Übergang von der 7. zur 8. Zeile auf mich ein wenig holperig. Während der Austausch vom Jambus zum Trochäus mir den ungestörten Fluss der Rede rettet und die Verbindung, die das Enjambement festzurrt, findet dieses Stilmittel in der Grammatilk und im Metrum eine passende Entsprechung. Der Gewinn an eingängig wirkender Rede, das über ein Embajement auf mindestens drei Ebenen ermöglicht wird, (die inhaltliche, die grammatikalische und die metrisch) macht hier mehr Sinn, als das grobe Durchsetzen und der Zwang zu einer vermeintlich unabkömmlichen Norm. Wenn ihr z.B. Gedichte von Rilke betrachtet, so finden sich bei ihm durchweg metrische „„Fehler““. (Fehler mit doppelten Anführungsstrichen).

"Metrische Hygiene" (--> Ist das nicht eine schöne Wortzusammensetzung?) Formvorgaben machen durchaus Sinn. Das gilt besonder für Sonette und für ihre komplexen Maßstäbe. So fordern und fördern sie, wie ich finde, die Genauigkeit im Ausdrck und die dazu nötige Geduld und Disziplin. Aber sie lassen uns auch den imensen Wert unserer eigenen schöpferischen Kräfte erkennen. Wir erfahren, wie tief unsere Worte reichen und wie sehr wie unsere Erfahrungen weiter entwickeln können.
Wittgenstein sagt:
"Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt ?"





LG Flock
Flocke ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.01.2025, 14:45   #8
männlich Flocke
 
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Der letzter Satz fehlt in meinem letzten Beitrag:

Aber manchmal machen auch Ausnahmen Sinn!

Flocke

Geändert von Flocke (19.01.2025 um 17:08 Uhr)
Flocke ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.01.2025, 12:02   #9
männlich Epilog
 
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Standard Lieber Flocke (und natürlich Stachel als "Stichwortgeber")

Zitat:
Zitat von Flocke Beitrag anzeigen
Deswegen wirkt der Übergang von der 7. zur 8. Zeile auf mich ein wenig holperig. Während der Austausch vom Jambus zum Trochäus mir den ungestörten Fluss der Rede rettet
Die Übersetzung von "Enjambement" gibt (wieder mal ...) Wiki mit "überschreiten, überspringen" an, was den Vers- bzw. Zeilensprung natürlich adäquat darstellt. Ich bin allerdings der Meinung, dass es auch als "Entjambussierung" übersetzt werden sollte/könnte, ganz egal, ob das jetzt sprachlich falsch ist (ich finde, es klingt verblüffend ähnlich). Ich habe selbst beim Schreiben von Sonetten oftmals festgestellt, dass Enjambements mit weiblichem Versausklang nahezu zwingend eine betonte Silbe im Auftakt der folgenden Zeile (also einen Trochäus) verlangen, damit es nicht zu einem riesigen Holperer kommt. Flocke hat das detailliert herausgearbeitet und zurecht darauf verwiesen, das die größten Meister wie zum Beispiel Rilke das (instintiv?) erkannt und dementsprechend angewandt haben.

Beste Grüße

Epilog
Epilog ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.01.2025, 14:10   #10
Stachel
 
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Hallo German Flake :-)

Zitat:
Zitat von Flocke Beitrag anzeigen
Ich habe dich im Niemandsland getroffen.
In diesen Versen finden sich genau 10 Silben.

und 6 mal hast du das Ende der Zeile mit einer betonten Silbe bedacht, mithin hast du hier eine stumpfe (= männliche) Kadenz gewählt und 11 Silben verarbeitet:

x X x X x X x X x X
der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit.
Da zähl doch bitte noch mal nach. Ich fürchte, es ist genau umgekehrt.
Zudem finde ich, die Wortwahl „männlich“/“weiblich“ in Bezug auf Kadenzen
Zitat:
Zitat von Flocke Beitrag anzeigen
klingt recht altertümelnd!
Man könnte sie auch als sexistisch bezeichnen. Nun hast du dich freilich
Zitat:
Zitat von Flocke Beitrag anzeigen
in eine Tradition eingereiht von Sprachkünstlern, die Orginelles, Wissenswertes, Kluges
von sich gegeben haben, aber gerade in solchen Fragen seltsamerweise, trotz allem sprachlichen Feingefühl, merkwürdig konservativ bleiben, geradezu verstockt.
Zu dem Thema hatte ich vor einiger Zeit mal eine kleine Zusammenfassung geschrieben, die ich gerne noch einmal verlinke:
Gedanken zu Versenden


Zitat:
Zitat von Flocke Beitrag anzeigen
(Es lohnt sich, Sonette von z.B. Rilke in Hinblick auf ein gleich bleibenden Versfuß zu lesen).
Es ist gut, dass du RMR ansprichst, hat er doch im besonderen Maße die Grenzen der Hebungen und Silben bei Sonetten gesprengt, siehe vor allem seine „Sonette an Orpheus“.

Zitat:
Zitat von Flocke Beitrag anzeigen

Dennoch will ich eine Änderung zur Diskussion stellen. Sie betrifft die letzte Zeile in der 2. Strophe (S 2; Z 4):
Ich schlage vor, diesen vierten Vers:
(1)" ... darunter nur ein Tuch am Leib, der ohne /das Holz im Rücken nicht alleine steht."
anders zu formulieren und in die vierte Zeile um den Artikel „das“ zu kürzen;
(2) ... darunter nur ein Tuch am Leib, der ohne / Holz im Rücken nicht alleine steht." (vielleicht auch Holz am Rücken ?)

Damit ändert sich der Versfuß in der vierten Zeile zu einem Trochäus mit stumpfer Kadenz
X x X x X x X x X
Doch zumindest für mich klingt der Vers dann nach der Änderung flüssiger und im guten Sinne eingänger. Bei der "korrekten" Form verspüre ich beim Lesen etwas Geholpere.
Ein Grund für meine Beobachtung mag es sein, dass bei dieser konventionellen Weise zwei unbetonte Silben aufeinander folgen, die also den gewöhnlichen Jambusgang störten.
„ohne das Holz“ (X x x X)
wird
„ohne Holz“ (X x X) .
Du machst einen sehr konkreten Vorschlag zur Änderung, die deinem eigenen Sprachgefühl entgegen käme. Lass uns doch mal gemeinsam schauen, ob dieser Vorschlag tragfähig ist. Beleuchten wir ihn von verschiedenen Seiten:

1. Semantik
Der Unterschied zwischen „Holz“ und „das Holz“ ist der bestimmte Artikel. Er macht aus einem allgemeinen Werkstoff eine bestimmte und kontextualisierte Sache. Und genau darum geht es in dem Vers. Es ist nicht „Holz“ allein, geschweige denn irgendein Holz, sondern ein ganz spezifisches, eben das (dieses) Holz, nämlich das des Kreuzes. „Das Holz“ wird an dieser Stelle als rhetorisches Stilmittel, als Form der „Synekdoche“ verwendet.

2. epischer Lesefluss
Wie also würde der Lesefluss verlaufen, wenn es keinen Umbruch gäbe? Würde da etwas holpern?

darunter nur ein Tuch am Leib, der ohne das Holz im Rücken nicht alleine steht.
XxxXxXxX,xXxxXxXxXxXxX

Zur Orientierung habe ich das Komma mit eingefügt. Wir sehen, der lyrische Lesefluss entspricht exakt dem epischen. Ein Holpern kann also nur dadurch entstehen, wenn der Zeilenumbruch in irgendeiner Form als Sonderpause oder als Sonderbeschleuniger in das individuelle Lesetempo einfließt. Es ergibt sich nicht aus dem Text selbst.

3. historischer Vergleich
Rilke hast du schon angeführt. Lass uns schauen, ob er als Anwalt für die folgende Aussage stehen kann:

Zitat:
Zitat von Flocke Beitrag anzeigen
Aber warum stört es mich an diesen Stellen nicht, dass in der ersten Zeile der Text unbetont endet und der folgende Vers ebenfalls unbetont beginnt?
Weil es bei allen anderen Versen nach der weiblichen Kadenz zu einer kleinen Sprechpause kommt und zwar deswegen, weil an diesen Orten jeweils neue Sätze oder neue Satzteile akkurat mit der neuen Zeile beginnen (man kann das bei einer genauen Artikulation hören.)
[…]
Das Enjambement hier vernichtet jeden Impuls einer noch so kleinen Pause - im Gegenteil: es hebt die Pause auf!
[…]
Wenn ihr z.B. Gedichte von Rilke betrachtet, so finden sich bei ihm durchweg metrische „„Fehler““. (Fehler mit doppelten Anführungsstrichen).
Da Epilog deine Ausführungen stützt und weiterführt, beziehe ich meine Antwort auf beides.

Zitat:
Zitat von Epilog Beitrag anzeigen
Ich habe selbst beim Schreiben von Sonetten oftmals festgestellt, dass Enjambements mit weiblichem Versausklang nahezu zwingend eine betonte Silbe im Auftakt der folgenden Zeile (also einen Trochäus) verlangen, damit es nicht zu einem riesigen Holperer kommt. Flocke hat das detailliert herausgearbeitet und zurecht darauf verwiesen, das die größten Meister wie zum Beispiel Rilke das (instintiv?) erkannt und dementsprechend angewandt haben.
Wir schauen uns also gerne an, was RMR so „richtig“ macht, was strengen Methodisten „falsch“ vorkommt. Dazu bemühen wir das erste „Sonett an Orpheus“:

Zitat:
Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung!
O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr!
Und alles schwieg. Doch selbst in der Verschweigung
ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor.

Tiere aus Stille drangen aus dem klaren
gelösten Wald von Lager und Genist;
und da ergab sich, daß sie nicht aus List
und nicht aus Angst in sich so leise waren,

sondern aus Hören. Brüllen, Schrei, Geröhr
schien klein in ihren Herzen. Und wo eben
kaum eine Hütte war, dies zu empfangen,

ein Unterschlupf aus dunkelstem Verlangen
mit einem Zugang, dessen Pfosten beben, –
da schufst du ihnen Tempel im Gehör.
Und schon in diesem ersten Gedicht finden wir alle eure Behauptungen zu Rilke bestätigt – und auch widerlegt. Denn es gibt bei ihm keine solche Regel. Bei ihm treffen gleichsam
- betonte Enden ohne Enjambement auf betonte Versköpfe („Hebungsprall“, V4-V5),
- unbetonte Enden mit Enj. auf unbetonte VK (V3-V4, V5-V6, V12-V13),
- unbetonte Enden ohne Enj. auf betonte VK (V8-V9),
- betonte Enden mit Enj. auf unbetonte VK (V9-V10),
- etc. pp.

Wie wir sehen können, ist die von euch empfundene Holperstelle hier sogar eine mehrfach vorkommende Variante. Dabei handelt es sich auch nicht um eine Besonderheit dieser teils recht experimentell wirkenden SaO. Beispielhaft könnt ihr gerne folgende Texte vergleichen:
- Die Flamingos
- Blaue Hortensie
- Die römische Fontäne
- u.v.m.

Vielleicht konnte ich euch mit meinen Ausführungen ein wenig überzeugen, dass der Holperer eher in eurem Empfingen zu suchen ist als in meinem Text und dass sich Rilke nicht als Gegenbeispiel lohnt, sondern eher im Gegenteil.

Freundliche Grüße von
Stachel
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